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Alternative CAM: Vor der Maus das Hühnerei

Wenn Forscher prüfen, ob sich ihre im Reagenzglas gewonnenen Ergebnisse auf den lebenden Organismus übertragen lassen, tun sie dies bevorzugt an Mäusen, Ratten oder Kaninchen. Der Schritt aus der Zellkultur zum Tierversuch wird oft vorschnell getan, sagt die Ulmer Biologin und Hautärztin Karin Kunzi-Rapp. Viele Fragen lassen sich an der Chorioallantois-Membran (CAM) des bebrüteten Hühnereis beantworten. Dieses alternative Modell kommt ohne Tierversuch aus, liefert schnelle Ergebnisse, kostet gerade mal einen halben Euro und lässt sich grundsätzlich viele Male ohne ethisches Bauchgrimmen wiederholen.

Auf der Chorioallantois-Membran hat sich ein applizierterter Tumor entwickelt. © ILM

Die Chorioallantois-Membran (CAM) ist die äußerste Haut des bebrüteten Hühnereis. Sie ist dünn, dreischichtig und mit zahlreichen Blutgefäßen durchzogen. Diese Haut ist das, was bei Säugetieren die Plazenta ist, erklärt Kunzi-Rapp, die in ihrer medizinischen Doktorarbeit am Ulmer An-Institut ILM das CAM-Modell auf seine Tauglichkeit für die photodynamische Therapie überprüft hat. In Haifa hat sie gelernt, mit dem Modell umzugehen, denn ihre Arbeit erstellte sie im Rahmen eines Projektes der deutsch-israelischen Gesellschaft.

Dass sich CAM als Modellsystem für photodynamische Therapie eignet, war rasch klar: die auf dem Modell ausgesäten Tumorzellen entwickelten dreidimensionale Tumore, worauf sich die in-vitro-Ergebnisse abbilden ließen. Karin Kunzi-Rapps Neugier war damit nicht gestillt. Sie lotete Einsatzmöglichkeiten des Modells aus, entdeckte eine „riesige Vielfalt“ und etablierte Schritt für Schritt die Chorioantallois-Membran als alternatives Tierersatzmodell.

Eigentlich lange bekannt, aber immer noch nicht in allen Köpfen

Das CAM-Modell ist bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts bekannt, war ursprünglich für die Embryologie gedacht, kam als Transplantationsmodell auf und geriet dann in Vergessenheit. Es war und ist immer noch für die Impfstoffproduktion und in der Virologie (zur Anzucht von Viren) im Einsatz. Als Tumor- und Gefäßmodell in den 70er Jahren wurde es von einem US-Wissenschaftler wieder entdeckt, erzählt Kunzi-Rapp. Als sie das CAM-Modell als Alternative zum Tierversuch erforschte und ihre Ergebnisse veröffentlichen wollte, handelte sie sich anfangs Absagen ein. „Das war vielen zu weit weg.“ Mittlerweile weisen schon die Behörden Wissenschaftler auf diese Alternative zum Tierversuch hin. Allgemein bekannt ist das CAM-Modell aber immer noch nicht, sagt Karin Kunzi-Rapp.

Zwischen in-vitro und Tier

Dr. Karin Kunzi-Rapp hat das CAM-Modell bei den Ulmer Forschern schon etabliert. © ILM

Die Chorioallantois-Membran steht zwischen zwei- und dreidimensionalen Spheroiden in-vitro-Modellen und Tiermodellen. Das Modell arbeitet nicht mit dem Embryo, sondern mit der äußeren, stark vaskularisierten Haut. Auf ihr lassen sich Tumoren erzeugen, lässt sich Gewebe verpflanzen. Dem Forscher wird damit ein dreidimensionales Arbeiten einschließlich einem funktionierenden Gefäßsystem ermöglicht. „Das entspricht im Prinzip dem Tierversuch“, wird aber nicht als solcher gewertet in der ersten Phase der Bebrütung (Tag 1 bis 10), so dass kein solcher beantragt werden muss. Nach dem deutschen Tierschutzgesetz gelten Tierembryonen nicht als Tiere, sind nicht meldepflichtig, das sind sie erst, wenn sie nach 21 Tagen schlüpfen.

