Alkoholismus: Molekulare Grundlagen von Sucht und Entzug
An Ratten und Mäusen untersuchen Wissenschaftler am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim die genetischen Grundlagen und die neurobiologischen Mechanismen der Alkoholsucht, die Veränderungen beim Entzug und die Faktoren, die einen Rückfall begünstigen. In der translationalen Forschung werden die tierexperimentellen Ergebnisse an alkoholabhängigen Patienten überprüft, um sie rasch in präventive Strategien und Therapien umsetzen zu können.
Großansicht:
Alkoholkonsum in der Welt, pro Kopf der Bevölkerung.
© WHO
In Deutschland und auch sonst in weiten Teilen der Welt ist Alkoholismus die häufigste und für die Gesellschaft schwerwiegendste neuropsychiatrische Krankheit. Zweieinhalb Millionen Tote gehen jährlich auf das Konto der schädlichen Auswirkungen von Alkohol. Das sind fast vier Prozent aller Todesfälle weltweit – mehr als durch HIV/AIDS, Tuberkulose oder durch Gewalt verursacht werden (Global status report on alcohol and health. World Health Organization, 2011). Prof. Dr. Rainer Spanagel vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim definiert die Krankheit Alkoholismus als ein pathologisches Verhaltenssyndrom, das durch zwanghaftes Verlangen (das sogenannte „Craving“) nach Alkohol und wiederholte Rückfälle gekennzeichnet ist, die selbst noch nach Jahren von Abstinenz erfolgen können - trotz ihrer für das betroffene Individuum offensichtlich verheerenden bis tödlichen Folgen.
Prof. Dr. Rainer Spanagel
© ZI Mannheim
Ohne Zweifel spielt das soziale Umfeld eine entscheidende Rolle, ob jemand alkoholsüchtig wird. Der große Einfluss von Erbfaktoren wird jedoch durch epidemiologische Studien an Zwillingen und an adoptierten Kindern belegt. So tragen Kinder, deren leibliche Eltern Alkoholiker waren, die aber in Pflegefamilien ohne Alkoholmissbrauch aufwachsen, ein drei- bis viermal höheres Risiko als andere adoptierte Kinder, selbst alkoholsüchtig zu werden. Offensichtlich beruht die erbliche Komponente auf unterschiedlichen Ausprägungen und komplexen Wechselwirkungen verschiedener Gene; ein einzelnes hauptverantwortliches „Säufergen“ gibt es nicht. In dem vom Nationalen Genomforschungsnetzwerk (NGFN und NGFNplus) geförderten Kooperationsprojekt „Genetics of Alcohol Addiction“ zeigen Grundlagenforscher, Kliniker und Genetiker unter anderem anhand von Tierversuchen, genomweiten Assoziierungsstudien und neurologischen Untersuchungen am Menschen, wie Gendefekte und Umweltfaktoren in die Abhängigkeit führen können. Ein Ziel des interdisziplinären Ansatzes ist es, neue Wege zur Prävention und besseren medikamentösen Therapie des Alkoholismus zu finden. Sprecher des Forschungskonsortiums ist Professor Spanagel.
Bei Stress: Griff zur Flasche
Als Tiermodelle für Alkoholismus verwendet man häufig Ratten oder Mäuse, die leicht alkoholabhängig gemacht werden können. Auch Entwöhnung und Rückfälle lassen sich an ihnen gut untersuchen. Spanagel und seine Mitarbeiter zeigten, dass Stress, konditionierte Reize oder auch kleine Alkoholproben die alkoholsüchtigen Nager nach der Entwöhnung wieder rückfällig werden ließen. So nahm nach einem erfolgreichen Entzug eine Ratte, die in ihrem Käfig freiwillig zwischen Trinkflaschen mit reinem Wasser und drei verschieden starken Alkohollösungen wählen konnte, stets die Wasserflasche. Setzte man sie aber unter Stress, beispielsweise durch harmlose, aber unangenehme Stromstöße, wählte sie stattdessen die stärkste Alkohollösung. Auch die Injektion einer winzigen Menge Alkohol ins Blut – vergleichbar der Schnapspraline, die einen bereits trockenen Alkoholiker rückfällig werden lässt – oder ein Licht- oder Tonsignal, das vorher mit der Gabe von Alkohol assoziiert worden war, lässt entwöhnte Tiere wieder „zur Flasche greifen“.
