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Hightech

Industrie 4.0 – Chancen für Medizintechnik und Pharmazeutische Industrie

Die Digitalisierung der Industrie beeinflusst die gesamte Wertschöpfungskette. Angefangen beim individuellen Produkt über die Vernetzung im Unternehmen bis hin zur Vernetzung mit Kunden und Dienstleistern – die Industrie 4.0 ermöglicht neue Produktionsabläufe und macht neue Geschäftsmodelle nötig.

Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) sind im Jahr 2016 aus dem Umfeld der Menschen nicht mehr wegzudenken. Das sogenannte „Internet der Dinge“ (Internet of Things, IoT) erleichtert mit intelligenten Sensoren in vielen Bereichen das Leben. Beispiele sind die Verfolgung von Paketlieferungen oder auch Wearables (tragbare Computersysteme), die den Menschen im Alltag unterstützen können. Auch in der Industrie findet ein Umbruch statt. Hier heißt das Stichwort „Industrie 4.0“.

Den Begriff „Industrie 4.0“ wurde erstmals auf der Hannover Messe 2011 in die Öffentlichkeit getragen und später in die Hightech-Strategie der Bundesregierung integriert. Die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften sowie die Forschungsunion Wirtschaft - Wissenschaft erklären den Begriff mit der „technischen Integration von cyber-physischen Systemen (CPS) in die Produktion und die Logistik sowie die Anwendung des IoT und Dienste in industriellen Prozessen – einschließlich der sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Wertschöpfung, die Geschäftsmodelle sowie die nachgelagerten Dienstleistungen und die Arbeitsorganisation.“1 Es findet also eine Digitalisierung der Produktion statt, die auch dazu führt, dass ergänzende Dienstleistungen zu den Produkten angeboten werden (Smart Services, Servitization).2

Bei einem CPS handelt es sich um einen Zusammenschluss von mechanischen und elektrischen Komponenten mit Softwaremodulen, die miteinander vernetzt sind. Diese Vernetzung der eingebetteten Systeme findet zum Beispiel über das Internet statt. Das heißt, der durch das CPS regulierte Prozess kann auch von außerhalb gesteuert werden. Im Gegensatz zur computerintegrierten Fertigung („Industrie 3.0“) dient hier die Internettechnologie dazu, dass Maschinen, Produkte und der Mensch miteinander kommunizieren.

Gewinnsteigerung dank digitaler Automatisierung

Blick in die Innovation Factory in Tuttlingen, wo Sterilcontainer und Motoren hergestellt werden. © B. Braun Melsungen AG

In der Innovation Factory der Aesculap AG wird Industrie 4.0 in der Medizintechnik-Branche bereits gelebt. In der im Juni 2015 eröffneten „intelligenten“ Fabrik werden Sterilcontainer für Krankenhäuser und chirurgische Motoren hergestellt. Dabei ist die Fabrik ein Teil des gesamten Arbeitsablaufes, denn die Büros der weiteren Angestellten befinden sich direkt nebenan. Damit wird deutlich, dass die vernetzte Fabrik auch die Arbeitsorganisation verändert.

Mit der Innovation Factory will Aesculap die Anzahl der hergestellten Sterilcontainer trotz gleichbleibender Beschäftigtenzahlen mehr als verdoppeln. Damit dies gelingt, ist unter anderem eine vollautomatisierte Container-Fertigungslinie mit zehn Bearbeitungsstationen und sieben vernetzten Robotern in die Fabrik integriert. Das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO in Stuttgart sieht enorme Wachstumschancen in der Industrie 4.0. Im Jahr 2025 erwarten die Forscher ein zusätzliches Wertschöpfungspotenzial von 78 Milliarden Euro durch Industrie-4.0-Technologie. Daraus resultiert ein jährliches Wachstum von 1,7 Prozent. 3

