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Archaisches Leuchtsignal erhellt die Mechanismen der Zelldifferenzierung

Es gibt nur wenige Signalwege, die im Laufe der Evolution ähnlich gut konserviert wurden wie der Notch-Signalweg. Die Gründe dafür sind in seiner einzigartigen biologischen Funktion zu suchen - denn Notch ermöglicht zwei gleichartigen Zellen, sich in vollkommen unterschiedliche Gewebe zu entwickeln. Wie dieser Prozess im Detail funktioniert, beschäftigt die Hohenheimer Professorin Anette Preiß bereits seit ihrem Post-Doktorat.

Schätzungsweise 200 verschiedene Zelltypen sind für den Aufbau des menschlichen Organismus verantwortlich. Sie bilden Blutgefäße und Muskelgewebe oder formen hochkomplexe Organsysteme. Hierbei handelt es sich um eine enorme organisatorische Leistung – vor allem, wenn man bedenkt, dass sämtliche Zellen des Körpers von einer einzigen befruchteten Eizelle abstammen. Doch wie erfahren die neu gebildeten Zellen, welche Rolle für sie vorgesehen ist? Die Antwort geben die zahlreichen fein aufeinander abgestimmten Signalwege, über die die Zellen miteinander kommunizieren. Von herausragender Bedeutung ist hierbei zweifellos der Notch-Signalweg, in dessen namensgebenden Rezeptor bereits vor annähernd 100 Jahren erstmals Mutationen beschrieben wurden.
Prof. Dr. Anette Preiß erforscht an der Universität Hohenheim die Mechanismen des Notch-Signalwegs. (Foto: BioRegio STERN)
„Der Notch-Signalweg wird immer dann gebraucht, wenn aus zwei gleichen Zellen zwei verschiedene werden sollen“, erklärt Professor Dr. rer.nat. Anette Preiß vom Institut für Genetik an der Universität Hohenheim. „Dabei sagt Notch den Zellen aber nicht, was sie zu tun haben“, erläutert die Biologin, „sondern es erlaubt ihnen, sich in eine andere Richtung zu differenzieren als die direkten Nachbarzellen.“ Und an diesem Konzept hat sich im Laufe der Evolution kaum etwas geändert. Der Notch-Signalweg ist vollständig konserviert geblieben - vom Fadenwurm über die Fruchtfliege bis hin zum Menschen. Der hohe Konservierungsgrad ist ein typisches Kennzeichen all jener Signalwege, die biologisch von großer Bedeutung sind. „Man vermutet, dass diese bereits vor Urzeiten entstanden sind und sich als äußerst funktionell erwiesen haben“, so Preiß. Jede kleine Veränderung in diesem System könnte für die Zellen - und damit den kompletten Organismus - fatal sein.

Notch-Signalweg beansprucht Sonderrolle

Aus diesem Grund ist der prinzipielle Aufbau des Notch-Signalwegs auch bei allen Lebewesen gleich. Die Fruchtfliege (Drosophila melanogaster) besitzt einen Notch-Rezeptor und zwei Liganden, die für die Aktivierung des Signalwegs von entscheidender Bedeutung sind. Beim Menschen konnten vier Rezeptoren und zwei Klassen von Liganden identifiziert werden, die strukturell jedoch mit denen von Drosophila eng verwandt sind. „Eine Besonderheit des Notch-Signalwegs ist, dass sowohl der Rezeptor als auch die Liganden in der Zellmembran verankert sind“, so Preiß. Der Notch-Rezeptor einer Zelle kann deshalb nur durch die unmittelbar benachbarten Zellen aktiviert werden. „Das ist ungewöhnlich, denn bei den meisten anderen Signalwegen werden die Liganden, so zum Beispiel die Hormone, weit entfernt produziert und dann über das Blut angeschwemmt“, erläutert die Biologin.
Schematische Darstellung des im Text beschriebenen Zusammenspiels von Notch und Hairless.
Notch und Hairless konkurrieren um die gleichen Zielgene bei Drosophila. (Abbildung: Preiß / Universität Hohenheim) © Preiß / Universität Hohenheim
Doch auch bezüglich seiner Wirkungsweise nimmt der Notch-Signalweg eine Sonderrolle sein. Während die meisten der bislang identifizierten Transduktionswege erst mehrere Enzymkaskaden aktivieren müssen, ehe das Signal an den Zielgenen ankommt, wählt Notch einen wesentlich direkteren Weg: Der intrazellulär gelegene Teil des Notch-Rezeptors wird nach entsprechender Liganden-Bindung abgespalten, wandert in den Zellkern und wirkt unmittelbar selbst als Gen-Aktivator. „Notch muss man sich wie eine Leuchtrakete vorstellen“, erklärt Preiß, „das Signal wird sofort nach dem Kontakt mit den Liganden einer benachbarten Zelle abgefeuert, erstrahlt für einen kurzen Augenblick - und Schluss.“ Diese Leuchtspur kann dabei weder aufgehalten, noch durch andere Faktoren beeinflusst werden.