Labormaus und Alkohol.
© NFGN / IWR Heidelberg
Zur Erforschung der Ursachen von Stress und Alkoholabhängigkeit untersuchten die Mannheimer Forscher transgene Mäuse mit einem Defekt im CRHR1-Gen. Dieses Gen kodiert für einen Rezeptor des Corticotropin-freisetzenden Hormons (CRH), das vom Hypothalamus des Gehirns ausgeschüttet wird und eine Signalkette aktiviert, die unter anderem die Synthese und Freisetzung von Glucocorticoiden (z.B. Cortisol) reguliert. Unter Normalbedingungen waren sowohl die CRHR1-defekten Mäuse als auch die gesunden Kontrolltiere allenfalls Gelegenheitstrinker, die bei Wahlmöglichkeit eher Wasser als Alkohol tranken. Hielt man die Tiere aber unter Stress, erhöhte sich der Alkoholkonsum der CRHR1-defekten Mäuse um das Dreifache, bei den Kontrolltieren blieb er dagegen unverändert niedrig.
Der Nucleus accumbens ist das Zentrum des menschlichen Belohnungssystems.
© dasgehirn.info
Dass dieses Gen wahrscheinlich auch das Trinkverhalten beim Menschen beeinflusst, legen Untersuchungen nahe, die Prof. Dr. Gunter Schumann (heute King’s College London, UK) und sein Team am ZI an alkoholabhängigen Menschen durchgeführt hatten. Zwei Varianten im CRHR1-Gen sind in der Bevölkerung weit verbreitet. Personen, die eine der beiden Varianten aufwiesen, tranken im Durchschnitt zwar nicht häufiger als die anderen, dafür aber bei jedem Anlass wesentlich mehr.
In ihrer jüngsten Publikation haben Spanagel und Mitarbeiter zusammengefasst, was gegenwärtig über die Grundlagen des Stress-induzierten Alkoholkonsums bekannt ist. So wirken Glucocorticoide im Nucleus accumbens, der eine zentrale Rolle im Belohnungssystem des Gehirns, dem sogenannten mesolimbischen System spielt, als wichtige Botenstoffe für das Verlangen nach Alkohol unter Stress. Eine erhöhte Aktivierung von CRH im Mandelkern (der Amygdala, ebenfalls ein Bestandteil des mesolimbischen Systems im Gehirn) scheint für den Stress-induzierten Rückfall verantwortlich zu sein.
Alkoholprobleme bei gestörtem Tag-Nacht-Rhythmus
Seit Langem ist bekannt, dass das Corticoidhormon-System tageszeitlich unterschiedlich aktiv ist. Zu den „Clock-Genen“, die den Tag-Nacht-Rhythmus steuern, gehört das an der Glucocorticoid-Regulation beteiligte PER2-Gen („period circadian clock 2“). Wie Spanagel und sein Team gezeigt haben, ist bei Mäusen mit defektem PER2-Gen der Schlaf-Wach-Rhythmus gestört. Diese Mäuse tranken, wenn man ihnen die Wahl zwischen Wasser und Alkohol ließ, viel mehr Alkohol als gesunde Kontrolltiere. Auch dieser Effekt ist vermutlich direkt mit dem beim Menschen vergleichbar. „Wir wissen, dass Jugendliche mit bestimmten Mutationen im PER2-Gen mehr trinken als ihre Altersgenossen“, erklärte Spanagel. „Außerdem leiden Schichtarbeiter, Flugzeugpersonal und andere Menschen, bei denen der Tag-Nacht-Rhythmus durcheinander geraten ist, häufiger an Alkoholproblemen“ (cit. RP Online, 18.05.2005).
