Das Altern beginnt mit den Stammzellen
Die Rolle von Stammzellen bei Alterungsprozessen und altersbedingten Erkrankungen wie dem Myelodysplastischen Syndrom und der chronischen lymphatischen B-Zell-Leukämie wird im großen internationalen Verbundprojekt SyStemAge erforscht. Die Untersuchungen unter Federführung des Europäischen Molekularbiologischen Laboratoriums und des Universitätsklinikums Heidelberg sollen dazu beitragen, die Ursachen und ersten molekularen Anzeichen des Alterns auf Stammzell-Ebene zu identifizieren und neuartige Strategien zur frühzeitigen Behandlung altersabhängiger Krankheiten zu entwickeln.
Menschliche mesenchymale Stammzellen aus dem Knochenmark.
© Universitätsklinikum Heidelberg
Die Regenerationsfähigkeit der Organismen hängt vom Potenzial ihrer Stammzellen ab, das betroffene beschädigte Gewebe ersetzen zu können. Die somatischen Stammzellen (Gewebestammzellen) entstehen direkt aus den totipotenten Zellen des frühen Embryos. Sie teilen sich oder haben zumindest das Potenzial, sich zu teilen, solange das Gewebe besteht – also ein Leben lang. Anders gesagt: Organismen sind so alt wie ihre Stammzellen. Mit dem Alter nimmt die Regenerationsfähigkeit ab und die Anfälligkeit gegenüber Krankheiten steigt an – darunter die im Alter häufigen Infektionskrankheiten, chronischen Entzündungen und viele Krebsarten. Und diese erhöhte Anfälligkeit hängt mit der zunehmenden Schwächung des Immunsystems zusammen.
Das Immunsystem wiederum ist nach den Worten von Dr. Anne-Claude Gavin am Europäischen Molekularbiologischen Laboratorium (EMBL) in Heidelberg „das Summenprodukt von Interaktionen zwischen hämatopoetischen Stammzellen (HSC), Endothelzellen (EC) der Blut- und Lymphgefäße und, neben anderen Faktoren, der Mikroumgebung des Knochenmarks.“ Der Verlust der regenerativen Funktionen und die Anfälligkeit für Krebskrankheiten können danach als Anzeichen von Alterungsprozessen auf der Ebene der somatischen Stammzellen interpretiert werden.
Das Verbundprojekt SyStemAge
Dr. Anne-Claude Gavin
© EMBL
Die Alterungsprozesse in den blutbildenden Stammzellen und im Knochenmark sind Gegenstand des großen internationalen Forschungsprojektes „SyStemAge“, das von Anne-Claude Gavin, Arbeitsgruppenleiterin und Senior Scientist der Abteilung Structural and Computational Biology am EMBL, koordiniert wird. Der aus elf Arbeitsgruppen aus Deutschland, England, Spanien, Japan und Russland bestehende Forschungsverbund wird von der Europäischen Union im Bereich Gesundheit des 7. EU-Forschungsrahmenprogramms seit 2013 mit insgesamt sechs Millionen Euro für fünf Jahre gefördert.
Als Modell für die Erforschung und systembiologische Beschreibung der molekularen Mechanismen des Alterns von somatischen Stammzellen verwenden die Forscher HSC und ihre Stammzellnische im Knochenmark. Es handelt sich um das gegenwärtig am besten definierte System von Stammzellen und ihrer Mikroumgebung.
Ziel des Verbundprojektes ist es auch, die altersbedingten Veränderungen der Stammzellen in Hinblick auf die Entstehung von Knochenmarks-Erkrankungen und Wege zur Korrektur der Veränderungen zu erforschen. Dazu werden zwei hauptsächlich in höherem Alter auftretende Krankheiten untersucht:
das Myelodysplastische Syndrom (MDS), eine von genetisch veränderten Stammzellen ausgehende Erkrankung des Knochenmarks, die als Vorstadium von Leukämie angesehen wird. Reife, funktionstüchtige Blutzellen können bei fortgeschrittener MDS nicht mehr in ausreichendem Maß gebildet werden.
die chronische lymphatische B-Zell-Leukämie (B-CLL), eine bösartige Lymphknoten-Erkrankung, die durch die exzessive Vermehrung von B-Lymphozyten gekennzeichnet ist. B-CLL ist die häufigste Leukämie-Erkrankung im Erwachsenenalter.