Die Chorioallantoismembran ist noch nicht mit Nerven durchzogen, so dass dem Embryo kein Schmerz zugefügt wird. Ein weiterer Mangel prädestiniert die Eihaut zum Tierersatzmodell: sie besitzt keine Immunabwehr, entspricht im Grundsatz immuninkompetenten Mäusen. Für Forscher bedeutet dieser Umstand, dass sich auf der Membran jegliches Gewebe verpflanzen lässt und dort anwächst. „Das ist der große Vorteil: ich kann mit Humanzellen und -gewebe arbeiten.“

Dies funktioniert beispielsweise mit der menschlichen Haut. Dafür erhielt Karin Kunzi-Rapp mit ihrer Kollegin vom ILM, Angelika Rück, 1997 den Felix-Wankel-Tierschutz-Forschungspreis. Frisch entnommene menschliche Haut lässt sich auf CAM transplantieren. Kunzi-Rapp zeigte, dass die Gefäße menschlicher Haut Anschluss finden an das Gefäßsystem des Hühnerembryos und dass die Gefäße in der Humanhaut human bleiben, während das sie durchfließende Blut vom Hühnerembryo kommt.

Ein Modell, das wenig Aufwand verlangt

Zellsuspensionen lassen sich leicht auf die Membran auftragen. © ILM

Anders als bei Versuchstieren mutet der Aufwand, den Forscher mit bebrüteten Hühnereiern treiben müssen, bescheiden an. Denn diese wandern lediglich in einen 38 Grad temperierten Wärmeschrank. Dort entwickelt sich die Membran, nach vier Tagen wird ein kleines Loch in die harte Eischale gebohrt. Ist das Ei befruchtet, berichtet Karin Kunzi-Rapp, sieht man das schlagende Herz des noch durchsichtigen Embryos und die Membran. Anders als bei der Impfstoffproduktion muss das CAM-Modell nicht einmal steril sein, denn das Ei bildet gegen Bakterien eigene Abwehrkräfte, allenfalls und dann selten treten Pilzinfektionen auf. Nach den Versuchen werden die Hühnerembryonen „umgebracht“, indem die Gefäße von Membran zum Embryo durchtrennt werden. Das habe einen sofortigen „Volumenmangelschock“ zur Folge, die Embryonen sterben schnell ab.

Mit dem CAM-Modell sind nur „Kurzzeit-Untersuchungen“ möglich, Forscher arbeiten mit dem Modell zwischen Tag 6 bis 11. Ab dem zwölften Tag beginnt der Hühnerembryo ein Immunsystem auszubilden. Das Modell wird für die Angiogenese, vor allem in der Tumorforschung eingesetzt, die im Prinzip am Tag 10 nach der Befruchtung abgeschlossen ist.

CAM hat umstrittenen Test an Kaninchen abgelöst

Inzwischen häufen sich die Anfragen der Kosmetikindustrie, die ihre Produkte an der menschlichen Haut testen wollen, denn die Kosmetikverordnung in EU und OECD-Ländern verbietet Tierversuche. So hat CAM den vormals an Kaninchen durchgeführten Draize-Augenreizungstest abgelöst. Dieser umstrittene Test untersuchte die Schleimhautverträglichkeit von Kosmetika.

