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Experteninterview

Biologicals werden für Boehringer Ingelheim immer wichtiger

Biopharmazeutika spielen in der Pipeline von Boehringer Ingelheim eine immer größere Rolle. Sichtbarer Ausdruck ist das im Bau befindliche Entwicklungszentrum für Biologicals, das bis 2020 deren Verfahrensentwicklung unter einem Dach vereint. Walter Pytlik hat für die BIOPRO mit Dr. Ralf Schumacher darüber gesprochen. Schumacher ist bei Boehringer Ingelheim für die nicht-klinische Entwicklung von Biologicals verantwortlich.

Welche biologischen Moleküle gelangen ins neue Zentrum?

Das Unternehmen hat vor zwei Jahren entschieden, die Auftragsherstellung von der eigenen Entwicklung komplett getrennt aufzubauen. Ins neue Gebäude kommen die Entwicklungsarbeiten für die eigenen NBEs1 und die Biosimilars.

Vier von zehn Wirkstoffkandidaten in Ihrer Pipeline sind Biologicals. Auf Ihrer FuE-Pressekonferenz war von 80 klinischen und präklinischen Projekten die Rede. Können Sie dies aufschlüsseln?

Dr. Ralf Schumacher (55) verantwortet seit 2018 die nicht-klinische Entwicklung von Biologicals. Er war in ähnlicher Position viele Jahre bei Roche tätig und hat die Entwicklung von Antikörpern als Therapeutikum von kleinen Anfängen bis in die jetzige industrielle Dimension begleitet. © Boehringer Ingelheim

Zunächst eine Klarstellung: Wir machen hier alle Entwicklungsarbeiten, die nicht-klinisch notwendig sind. Wir etablieren Prozesse, stellen Verfahren her, skalieren diese hoch und verwenden Verfahren zur Herstellung von klinischem Material. Da kann das Projekt schon in Phase I oder II der klinischen Entwicklung sein.

Wir haben rund 25 Projekte in unterschiedlichen Phasen, die vom Stadium der Präklinik bis zur Zulassung reichen. Unser Schwerpunkt liegt bei klassischen Antikörpern, wir haben auch relativ viele sogenannte „engineerte“ Moleküle, bispezifische Moleküle, sogenannte T-Cell-Engager. Davon haben wir etwa 20 bis 25 Prozent.

Und die Kandidaten bewegen sich in den Indikationen Immunologie und Immunonkologie?

Richtig. Es sind Antikörper, die auf Oberflächenstrukturen der Tumorzelle gerichtet sind, aber auch Checkpoint-Inhibitoren. Zu nennen in der Immunologie wäre ein klassischer Antikörper wie der IL-36-Rezeptorblocker, der in der Immunregulation eine Rolle für inflammatorische, psoriatrische Erkrankungen spielt. Es gibt auch Ansätze in der Ophtalmologie, und wir haben auch bei kardiovaskulären Krankheiten Ansätze.

Bioanalytik, Prozessentwicklung und Medikamentenherstellung für klinische Studien unter einem Dach zusammen- und an die Herstellung heranzuführen, sei notwendig, haben Sie zur Grundsteinlegung gesagt. Warum?

Weil wir bei der biotechnologischen Herstellung von Medikamenten wissen, dass alle Prozessschritte zum einen hochtechnologisch sind, zum anderen aber auch alle voneinander abhängen. Wenn zum Beispiel jemand bei der Fermentation auf die kluge Idee kommt, dass die Zellen besser wachsen, wenn man die Temperatur von 37 Grad auf 36,5 Grad senkt, mag das einen subtilen, entscheidenden Unterschied bei der Qualität des hergestellten Proteins machen, weil z. B. die Glykosilierung anders sein mag. Das kann aber nicht isoliert passieren. Was sich Fermenteur, Aufreiniger, Analytiker überlegen, muss zusammen mit den jeweils anderen Disziplinen geschehen. Nur wenn der Analytiker von der Temperaturveränderung weiß, kann er die Veränderung bewerten und verstehen. Außerdem generieren wir Unmengen von Daten. Jeder Fermentationslauf erzeugt viele In-Prozess-Daten, die man interpretieren und auch archivieren muss.

Könnten Sie veranschaulichen, was Sie mit Verzahnung eines komplexen Netzwerks von Technologien meinen, vielleicht anhand Ihrer immunologischen Hoffnung, dem IL-36-Rezeptorhemmer?

Der komplexe Prozessweg von kleinen Flaschen bis zu Fermentern mit 15.000 Litern Volumen wird im neuen Biberacher Entwicklungszentrum zusammengefasst. © Boehringer Ingelheim

Man könnte glauben, dass die Herstellung eines solchen oftmals hergestellten klassischen Antikörpers nicht besonders herausfordernd ist. Wir stellen aber fest, dass es in der individuellen Sequenz, der Abfolge der Aminosäuren, immer wieder Elemente, Aminosäuren-Stretches gibt, die z. B. eine wasserabweisende Struktur haben, dass manche Antikörper eine Aminosäure so an die Oberfläche exponiert haben, dass diese eine leichte Veränderung, vielleicht in Form einer Oxidation durchmacht, oder sich sogar umlagert.

