Annegret Wilde - Cyanobakterien mit Jetlag
Unausgeschlafene Bakterien? Prokaryoten laufen zum Licht? – Das gibt es tatsächlich. Prof. Dr. Annegret Wilde vom Institut für Molekulare Genetik an der Universität Freiburg untersucht dieses und andere Phänomene. Die gebürtige Berlinerin ist seit August 2012 in Freiburg und kümmert sich bereits seit 15 Jahren um die Belange und Fähigkeiten der Cyanobakterien.
Versteht etwas von Cyanobakterien: Prof. Dr. Annegret Wilde
© privat
Das Interesse für die Biologie entdeckte die 1966 im ehemaligen Ost-Berlin geborene Professorin Annegret Wilde schon in der Schulzeit. Die Biologielehrerin habe sie damals sehr für die molekularen Grundlagen der Biologie begeistert. „Dass es die Mikrobiologie wurde, hängt sicher damit zusammen, dass ich auf kleinere Organismen stehe“, erzählt die Genetikerin, „viele andere haben Biologie studiert, weil sie Pferde und Hunde mögen, das war bei mir nicht so.“
Da es in der damaligen DDR eine sogenannte Absolventenlenkung gab, nach der nur diejenigen ausgebildet wurden, die dann auch einen Arbeitsplatz bekamen, war es schwierig, einen der limitierten Studienplätze für Biologie zu ergattern. Annegret Wilde rechnete sich die Chancen mit einem Auslandsstudium deutlich höher aus und ging ins damals nicht so beliebte Russland. Rückblickend sieht sie ihren Aufenthalt in St. Petersburg bis zum Diplomabschluss in Mikrobiologie als das Beste, was ihr passieren konnte. „Die Qualität des Studiums dort war in der molekularen Biologie und der Genetik sehr gut“, sagt Wilde, „ich hatte, als ich 1990 zurück nach Berlin kam, keinerlei Probleme, wissenschaftlich mitzuhalten.“
Auch hatte sie einen zugesicherten Arbeitsplatz als Wissenschaftliche Assistentin im Forschungsinstitut für Mikrobiologie in Berlin-Buch, der kurz nach der Wende noch existierte. „Andere hatten weniger Glück, weil es die Betriebe, für die sie arbeiten sollten, nicht mehr gab“, erinnert sie sich.
Motivation und Mentoring
Cyanobakterienkulturen in sogenannten Photobioreaktoren, in denen sie mit Kohlendioxid belüftet und belichtet werden.
© Prof. Dr. Annegret Wilde, Universität Freiburg
Nach Abwicklung ihres damaligen Instituts bewarb Wilde sich um ein NaFöG-Promotionsstipendium (Nachwuchsförderungsgesetz für Berliner Doktoranden). Sie untersuchte die evolutionären Verwandtschaftsbeziehungen von Chloroplasten und Cyanobakterien mit Schwerpunkt auf den besser erforschbaren Cyanobakterien und wurde 1994 bei Prof. Dr. Thomas Börner an der Humboldt-Universität zu Berlin promoviert. Wilde blieb anschließend noch als Postdoc in der AG Börner. Auch kurze Zeit nach der Geburt ihres Sohnes kehrte sie wieder dorthin zurück.
Nach einem Wechsel zur Pflanzenbiochemie innerhalb der Humboldt-Universität habilitierte die Forscherin 2006 in Molekularbiologie und nahm 2008 den Ruf auf eine Professur in Gießen an. Obwohl das wissenschaftliche Umfeld in Gießen gut passte, folgte Wilde im Jahr 2012 dem Ruf der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg auf eine Professur für Molekulare Genetik mit Schwerpunkt in der Bakteriengenetik. Hier ist sie begeistert vom starken Background bezüglich phototropher Mikroorganismen in der Mikrobiologie und der AG Experimentelle Bioinformatik von Prof. Dr. Wolfgang Hess, mit dem sie gemeinsam bereits einige Projekte erarbeitete.
Als einen Schlüsselmoment ihrer Karriere beschreibt Wilde die Arbeitsatmosphäre in der AG ihres Doktorvaters Börner im Berliner Institut, der Leute motivierte und ihnen den Spaß an der Forschung vermittelte, so dass viele auch in der Wissenschaft geblieben sind. „Das hat dazu beigetragen, dass ich heute hier bin“, bekennt die Mikrobiologin, „aus Börners AG sind zehn Professoren hervorgegangen, davon vier Frauen.“
Der zweite wichtige Meilenstein in Wildes Karriere war das Mentoring-Programm ProFiL (Professionalisierung für Frauen in Forschung und Lehre), in dem die drei Berliner Universitäten gezielt Frauen auf dem Weg zur Professur fördern. Eigenen Angaben zufolge wäre sie ohne dieses Programm und die darin eingebundenen Mentorinnen, Workshops und den Austausch mit gleichgesinnten Frauen nicht Professorin geworden.