Werkstück und Maschine steuern die Produktion

Siemens-Elektronikwerk Amberg - die "Digitale Fabrik" © www.siemens.com/presse

Doch wie funktioniert nun tatsächlich eine intelligente Fabrik und was ergibt sich aus der smarten Produktion für das Produkt und den Kunden? Der erste Unterschied zur bisherigen Massenproduktion liegt in der Individualisierung des Produkts und des Werkstücks. Im Elektronikwerk Amberg der Siemens AG kann man am Beispiel einer Leiterplatte (Platine) nachvollziehen, wie eine produktegesteuerte Produktion vonstatten geht. Jede Leiterplatte wird mit einem individuellen Barcode versehen, sodass sie mit den Maschinen kommunizieren kann und die Produktionsmaschinen auf die individuelle Datei der einzelnen Leiterplatte zugreifen können. Auch die dazugehören Bauteile erhalten individuelle Codes, sodass jedes Bauteil „weiß“, an welcher Stelle und zu welchem Zeitpunkt es benötigt wird. Auf Basis der Informationen, die das Transportsystem durch den Code erhält, wird das Bauteil also automatisch zu seinem Bestimmungsort geleitet.4

Der Mensch hat die Kontrolle

Sobald der Rohling in die Maschine gelangt, wird er von dieser dank der Barcodes erkannt. Die Maschine kann in Echtzeit alle Informationen für die Bearbeitung aus dem Dateisystem abrufen. Im Anschluss wird die Platte mit verschiedenen Bauelementen, wie zum Beispiel Mikrochips, besetzt. Jeder dieser und der folgenden Schritte wird durch zahlreiche Scanner ebenfalls in Echtzeit dokumentiert und überwacht. Ferner zeigen die Maschinen rechtzeitig an, sollte ein bestimmtes Bauteil nicht mehr zur Verfügung stehen oder ein technisches Problem vorliegen. Prüftechniker überwachen per Computer die gesamte Wertschöpfungskette der Leiterplatte.4

Medikamente fälschungssicher machen

Das aufgeführte Beispiel aus der Elektroindustrie ist auf die Pharmazeutische Industrie und die Medizintechnik übertragbar. Für die (Nach-)Verfolgbarkeit von Produkten liefert die Bosch Packaging Technology der Robert Bosch GmbH einen guten Anwendungsfall. Das Unternehmen stellt unter anderem Kolbenabfüllmaschinen für flüssige Arzneimittel wie Hustensäfte her. Die modular aufgebaute Maschine ist vernetzt und wird über das Human Machine Interface bedient und überwacht. Dazu gehören Qualitätskontrollen, Wartung mit zugeschaltetem Servicetechniker sowie die frühzeitige Meldung der Maschine, wenn ein benötigtes Bauteil in Kürze nicht mehr zu Verfügung stehen wird. Wie bei der Herstellung der Leiterplatten liegt hier eine vernetze Produktion vor, die auch angepasst an Kundenwünsche eine Produktion in kleineren Losgrößen zulässt.5

Eine besondere Anwendung bei Medikamenten ist der Einsatz einer Data-Matrix-Codierung, um die Medikamente fälschungssicherer zu machen. Mit dem Code erhält jede Hustensaft-Verpackung eine Einzelidentität, die es auch nach dem Verkauf ermöglicht, das Medikament eindeutig zu identifizieren. So ist es über die gesamte Logistikkette rückverfolgbar und damit fälschungssicherer. Ab dem Jahr 2019 dürfen innerhalb der Europäischen Union nur noch Medikamente verkauft werden, deren Verpackung individuelle Seriennummern aufweisen und als unversehrt erkannt werden können. Damit geht die Industrie-4.0-Anwendung über die Produktion hinaus und umfasst die gesamte Wertschöpfungskette.5