Unterdessen wirbt Karin Kunzi-Rapp unverdrossen für das CAM-Modell, beispielsweise an der Universität Stuttgart-Hohenheim, wo sie einmal im Semester über Tierversuchs-Ersatzmethoden liest. Ihr Credo: nach den Ergebnissen in der Zellkultur sollte der Forscher nicht sofort an den Tierversuch denken, sondern erst klären, was sich Hühnerei-Modell klären lässt. Erst wenn sich beispielsweise eine bestimmte Substanz als die zukunftsträchtigste abzeichnet, kann der Schritt zum Versuch am Tier gemacht werden. Am dreidimensionalen Gewebemodell mit angeschlossenem Gefäßsystem lassen sich all die nötigen Parameter vorher testen.

In Ulm denken die Forscher inzwischen den Zwischenschritt

In Ulm denken viele forschende Abteilungen an Universität und Uniklinik nicht zuerst an Ratten, Mäuse oder Kaninchen, sondern an Hühnereier. Inzwischen hat sich an der Ulmer Uni eine Art ‚core facility’ etabliert, berichtet Karin Kunzi-Rapp, die mit fast allen forschenden Abteilungen zusammengearbeitet hat, mit Kinderklinik, Urologie, Naturheilkunde, Innerer Medizin oder Pharmakologie.

Tatsächlich lässt sich nach Kunzi-Rapps Worten mit dem CAM-Modell ein „riesiges Spektrum an Untersuchungen abdecken.“ Sehr viele Ergebnisse im Ei seien an anderen Tieren bestätigt worden. Beispielsweise entspreche die Pharmakokinetik im Ei genau der im Tier und im Menschen, das haben Untersuchungen mit der Abteilung für Naturheilkunde an der Universität Ulm ergeben. „Wir können im Prinzip so viel machen wie bei der Maus, nur in einer kürzeren Zeit“, fasst Kunzi-Rapp zusammen.

Häufig landen Forscher mit abgelehnten Tierversuchsanträgen bei Karin Kunzi-Rapp. Denn die Behörden schreiben oft Zwischenschritte vor. Ganze Gruppen aus Deutschland lernten hier in Ulm den Umgang mit der Chorioallantoismembran. Vor zehn Jahren existierten gerade mal zwei Gruppen in der industriellen Forschung, die dieses Modell einsetzten.

Unabhängigkeit ist Kunzi-Rapp wichtig

Während ihres Biologie-Studiums in Stuttgart-Hohenheim wurde Karin Kunzi-Rapp klar, dass ihr Weg in die humanmedizinische Forschung führt. Also brach sie ihre Doktorarbeit in der Biochemie an der Universität Ulm ab und begann ihr Medizinstudium. Inzwischen ist die Dermatologin in der Uni-Hautklinik beschäftigt und leitet am ILM das Lasertherapiezentrum, behandelt dort die Patienten der Dermatologie. Momentan erstellt sie hauptsächlich klinische Studien, denn immer mehr Laserhersteller interessieren sich für kosmetische Anwendungen, die am ILM schließlich bei der zierlichen Medizinerin landen.

Lukrative Angebote der Wirtschaft oder von Schönheitskliniken hat die Dermatologin immer wieder ausgeschlagen. „Da bin ich zu stark Forscherin.“ Hinter die Kulissen zu schauen, warum funktioniert eine bestimmte Laser-Anwendung ist das, was Karin Kunzi-Rapp interessiert. Ihr ist die Unabhängigkeit wichtiger als das Geld. Kaum verwunderlich zu hören, dass sie noch „nebenher“ in der Neurofibromatose-Sprechstunde des Ulmer Uniklinikums mitarbeitet. Dorthin kommen Patienten aus der ganzen Republik.

Literatur:
Karin Kunzi-Rapp et al.: Chorioalllantioc membrane assay:vascularized 3-dimensional cell culture system for human prostate cancer cells as an animal substitute model, In: The Journal of Urology, vol. 166, 1502-1507, October 2001

Karin Kunzi-Rapp et. al.: characterization of the chick chorioallantoic membrane model as a short-term in vivo system for human skin, in: Arch. Dermato. Res. (1999) 291, 290-295.

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