Aminolipin: Formaldehyd-Ersatz für die Konservierung biologischer Gewebe
Seit fast 125 Jahren verwenden Mediziner in der Anatomie und Pathologie, aber auch Bestatter, Formaldehyd, um biologisches Gewebe oder ganze Leichen zu konservieren. Allerdings gilt Formaldehyd als krebserregend. Ein Team um Prof. Dr. Bernhard Hirt vom Institut für Klinische Anatomie und Zellanalytik des Universitätsklinikums Tübingen hat den Ersatzstoff Aminolipin entwickelt. Dieser soll nun zur Marktreife gebracht werden.
Zwölf OP-Tische in zwei parallelen Reihen stehen im halbkreisförmigen Raum im Erdgeschoss des Anatomie-Instituts. Das bläuliche Licht der Lampenröhren taucht die Szenerie in eine kühl-sterile Atmosphäre. Kein Laie würde unter den fast bodenlangen blauen Tüchern, welche die Tische bedecken, Leichen vermuten: Es riecht weder nach Verwesung noch nach Chemikalien.
Bernhard Hirt, Ärztlicher Direktor des Instituts, greift dorthin, wo sich der Kopf eines Präparates unter der Abdeckung vermuten lässt und bewegt ihn scheinbar mühelos nach oben. Später werden Chirurgen an den Körperspenden neueste OP-Techniken trainieren. Die Körper wurden mit der neuen Aminolipin-Fixierlösung haltbar gemacht, die Hirts Team entwickelt hat. Dabei werden der nach dem Tod einsetzende Selbstverdau der Zellen und der Fäulnis- und Verwesungsprozess durch Mikroorganismen gestoppt.
„Formaldehyd dampft, riecht und die Augen tränen“
Prof. Dr. Bernhard Hirt mit dem Produkt Aminolipin (links im Glaskolben) und den beiden Ausgangsstoffen.
© Braitmaier
Für die Präparierkurse mit rund 400 angehenden Medizinern müssen die Tübinger den Gewebszustand nach wie vor mit hochgiftiger Formaldehyd-Lösung „einfrieren“, weil es zurzeit das einzig zugelassene Mittel für eine langfristige Fixierung und Konservierung ganzer Körper ist. Anders als mit Aminolipin sieht das so fixierte Gewebe nicht lebensecht aus und fühlt sich auch anders an. Grau-braune Töne dominieren, die Muskeln sind starr und die Gelenke nur schwer beweglich. „Es dampft aus, besitzt einen stechenden unangenehmen Geruch und nach einer Weile tränen die Augen“, berichtet Hirt.
Das Aminolipin-Projekt, dessen Leiter Hirt ist, sei eher aus der Not heraus geboren. 2006 hatte die Internationale Krebsforschungsagentur IARC Formaldehyd als krebserzeugend eingestuft, 2014 zog die EU nach (1, 2). In der Folge wurden in Deutschland die Arbeitsplatzgrenzwerte für Formaldehyd, das bei Raumtemperatur leicht verdampft, verschärft (3).
„Wir schaffen es mit einer aufwendigen großen Lüftungsanlage gerade so, unter der Grenze zu sein“, sagt Hirt. Andere Universitäten mussten damals zeitweise ihre anatomischen Praktika einstellen, weil sie die Grenzwerte nicht einhalten konnten. 2024 könnte das endgültige Aus für Formaldehyd kommen, wenn nach der EU-Biozidverordnung die Zulassung als Fixiermittel neu geprüft wird.
Desinfektionsmittel mit überraschender Wirkung
Also machten sich ein Team aus Biologen, Chemikern und Medizinern um Hirt schon frühzeitig auf die Suche nach einer Substanz, die Formaldehyd ersetzen kann und weniger gesundheitsgefährdend ist. Fündig wurden sie bei einem Wirkstoffgemisch in einem Desinfektionsmittel, das in Krankenhäusern und Arztpraxen zur Flächen- und Instrumentendesinfektion verwendet wird. Dass das Wirkstoffgemisch nicht nur Bakterien, Viren und Pilze abtötet, sondern auch Gewebe haltbar machen kann, war den Fachleuten bis dahin verborgen geblieben.