Pharmazeutische Industrie hat noch Nachholbedarf

Mit Hilfe der digitalen Codes wird also der gesamte Lebensweg des Produkts aufgezeichnet. Die entstandenen Datenmengen enthalten jede Menge Informationen und können zum Beispiel bei der Qualitätssicherung unterstützen. Um die Daten zu speichern, wird auf Clouddienste zurückgegriffen. So können Unternehmen ihre IT-Ressourcen deutlich einfacher und kostengünstiger nach Belieben skalieren. Diese bergen jedoch auch das Risiko der Datensicherheit.2

Doch wie sieht es in der Pharmaindustrie aus mit der Digitalisierung und Industrie 4.0? Verschläft sie etwa den Trend, wie das Handelsblatt6 im Oktober 2015 in Bezug auf eine Studie der Camelot Management Consultants AG7 aus Mannheim titelte? Der auf einer Umfrage basierte PHARMA Management Radar kam zum Ergebnis, dass das Internet der Dinge erst in 15 Jahren ein Hauptthema in der Branche werden wird. Etwa 60 Prozent der Befragten sahen aktuell hauptsächlich im Bereich der Logistik und der Lieferketten einen Einfluss der Digitalisierung. Hemmnisse sind unter anderem der hohe Investitionsbedarf und der geringe Automatisierungsgrad in den Unternehmen.8

Medizintechnik: Barcode für Endoskope

Im Lagerungssystem endoSTORE® werden die Endoskope durch einen Barcodescanner registriert. © ESCAD Medical GmbH

Dass es in der Digitalisierung der Medizintechnik bereits Erfolge gibt, zeigt das Beispiel der ESCAD Medical GmbH. Das kleine Medizintechnik-Unternehmen, dass sich auf Dienstleistungen im Bereich der Endoskopie spezialisiert hat, konnte mithilfe des endoSTORE Lagerungssystems eine Schwachstelle bei der Aufbereitung der Endoskope im Klinikalltag verbessern. Bisher wurde zwar die Desinfektionsphase gut überwacht, aber im darauffolgenden Bereich der Trocknung und Lagerung gab es in den Kliniken immer wieder Lücken in der Dokumentation sowie Probleme bei der Hygiene.

In dem neuen System verbleiben die Endoskope in einem Transportkorb, sodass die gesamte Aufbereitung in einem geschlossenen Kreislauf erfolgt und zentral überwacht und dokumentiert werden kann. Die Endoskope werden durch einen Barcodescanner registriert. Über eine Sicherheitsabfrage wird verhindert, dass ein nicht korrekt desinfiziertes Endoskop zum Patienten gelangt. Das Unternehmen wurde im Wettbewerb „100 Orte für Industrie 4.0 in Baden-Württemberg“ ausgezeichnet.

Literatur:

1. Umsetzungsempfehlungen für das Zukunftsprojekt Industrie 4.0, Abschlussbericht des Arbeitskreises Industrie 4.0, April 2013

2. Studie: Industrie 4.0: Status und Perspektiven, Bitkom e. V. 2016

3. Studie: Industrie 4.0 – Volkswirtschaftliches Potenzial für Deutschland, Bitkom 2014

4. 99,99885 Prozent Qualität, Pictures of Future, Das Magazin für Forschung und Innovation, Siemens AG

5. Bosch erweitert Portfolio für die Serialisierung von Pharmaverpackungen, neue verpackung online, 26. Januar 2015

6. Pharma verschläft die Digitalisierung, Handelsblatt, 6.10.2015

7. Sechste Camelot PHARMA Management Radar Studie (Oktober 2015)

8. Studie: Industrie 4.0: Volks- und betriebswirtschaftliche Faktoren für den Standort Deutschland Eine Studie im Rahmen der Begleitforschung zum Technologieprogramm AUTONOMIK für Industrie 4.0

Seiten-Adresse: https://www.gesundheitsindustrie-bw.de/fachbeitrag/dossier/industrie-40-chancen-fuer-medizintechnik-und-pharmazeutische-industrie