Ein-Schuss-Prinzip gibt Rätsel auf

„Wie dieses Ein-Schuss-Prinzip von Notch im Detail funktioniert, gehört zu den großen Rätseln in der Biologie“, berichtet Preiß - und dieses Mysterium beschäftigt die Hohenheimer Wissenschaftlerin seit mehr als zwei Jahrzehnten. Inzwischen konzentriert sich die geschäftsführende Direktorin des Instituts für Genetik aber nicht mehr so sehr auf Notch, sondern in verstärktem Maße auf dessen intrazellulären Gegenspieler Hairless. „Hairless fasziniert mich seit langem schon, weil es genau jene Gene ausschaltet, die Notch anzumachen versucht“, berichtet Preiß, die bereits während ihrer Post-Doc-Zeit an der US-amerikanischen Yale University am Notch-Signalweg gearbeitet hat. Die ungewöhnlichen Namen der Signal-Komponenten resultieren im Übrigen aus dem äußeren Erscheinungsbild der Fruchtfliegen. Tiere mit einer Mutation im Hairless-Gen bilden so gut wie keine Borsten auf ihrer Oberfläche, während Mutationen im Notch-Rezeptor charakteristische Einkerbungen (engl. notches) im Bereich der Flügelkante zur Folge haben.
Foto eines mutierten Flügels der Fruchtfliege Drosophila. Typisch für diese Mutation ist die runde Einkerbung an der linken Kante des Flügels.
Mutationen im Notch-Rezeptor verursachen typische Einkerbungen an der Flügelkante einer Fruchtfliege.(Foto: Preiß / Universität Hohenheim)

Aktuell erforscht die Hohenheimer Arbeitsgruppe von Professor Preiß, wie Notch und Hairless auf molekularer Ebene miteinander konkurrieren. „Wenn es uns gelingt, diesen Vorgang in der Fruchtfliege zu verstehen, dann können wir auch beim Menschen viele Abläufe besser nachvollziehen und möglicherweise therapeutisch eingreifen“, so die Biologin. Denn inzwischen weiß man, dass Störungen des Notch-Signalwegs auch beim Menschen zahlreiche Erkrankungen hervorrufen. So beruht das mit gehäuften Schlaganfällen einhergehende CADASIL-Syndrom auf Mutationen im Notch-3-Rezeptor, während sich das Alagille-Syndrom, das durch eine chronische Lebererkrankung gekennzeichnet ist, auf Veränderungen in einem der Liganden zurückführen lässt. Und auch in die Entstehung zahlreicher Krebsarten ist Notch entscheidend involviert. Die Arbeit wird den Forschern so schnell also nicht ausgehen - schließlich weiß die Wissenschaftlerin Preiß aus eigener Erfahrung: „Egal wo wir hinschauen, der Notch-Signalweg spielt fast überall eine Rolle – wir kommen gar nicht um ihn herum.“

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