Boehringer Ingelheims Forscher nehmen die Entzündung in den Blick
Mit antientzündlichen Wirkprinzipien will Boehringer Ingelheim die Therapie von Atemwegserkrankungen wie chronisch obstruktiver Bronchitis (COPD) und Asthma in Zukunft verbessern. Klinische Studien werden zeigen, welche Verbesserungen für den Patienten von diesen in unterschiedlichen Entwicklungsstadien befindlichen Substanzen zu erwarten sind. Medikamente, die die Bronchien weiten und die der deutsche Pharmahersteller zur Zeit vermarktet, werden auf mittlere Sicht unverzichtbar für die Therapie von chronisch obstruktiven Lungenerkrankungen oder Asthma bleiben.
Dr. Florian Gantner.
© Boehringer Ingelheim
Florian Gantner misst antientzündlichen Substanzen der Zukunft ergänzenden Charakter bei, die auf indirektem Weg die Lungenfunktion der Kranken zu verbessern versprechen. Der 42jährige Biologe und habilitierte Pharmakologe ist im Biberacher Forschungszentrum des Unternehmens Therapiegebietsleiter für Atemwegserkrankungen.
Am Anfang vieler Atemwegserkrankungen steht die Entzündung. Das ist grob gesagt das Pathogenitätsmodell, auf dem die Biberacher Lungenforschung fußt. Selbst die Umbauprozesse der Lunge, die im Emphysem enden, werden nach Gantners Worten als späte Ausprägung einer fortgeschrittenen Erkrankung verstanden, die maßgeblich gesteuert und forciert wird von chronischen Entzündungsreaktionen.
Am Anfang von COPD steht die Entzündung
Im Falle der COPD stellt man sich eine überschießende Entzündungsreaktion in den Atemwegen vor, die lokal durch regelmäßige Exposition mit Zigarettenrauch und andere Schadstoffe angetrieben wird. Diese von Schadstoffen ausgelösten Entzündungsreaktionen veranlassen das Gewebe der Lunge letzten Endes zu pathophysiologischen Reaktionen. Im Zuge dieser überschießenden Entzündungsreaktion baut sich auch das Epithel der Lunge um, die Zahl der schleimproduzierenden Zellen in der Lunge wächst, weil diese die Partikel wegtransportieren, abatmen will. Florian Gantner umschreibt dies als eigentlich physiologische Abwehrreaktion, die überschießt und sich in dauerndem Hustenreiz bei Bronchitikern äußert. So können auch Fibrosen als übersteigerte Heilungsprozesse verstanden werden.
Modell der Pathophysiologie von COPD, die die überschießende Entzündung als Angriffspunkt für pharmakologische Entwicklungen nimmt.
© Boehringer Ingelheim
Dass Zigarettenrauch Entzündungsreaktionen auslöst, ist nach Gantners Worten hinreichend belegt. Daraus dürfe man aber nicht schließen, dass es ausschließlich der rund 4.000 mehr oder minder giftige Substanzen umfassende Schadstoffcocktail im Zigarettenrauch sei, der beispielsweise COPD verursache. Das mag in hochentwickelten Ländern zutreffen, in Indien jedoch habe man auch bei Frauen, die jahrelang am offenen Feuer kochten, COPD diagnostiziert. Gleiches gelte für Exposition mit Dieselabgas in Ballungszentren. Eine genetische Veranlagung scheint auch eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der COPD zu spielen.
Kardinalproblem: große Kompensationsfähigkeit der Lunge
Die behandelnde Medizin hat bislang mit dem Problem zu kämpfen, dass die Lunge eine große Fähigkeit zur Kompensation besitzt. Erst dann, wenn ein Großteil der Lunge nicht mehr funktioniert, bekommen die Menschen im Fall von COPD beispielsweise unter Belastung Probleme. Die dann einsetzende Therapie nach einer COPD-Diagnose kann letztlich nur Symptome kurieren. Die einzige Kausaltherapie sei immer noch, mit dem Rauchen aufzuhören, besser noch erst gar nicht damit zu beginnen, das weiß auch Lungenforscher Gantner.
Den Anfang machten Antimuskarinika
Medikamente gegen Erkrankungen der Atemwege kommen seit Jahrzehnten aus den Forschungslaboren von Boehringer Ingelheim. Der Pharmahersteller entwickelte als erster der Branche moderne, sogenannte Antimuskarinika. Natürlich vorkommende Antimuskarinika – wie das Atropin – sind seit Langem in der Behandlung von Atemwegserkrankungen eingesetzt. Diese Pflanzeninhaltsstoffe haben jedoch schwerwiegende zentralnervöse Nebenwirkungen. Boehringer Ingelheim führte mit quarternären Antimuskarinika eine neue Substanzklasse ein, die aufgrund ihrer Struktur nicht in das Gehirn gelangen können und somit – nach inhalativer Gabe – ihre Wirkung hauptsächlich in der Lunge entfalten.