Im Gehirn der PER2-defekten Mäuse fanden die Forscher hohe Konzentrationen an Glutamat, einem Neurotransmitter, der eine gesteigerte Erregbarkeit auslöst. Im aufgeregten Zustand tranken die Tiere verstärkt Alkohol. Sowohl der erhöhte Glutamatspiegel als auch der vermehrte Alkoholkonsum konnten bei den genveränderten Mäusen durch Behandlung mit Acamprosat normalisiert werden. Acamprosat, das Kalziumsalz von N-Acetylhomotaurinat, wird als sogenanntes Anti-Craving-Medikament oft alkoholabhängigen Patienten verschrieben; es soll bei Entwöhnung die Alkoholabstinenz aufrechterhalten und Rückfälle verhindern. Leider senkt es die Rückfallquote nur um 14 Prozent.
Bei Studien an Ratten zur Verbesserung des Medikaments machten Spanagel und seine Kollegen eine sensationelle Entdeckung: N-Acetylhomotaurinat interagiert nicht mit Glutamatrezeptoren und ist offenbar auch sonst keine aktive psychotrope (das Verhalten beeinflussende) Substanz. Die beobachteten Wirkungen erfolgen anscheinend ausschließlich über das Kalzium und können tatsächlich auch durch andere Kalziumsalze ersetzt werden. Die bei Menschen beobachteten Anti-Craving-Effekte seien wahrscheinlich den durch die Medikamenteneinnahme bedingten erhöhten Kalziumkonzentrationen im Blutplasma zuzuschreiben, vermuten die Wissenschaftler. Sie schließen daraus, dass „die Wirkungen von Acamprosat, die in mehr als 450 publizierten Originaluntersuchungen und klinischen Studien und an 1,5 Millionen behandelten Patienten beschrieben worden sind, möglicherweise auf Kalzium zurückzuführen sind.“
Prof. Dr. Alexander Sartorius, AG Translational Imaging, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit.
© ZI
Messungen von Glutamat und seinen Stoffwechselprodukten, darunter den Botenstoffen Glutamin und γ-Aminobuttersäure, an lebenden Mäusen wurden in der Arbeitsgruppe Translational Imaging unter Leitung von Prof. Dr. Alexander Sartorius am ZI durchgeführt. Die Forscher verwendeten dazu einen an winzige Hirnvolumina angepassten Hochfeld-Tierscannner für Magnetresonanz-Spektroskopie (MRS). Einen stark erhöhten Glutamatspiegel fanden Sartorius und sein Team bei alkoholsüchtigen Mäusen in der Zeit unmittelbar nach Absetzen des Alkohols - ein Befund, der mit der Nervosität und Übererregbarkeit in der akuten Entzugsphase übereinstimmt. Innerhalb von drei Wochen fielen die Glutamat-Werte auf das Niveau der Kontrolltiere zurück. In ähnlicher Weise wurden auch bei alkoholabhängigen Patienten während des akuten Entzugs erhöhte Glutamatwerte gemessen; sie waren umso höher, je schwerer die Entzugserscheinungen waren.
Die Studien belegen eindrucksvoll die Effektivität des translationalen Ansatzes, mit dem im Rahmen des NGFN-Projektes „Genetics of Alcohol Addiction“ der Brückenschlag zwischen präklinischer und klinischer Forschung verfolgt wird. Wie Spanagel darlegte, ermöglichen die Einrichtung einer Arbeitsgruppe Translationale Suchtforschung am Institut für Psychopharmakologie und die enge Zusammenarbeit mit der Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin am ZI die rasche Überprüfung der tierexperimentellen Befunde am Menschen und eine schnelle Umsetzung der Forschungsziele in die Anwendung.
Publikationen:
Spanagel R, Vengeliene V, Jandeleit B, Fischer W-N, Grindstaff K, Zhang X, Gallop MA, Krstew EV, Lawrence AJ, Kiefer F: Acamprosate produces its anti-relapse effects via calcium. Neuropsychopharmacology (2014) 39, 783-791.
Spanagel R, Noori HR, Heilig M: Stress and alcohol interactions: animal studies and clinical significance. Trends Neurosci. 2014 Apr; 37(4):219-227.
https://www.gesundheitsindustrie-bw.dewww.health.harvard.edu/newsletter/images/M0711a-1.jpg