Daraufhin entwickelte Hirts Team ein neues Herstellungsverfahren, mit dem es erstmals möglich ist, selektiv einen speziellen Wirkstoff des Desinfektionsmittels mit einer Reinheit von 98 Prozent zu synthetisieren. „Mit dem ursprünglichen Gemisch fixiertes Gewebe war von der Haptik nicht ideal und hatte eine unnatürlich grünliche Farbe“, begründet Hirt diesen Schritt.
Ausgangsstoffe für die fortan Aminolipin genannte Substanz sind ein Kokosfett-Produkt und ein Aminosäuren-Abkömmling. Die Tübinger konnten nachweisen, dass Aminolipin die räumliche Gestalt von Eiweißen zerstört und damit tatsächlich körpereigene und mikrobielle Enzyme, die normalerweise das Gewebe zersetzen würden, unschädlich macht. Inzwischen sind das Herstellungsverfahren und die Wirkweise von Aminolipin zum Patent angemeldet.
In seinem Büro hält Hirt einen Glaskolben gegen das Licht. Die Aminolipin-Probe darin schimmert perlmuttfarben und hat die Konsistenz von Wachs. „Die neue Substanz in allen Aspekten so hinzukriegen wie Formaldehyd, war nicht einfach“, gibt der Anatomie-Professor zu. „Formaldehyd durchdringt Gewebe unheimlich gut, weil es ein kleines Molekül und auch überall in der Luft ist, sodass man sich dem auch selbst nicht entziehen kann“, lacht Hirt.
Endspurt zu marktfähigem Produkt
Für die Fixierlösung wird Aminolipin zerstäubt und in Lösung gebracht.
© Peter Neckel, Institut für Klinische Anatomie und Zellanalytik Tübingen
Die Forscher arbeiteten daher daran, eine neue Fixierlösung zu entwickeln, bei der Aminolipin genauso gut wie Formaldehyd über die Blutbahn bis in die entlegensten Winkel des Körpers gelangt. Für Aminolipin spricht, dass die Forscher keinerlei Aminolipin-Moleküle in der Luft fanden, die für die Gesundheit des Menschen problematisch werden könnten. Außerdem sorgte Hirts Forschungsgruppe dafür, dass Aminolipin auch bei Temperaturen um den Gefrierpunkt löslich bleibt, auf die die Körper vor der Konservierung heruntergekühlt werden.
Die Mühen haben sich gelohnt: Die kommenden drei Jahre erhält Hirt 4,5 Millionen Euro aus der GO-Bio-Förderung des Bundesforschungsministeriums, um Aminolipin als formaldehydfreie Alternative marktfähig zu machen. Mit dem Geld wollen die Forscher optimierte Produktformulierungen entwickeln, um alle Geweberegionen, vom Gehirn bis zu Bauchspeicheldrüse und Darm, gleichermaßen lebensecht zu konservieren. Für die Anwendung in der Pathologie müssen sie die Zusammensetzung der Fixierlösung wiederum so verändern, dass nachher noch histologische Färbungen und die Analyse von Zellbestandteilen möglich sind.
Außerdem planen die Tübinger eine multizentrische Wirksamkeitsstudie, in der vier anatomische Institute aus Deutschland und China nochmals überprüfen werden, wie gut sich Aminolipin als Fixier- und Konservierungsmittel eignet. Nicht zuletzt lassen sie Aminolipin von zertifizierten externen Laboren auf Kanzerogenität, Toxizität und Umweltverträglichkeit prüfen, um eine Substanz- und Produktzulassung auf Grundlage der europäischen Biozidverordnung beantragen zu können.
Da die Substanzgruppe bereits als Desinfektionsmittel sehr gut untersucht sei, ist Hirt zuversichtlich, die Zulassung zu erhalten. Denn ein Fixiermittel wird auch in Zukunft gebraucht, so Hirt: „Ärzte lernen am meisten, wenn sie an fixierten Körper arbeiten und dreidimensionale Strukturen und die Beziehung zu anderen Strukturen haptisch begreifen. Das lässt sich nicht durch Simulationen erreichen“, ist Hirt überzeugt.