Abigail Morrison - Wie lernt das Gehirn?
Milliarden von Synapsen, auf den ersten Blick ein elektrisches Chaos - und doch gibt es im Gehirn Strukturen und Muster. Wie kommen diese zustande? Wie verändern sie sich unter dem Einfluss der Erfahrung? Die Physikerin und Neurowissenschaftlerin Prof. Dr. Abigail Morrison vom Bernstein Center for Computational Neuroscience (BCCN) in Freiburg interessierte sich schon immer für die theoretischen Fragen nach dem Denken und Erinnern. Heute entwickelt sie Modelle von Gehirnarealen im Computer. Kann man mithilfe von Mathematik und Informatik der Funktionsweise von neuronalen Schaltkreisen im Gehirn auf die Schliche kommen?
Prof. Dr. Abigail Morrison
© privat
Geboren wurde sie 1976 in Oxford. 1995 fing sie mit dem Studium der Physik und Philosophie am King's College in London an. Sie wollte eine Naturwissenschaft lernen, und die Physik schien ihr die fundamentalste zu sein. Ihr zweites Fach wählte sie, weil sie sich für die Frage nach dem Ursprung des Denkens interessierte und nicht nur rechnen wollte. Nach nur zwei Jahren wechselte sie nach Göttingen zum Studium der Physik und Informatik, weil ihr das verschulte Studiensystem in Großbritannien nicht gefiel. In Deutschland konnte ein Student im Prinzip studieren, was er wollte, wenn er sich nur das hohe Niveau zutraute. “Was wir zum Beispiel im Fach Quantenmechanik in London in einem Semester gelernt hatten, frühstückten wir in Göttingen schon in vier Wochen ab”, sagt Prof. Dr. Abigail Morrison, Juniorprofessorin am Bernstein Center for Computational Neuroscience (BCCN) der Universität Freiburg in perfektem Deutsch. Bleiben wollte sie aber auch in Göttingen zunächst nicht lange. Nach drei Jahren wechselte die Britin nach Edinburgh in Schottland, wo sie das Fach Künstliche Intelligenz studierte und 2001 ihren Master machte.
Teile des Gehirns nachbauen?
Nach dem Studium wechselte sie zurück nach Göttingen, diesmal an das Max Planck Institut für Dynamik und Selbstorganisation, wo sie ihren Doktorvater Markus Diesmann kennen lernte, der noch heute einer ihrer wichtigsten Forschungspartner ist. Diesmann brachte sie mit der von ihm und einem weiteren Kollegen entwickelten Simulationssoftware NEST in Kontakt. Mit deren Hilfe sollte sie testen, ob große neuronale Netzwerke sich auch dann noch so verhalten wie im echten Gehirn, wenn die Synapsen plastisch sind, das heißt also, wenn die Kontakte zwischen Neuronen nach häufiger Benutzung fester und nach seltener Benutzung schwächer werden. Die Frage war im Grunde: Wie lernt das Gehirn? Inzwischen ist NEST die meistverwendete Software für die Simulation großer neuronaler Netzwerke. Morrison gehört zu den Hauptentwicklern und sitzt im Lenkungsausschuss, der das von verschiedenen Wissenschaftlern immer wieder optimierte und erweiterte Programm in seinem Wachstum kontrolliert.
“Wenn man sich anschaut, was ich heute mache, dann war meine erste Studienwahl, also Physik und Philosophie, doch eigentlich ganz gut gewählt“, sagt Morrison. Ihre Doktorarbeit machte sie 2006 in Freiburg fertig, wo sie auch noch ein Jahr Postdoc-Zeit anhängte. Danach ging sie für drei Jahre nach Japan, ans RIKEN Brain Science Institute in Wako, wo Diesmann eine neue Forschungsgruppe etabliert hatte. Ende 2009 bekam sie eine Juniorprofessur am BCCN und kam zurück nach Freiburg.