Das heißt: Jeder Antikörper ist tatsächlich individuell. Obwohl man diesen schon oft hergestellt hat, ist jeder einzelne wieder neu. Von den Moleküleigenschaften, die die Sequenz bestimmt, müssen wir ableiten, was wir uns in der Fermentation leisten können, welche Spurenelemente wir dazugeben sollen, welche Art von Medienkomponenten die Zelle braucht, was für eine Wachstumseigenschaft die Zelle hat, die ja eigens für diesen Antikörper hergestellt wurde. Dieses Wissen müssen wir in der Fermentation abbilden. Dort wiederum müssen wir so ernten, dass die Aufreinigung möglichst wenige Nebenprodukte hat. Man muss berücksichtigen, dass es sich um lebende Zellen handelt, die auch „Fehler“ machen; auch da gibt es leichte Verunreinigungen oder Aggregationstendenzen. In der Aufreinigung muss man wissen, was aus der Fermentation kommt, was in der Ernte enthalten ist. Das muss dort mit dem Wissen der Sequenz und der damit verbundenen Eigenschaften (Salze, pH-Wert, Zusätze z. B.) berücksichtigt werden, um keine Fehler zu machen. Und das wiederum muss von der Analytik begleitet werden. Diese muss an jeder Stelle sagen können, was gerade passiert, zum Beispiel, dass man sich hier im ‚grünen Bereich‘ bewegt oder gerade eine Phase mit einer Aggregationstendenz durchläuft.

Bei diesem speziellen Antikörper gehen wir auf eine relativ hohe Konzentration, in einem Bereich von über 100 mg/ml, was für spätere subkutane Anwendungen eine Grundvoraussetzung ist. Da geraten Proteine schon einmal in Viskositätsprobleme, in Selbstaggregationstendenzen. Auch hier muss man wieder die Sequenz, die Aufreinigungseigenschaften kennen, um zu wissen, wie hoch kann ich konzentrieren, welche Art von Zusatzstoffen wird toleriert. All das ist innerhalb der Wertschöpfungskette miteinander verbunden.

Zellkulturbasierte Herstellung von Biologicals mit chinesischen Hamstereizellen nutzt eine jahrzehntealte Technologie. Dient das neue Entwicklungszentrum auch ATMPs und dafür notwendigen Technologien?

ATMPs2 wie Gentherapie, Viren oder andere Vakzine können durchaus andere Expressionssysteme jenseits von CHO3 erforderlich machen. Zwar werden wir hier sehr wahrscheinlich nicht produzieren, weil es da andere Sicherheitsanforderungen gibt. Aber wir werden uns mit der Verfahrensentwicklung für diese neuartigen Modalitäten beschäftigen.

Große Pharma-Unternehmen müssen Antworten auf wachsenden Kostendruck finden. Kann das neue Entwicklungszentrum auch hierzu einen Beitrag leisten?

Boehringer Ingelheim schreibt sich die Entwicklung von First-In-Class- und Breakthrough-Therapies auf die Fahnen. Breakthrough heißt, dass man im Rahmen der klinischen Entwicklung irgendwann feststellt, dass dieses Medikament für Patienten möglicherweise die einzige und beste Option ist, sodass man bei der Zulassung eine schnellere Entwicklung beantragt. Wir werden uns hier auch mit alternativen Entwicklungsstrategien beschäftigen, damit wir frühzeitiger in eine kommerzielle Produktentwicklung einsteigen können. Wir müssen Plattformen etablieren, die eine solche Beschleunigung erlauben. Wir werden Plattformen entwickeln in Bezug auf Zelllinien, Fermentation und Medien, in Bezug auf Aufreinigung und analytische Methoden, sodass wir verkürzte und vom Aufwand verringerte Entwicklungszeiten haben werden.

Werden Sie auch Single-Use-Systeme einsetzen?

Ja, wir werden in diesem Gebäude einen Herstellbereich etablieren, der sich Clinical Supply Center nennt. Hier werden wir unter GMP-Bedingungen den Wirkstoff herstellen, der später auch zur Anwendung im Menschen verwendet wird. Dafür werden wir Einweg-Fermenter einsetzen.

Boehringer Ingelheim hat bislang noch keinen eigenen biopharmazeutischen Blockbuster. Steigen die Chancen mit dem neuen Entwicklungszentrum?

Wir haben einige gute Produkte in der Pipeline. Ja, im neuen Entwicklungsgebäude werden die Voraussetzungen geschaffen, deutlich mehr, deutlich besser, deutlich schneller diese Blockbuster zu entwickeln. Ja, Boehringer Ingelheim wird in diesem Bereich eine deutlich größere Rolle spielen als bisher.

1 NBE: New Biological Entities, neue biologische Wirkstoffe
2 ATMPs: Advanced Therapy Medicinal Products, Arzneimittel für neuartige Therapien
3 CHO: Chinese Hamster Ovary

Seiten-Adresse: https://www.gesundheitsindustrie-bw.de/fachbeitrag/aktuell/biologicals-werden-fuer-boehringer-ingelheim-immer-wichtiger