Diese Stoffklasse hemmt die Kontraktion der glatten Muskulatur. Deren natürlicher Agonist, das Acetylcholin, sorgt für eine Kontraktion der Muskulatur, auch der Atemwegsmuskulatur. Bei COPD wird Acetylcholin vermehrt ausgeschüttet. Der Name dieser Wirkstoffklasse stammt von den muskarinischen Rezeptoren, wovon es fünf Subtypen gibt. Wichtig für die Atemwege ist Subtyp M3. Antimuskarinika blockieren diesen Rezeptor, erweitern so die Atemwege und sorgen für Luftfluss, der bei COPD-Patienten stark eingeschränkt ist. Diese Substanzen werden deshalb Bronchodilatatoren genannt. Boehringers Wirkstoff Tiotropium ist das erste langwirkende Anticholinergikum mit 24-stündiger Wirkdauer. Darüber hinaus vertreibt das Unternehmen auch verschreibungsfreie Mukolytika (Schleimlöser).
Den Markt beherrschen Bronchodilatatoren und Beta-Agonisten
Noch sind keine antientzündlichen Präparate zur Behandlung der COPD auf dem Markt. Es dominieren Bronchodilatatoren, wozu die Antimuskarinika gehören, und eine zweite Wirkstoffklasse (sogenannte Beta-Agonisten), die über andere Mechanismen eine ähnliche Wirkung wie Antimuskarinika entfalten, weswegen sie als wichtige Zusatztherapie zur Antimuskarinika-Basistherapie gelten. Anders als bei COPD stehen bei Asthma mit inhalativen Corticosteroiden antientzündliche Wirkprinzipien im Vordergrund. Steroide und deren Wirksamkeit in COPD sind nach Gantners Worten «deutlich weniger validiert». Für schwere Asthmatiker mit zusätzlich sehr hohen anti-IgE-Spiegel (anti-Immunglobulin der Klasse E), die vor allem für allergische Reaktionen verantwortlich sind, wird inzwischen eine antikörperbasierende Therapie angewandt, die diese anti-IgE neutralisiert.
Ziel: Tabletten, die inhalative Wirkstoffe ergänzen
In den Forschungslaboren bei Boehringer Ingelheim konzentrieren sich die Atemwegsspezialisten auf die Entzündungsprozesse in der Lunge, die, mit jeweils unterschiedlichen Ausprägungen, für COPD wie Asthma charakteristisch sind. Im chronischen Verlauf dieser zwei Erkrankungen sind unterschiedliche Zellen involviert, woraus unterschiedliche Ansatzpunkte zur Therapie resultieren. Abgesehen von Steroiden gibt es nach Gantners Worten noch keine antientzündlichen Therapien für Atemwegserkrankungen auf dem Markt. Das Ziel der Atemwegsfirma Boehringer Ingelheim sind «oral verfügbare Medikamente, die als Tabletten eingenommen werden können, im Idealfall in Ergänzung zu den inhalativen Präparaten». Dass künftige Präparate Inhalativa ersetzen, glaubt Gantner nicht : «Bronchodilatatoren werden immer ihren Platz haben».
Weitere Ansätze gegen die Exazerbationen im Gefolge von COPD und Asthma
Im Verlauf der chronischen Atemwegserkrankungen treten häufig zusätzliche Entzündungsreaktionen auf, die von Viren oder Bakterien hervorgerufen werden und bei COPD- und Asthma-Patienten zu akuten Verschlechterungen (Exazerbationen) führen. Die Patienten müssen sich dann meist in klinische Behandlung begeben, was zu massiven Kosten im Gesundheitswesen führt. Tiotropium hat in einer groß angelegten Studie gezeigt, dass Exazerbationen und damit verbundene teure Klinikaufenthalte reduziert werden können. Gegen diese gewissermaßen überlagerten Prozesse in der Lunge versuchen die Forscher bei Boehringer Ingelheim weitere und gezielte Ansätze zu finden, solche Exazerbationen entweder zu verhindern oder diese zu behandeln.
Epithelzellen kommt nach Ansicht der Atemwegsforscher bei Boehringer Ingelheim eine Schlüsselfunktion bei der Entzündung zu.