Bezug zur Realität
Morrison simuliert heute mit Hilfe von Computern neuronale Netzwerke in einer Größenordnung von rund Hunderttausend Zellen. In gewisser Weise versucht sie also, Teile des Gehirns nachzubauen. Weil aber niemand bis heute weiß, wie das gigantische Chaos aus Zellen und Synapsen in unserem Kopf eigentlich lernt oder denkt, besteht ihr erster Arbeitsschritt immer darin, eine Hypothese aufzustellen. Konkret heißt das: “Ich überlege mir zum Beispiel, wie ein Netzwerk eine bestimme Aufgabe lernt”, sagt Morrison. “Dann setze ich es mit Hilfe der Simulationssoftware um und prüfe, ob es diese Aufgabe tatsächlich lernen kann.” Wie müssen die einzelnen Zellen miteinander verschaltet sein? Unter welchen Bedingungen der Aktivität sollen sich Schaltkreise verfestigen? Unter welchen abbauen?
Funktioniert das Computermodell, dann heißt das aber noch lange nicht, dass Morrison etwas über das real existierende Gehirn herausgefunden hat. Das theoretische, nur im Computer “lebende” System, muss sich auch im Vergleich mit empirischen Erkenntnissen bewähren. In einem der letzten Projekte untersuchten Morrison und ihre Forschungspartner zum Beispiel ein Netzwerk, das eine räumliche Orientierungsaufgabe lernen konnte. In der realen Welt gibt es dazu ein Äquivalent. Man stelle sich eine Maus vor, die in einem Wasserbecken ausgesetzt wird. In diesem Becken befindet sich irgendwo direkt unter der Wasseroberfläche und damit unsichtbar eine Plattform, auf die sich die Maus flüchten kann. Nach ein paar Durchläufen hat die Maus gelernt, wo die Plattform ist und findet sie wesentlich schneller. „Eine abstraktere Version dieses Lernalgorithmus haben wir in unser Netzwerk implementiert“, sagt Morrison. Und siehe da: Die Eigenschaften der einzelnen Neuronen in diesem Netzwerk entsprachen ziemlich genau den in mehreren empirischen Arbeiten charakterisierten Eigenschaften von echten Neuronen.
Die Vorangehensweise bei der Simulation eines neuronalen Netzwerks, das eine räumliche Orientierungsaufgabe lernen kann.
© Prof. Dr. Abigail Morrison
Die Arbeit als Wissenschaftlerin
„Es gibt immer zwei mögliche Herangehensweisen an unser Forschungsobjekt“, sagt Morrison. „Ich interessiere mich besonders für die Richtung top down, also für die Formulierung einer Hypothese über die Funktionsweise des Netzwerks mit den anschließenden Konsequenzen für die nächst kleinere Ebene der einzelnen Nervenzellen und Synapsen.“ Diese Herangehensweise birgt jedoch die Gefahr in sich, dass ein System ohne einen biologischen Bezug untersucht wird. Man muss ihn mit einem zweiten Ansatz kombinieren, der empirische Daten berücksichtigt. Die andere Richtung, also bottom up, ist eher die Herangehensweise von Marcus Diesmann. Er interessiert sich vor allem für die Dynamik einzelner Zellen und Netzwerke und versucht auf dieser Basis auf deren Funktionalität zu schließen. „Das ist der Grund, warum Markus und ich uns so gut ergänzen“, sagt Morrison.
Möchte sie irgendwann zurück nach Großbritannien? „Es gibt schon ein paar Sachen, die ich vermisse“, sagt sie und lacht. „Reifen Cheddar-Käse zum Beispiel. Der britische Käse wird von der Welt weitgehend unterschätzt.“ Über eine Rückkehr denkt sie momentan nicht nach. Die Arbeit am BCCN und als Wissenschaftlerin im Allgemeinen mag sie sehr gerne, auch weil sie sich so gut mit dem Familienleben vereinbaren lässt. Als Mutter von zwei Töchtern kann sie so manchmal auch zuhause bleiben und arbeiten. Nur die vielen Konferenzen oder Besprechungen im Ausland sind manchmal schwierig zu meistern, vor allem wegen der acht Monate alten Tochter. Morrison hat viele internationale Projektpartner. „Man überlegt sich schon, ob diese oder jene Konferenz wichtig genug ist“, sagt sie. Besprechungen kann man heute glücklicherweise auch mit dem Computer von zuhause oder vom Büro aus erledigen. "Bisher benutzen wir Computer, um die Funktionsweise des Gehirns zu entschlüsseln“, sagt Morrison zum Abschluss. „In der Zukunft hoffen wir, vom Gehirn auch etwas für die Entwicklung neuer Rechner zu lernen."