Orchideenfach „Cyanobakterien“
Früher, so erzählt Wilde, sei die Forschung an den Blaualgen eine Art Orchideenfach zwischen zwei Stühlen gewesen, was viele nicht ernst nahmen und wofür es oft nicht genug Förderung gab. Die Mikrobiologen hätten zudem die photosynthetischen Bakterien nicht so richtig als Bakterien akzeptiert, und die Pflanzenleute diese nicht als Algen. Die wissenschaftliche Sichtweise von Cyanobakterien hat sich in den letzten Jahren grundsätzlich verändert. Seit bekannt ist, dass man mit ihnen Biokraftstoffe herstellen kann, ist ihre Valenz gestiegen. Wilde und ihre zehnköpfige Arbeitsgruppe erforschen in Zusammenarbeit mit der Firma Algenol Biofuels Germany GmbH die Grundlagen, wie in großtechnischem Maßstab die Synthese von Ethanol langfristig mit Cyanobakterien möglich sein kann. Ihr Untersuchungsobjekt dabei ist das Cyanobakterium Synechocystis sp. PCC 6803.
Fortbewegung à la Spiderman
Mobile Bakterienkolonien von Synechocystis zeigen Phototaxis
© Prof. Dr. Annegret Wilde, Universität Freiburg
Davon abgesehen interessiert das Team Wilde alles, was die „blaugrünen Algen“ an genetischen Systemen und molekularen Regulationsmechanismen zu bieten haben. Das Phänomen der Phototaxis ist beispielsweise ziemlich überraschend: „Cyanobakterien können sich in Richtung Licht bewegen“, berichtet die Forscherin, „sie benutzen dafür sogenannte Pili, Nanostrukturen aus Proteinen, die man auch aus pathogenen Organismen kennt.“ Diese Zellfortsätze setzen die Bakterien ein, um genetische Information mit anderen Bakterien auszutauschen, aber auch, um sich wie mit Füßchen an Oberflächen anzuheften und entlangzuziehen.
„Vielleicht kann man sich das ein bisschen vorstellen wie bei Spiderman“, scherzt Wilde, „nur mechanistisch anders und natürlich sehr langsam.“ Mehr als einen Zentimeter pro Woche schaffen sie wohl nicht. Allerdings sind die Biofilme, in denen sie sich bewegen, nur ein bis zwei Millimeter hoch. Um eine bessere Lichtausbeute zu erreichen, ist den autotrophen Organismen diese Art der Motilität genug. „Als wir vor einigen Jahren anfingen, auf dem Thema zu arbeiten, lachten uns viele Wissenschaftler aus“, erinnert sich die Expertin, „sie haben gefragt: Wozu brauchen die Bewegung? Und dann auch noch so langsame?“ Inzwischen weiß man, dass Cyanobakterien, die mit ihren verschiedenen Photorezeptoren Lichtfarben unterscheiden, zu längerwelligem Rot- und Grünlicht hinlaufen, da sie hier optimale Bedingungen für ihre Photosynthese finden. UV-Licht schädigt das Bakterium, also läuft es davor weg. Die Forscher um Wilde wollen genau verstehen, wie das auf molekularer Ebene funktioniert. Sie manipulieren Photorezeptoren und verändern damit die Bewegungsfreudigkeit der Organismen.
Zirkadiane Uhren
Die AG Wilde interessiert sich für Molekulare Grundlagen der „blaugrünen Algen“. (A. Wilde: 2. v. links, vordere Reihe)
© Prof. Dr. Annegret Wilde, Universität Freiburg
Spannend ist auch, dass Cyanobakterien die wohl einzigen Prokaryoten mit einer inneren Uhr sind. Das heißt, sie besitzen einen 24-Stunden-Rhythmus, den sie auch unter konstanten Lichtbedingungen über mehrere Tage aufrecht erhalten, und das, obwohl sie sich in der Zeit mehr als einmal teilen. Diese innere Uhr besteht aus nur drei Proteinen, von denen eines im Lauf eines Zyklus phosphoryliert und wieder dephosphoryliert wird. Stört man den Rhythmus, etwa durch phasenverschobene Licht- oder Dunkelreize, so leiden auch sie unter Jetlag und müssen sich wieder mit der Umwelt synchronisieren. Wofür brauchen sie das überhaupt? „Bevor die Sonne aufgeht, können sie schon mal ihre Photosynthese-Gene transkribieren und sind so sofort bereit, wenn die ersten Lichtstrahlen eintreffen“, weiß Wilde.
Ihre Vision für die Zukunft: „Wichtig wäre, die grüne Wissenschaft für Studierende in den Vordergrund zu rücken, weil die Forschungslandschaft gerade sehr medizinorientiert ist“, sagt sie. Betrachtet man die heutige Lebensmittel- und Kraftstoffsituation, so steht die Zukunft bereits vor der Tür.