© Boehringer Ingelheim
In der Hauptsache konzentriert sich die Forschung in Biberach darauf, gegen diese sich ständig aufschaukelnden und intensiver werdenden Entzündungsprozesse, die durch Rauchen oder durch den Antigen-Kontakt bei Asthmatikern ausgelöst werden, Angriffspunkte zu entwickeln. Als Angriffspunkte stehen nach Gantners Worten die wichtigsten Immunzellen im Fokus: Bei COPD sind es hauptsächlich neutrophile Granulozyten und Makrophagen - sowie die Epithelzellen (»von denen wir glauben, dass sie die Entzündungreaktion orchestrieren»), bei Asthma sind es die eosinophilen Granulozyten, Typ 2 T-Helferzellen und Mastzellen. Daraus werden unterschiedliche Angriffspunkte abgeleitet, unterschiedliche molekulare Targets für die Medikamente der Zukunft, seien es Inhibitoren, Aktivatoren oder modulierende Agenzien.
Den Umbauprozess des Epithels aufhalten
Zwei Mechanismen befinden sich bei Boehringer Ingelheim in früher klinischer Entwicklung: Der erste will den Umbauprozess des Epithels aufhalten und damit die Mehrproduktion von schleimproduzierenden Becherzellen. Der therapeutische Ansatz zielt darauf ab, die Ausschüttung von Botenstoffen zu verhindern, die neutrophile Granulozyten aus dem Blut in die Atemwege locken; gleichzeitig normalisiert der gleiche Mechanismus die pathologisch gesteigerte Schleimproduktion.
In diesem Jahr hofft das Unternehmen mit einem zweiten Ansatz in die klinische Prüfung gehen zu können. Dieser Ansatz blockiert ein Enzym, das die Entzündung kontrolliert, das heißt die Wanderung von Blutleukozyten in das Gewebe unterdrückt und die Ausschüttung von Botenstoffen hemmt. Somit wird die Einwanderung von weiteren Entzündungszellen unterdrückt. Mit beiden entzündungshemmenden Ansätzen, so hoffen die Forscher, lässt sich die Lungenfunktion zusätzlich zur Standardtherapie auf indirektem Weg verbessern. Insbesondere die Hospitalisierungsrate, die bei den Exazerbationen hoch ist, will man durch diese neuen Ansätze eindämmen.
Momentan verfolgt das Unternehmen an seinem Forschungsstandort in Biberach über ein Dutzend Projekte, wovon sich die meisten im präklinischen Stadium befinden. In der klinischen Entwicklung befinden sich Gantners Worten zufolge sowohl innovative Ansätze für Asthma als auch für COPD.
Auf schweres Asthma fokussiert
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Modell der Pathophysiologie von COPD, die die überschießende Entzündung als Angriffspunkt für pharmakologische Entwicklungen nimmt.
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Die strategische Ausrichtung in der Indikation Atemwegserkrankungen ist verankert in der festen Überzeugung, dass es in der COPD-Therapie noch Wesentliches zu verbessern gibt. In der Indikation Asthma brochiale fokussiert sich das Unternehmen auf die Behandlung von Patienten mit schwerem Asthma. Hier kauft das Unternehmen auch externe Expertise zu, wie im Fall des kalifornischen Biotech-Unternehmens Actimis, mit dem zusammen Boehringer Ingelheim eine antientzündliche, nichtsteroidale Asthma-Therapie in Phase II der klinischen Entwicklung beforscht.
Darüber hinaus wird ein Wirkstoff gegen idiopathische pulmonale Fibrose entwickelt, der sich ebenfalls in Phase II der klinischen Erprobung befindet. In dieser Indikation gibt es nach Gantners Worten einen «riesigen therapeutischen Bedarf».
Nischen-Indikationen neu ins Portfolio ?
Untersucht wird bei Boehringer Ingelheim momentan, ob man auch Nischen-Indikationen wie Zystische Fibrose (Mukoviszidose) ins Portfolio aufnimmt, ob mit Partnern oder eigenen Mitteln. Nach Stand der Dinge wird sich nach Gantners Einschätzung das Portfolio an Indikationen eher vergrößern, die Zahl der Forschungs- und Entwicklungsprojekte pro Indikation indes eher verkleinern.
Als international wohlbekanntem Atemwegsspezialisten werden Boehringer Ingelheim von Biotechnologie-Firmen und Universitäten zahlreiche Angebote unterbreitet. Inwieweit diese zur Strategie passen und sich finanzieren lassen, wird von den firmeneigenen Spezialisten sorgfältig geprüft. Gegenstand reiflicher Überlegungen ist auch die Frage, ob das biopharmazeutisch ambitionierte Unternehmen auch NBEs (new biological entities) jenseits von COPD und Asthma in die Entwicklungspipeline aufnimmt. Diese Ansätze werden nach Gantners Einschätzung die NCEs ergänzen, weil sie das Spektrum therapeutisch anzugehender Targets erweitern.