Prof. Dr. Anthony D. Ho, Ärztlicher Direktor der Medizinischen Klinik V.
© Universitätsklinikum Heidelberg
An SyStemAge sind neben Instituten der biomedizinischen Grundlagenforschung und Universitätskliniken auch systembiologische Forschungsgruppen beteiligt sowie zwei kleine und mittlere Unternehmen mit Erfahrung in der Translation von Forschungsergebnissen an biomedizinischen Modellsystemen in neue Strategien zur Therapie von menschlichen Krankheiten. Gavin und ihre Mitarbeiter am EMBL haben sich durch ihre Erfahrungen mit biomedizinischer Modellierung und komplexer Systemtheorie in Verbindung mit molekular- und zellbiologischen Ansätzen für die Leitung dieses Großprojektes besonders qualifiziert. Ihre Arbeiten über biomolekulare Netzwerke und die Organisation des Proteoms und Metaboloms in Zellen hat international große Anerkennung gewonnen.
Die medizinische Seite des Projektes wird von Professor Dr. Anthony D. Ho, Ärztlicher Direktor der Abteilung Hämatologie, Onkologie und Rheumatologie (Innere Medizin V) der Medizinischen Universitätsklinik Heidelberg, koordiniert. Ho ist ein Pionier auf dem Gebiet klinischer Forschung und Anwendung von Blutstammzellen. Er war bereits im November 1985 maßgeblich an der ersten erfolgreichen Transplantation mit HSC aus dem peripheren Blut bei einem Krebspatienten beteiligt.
Krankhafte Stammzell-Alterung bei Krebs
B-Lymphozyten bei chronischer lymphatischer B-Zell-Leukämie.
© Universitätsklinikum Heidelberg
„Eine der Zielsetzungen des Gesamtprojektes ist es, herauszufinden, ob sich die Alterungsprozesse der Stammzellen beeinflussen lassen“, erklärte Gavin als Sprecherin des Verbunds. Dafür ist es notwendig, die molekularen Veränderungen in den Stammzellen und ihren Nachbarzellen in der Stammzellnische des Knochenmarks zu erfassen. Auch posttranslationale Modifikationen und DNA-Schäden, die sich während des Alterns anhäufen und Ursache für die nachlassende Regenerationsfähigkeit sein können, gehören dazu.
Aber warum ist das so? Liegt es daran, dass die Genauigkeit und Effizienz der zellulären Reparatursysteme abnimmt? Welche molekularen Signalwege steuern die Alterungsprozesse? Warum kommt es bei einigen Menschen im Alter zu Knochenmarkserkrankungen und bei anderen nicht? Gibt es charakteristische Marker, mit denen sich normales und krankhaftes Altern von Stammzellen unterscheiden lassen? Das sind einige der Fragen, denen die SyStemAge-Partner in den kommenden Jahren fachübergreifend mit modernster Technik und unterschiedlichsten Methoden nachgehen werden. Die vielfältigen, miteinander verbundenen und interagierenden Faktoren werden mit neuen systembiologischen Ansätzen analysiert.
PD Dr. Thomas Luft
© Universitätsklinikum Heidelberg
Die Wissenschaftler erhoffen sich auch ein besseres Verständnis der Entstehung und Ursachen altersbedingter Knochenmarkserkrankungen wie MDS und B-CLL. „Wir möchten klären, wie diese beiden Erkrankungen mit dem Alterungsprozess der Stammzellen zusammenhängen und ob sie von einem vorzeitigen Altern der Stammzellen verursacht werden“, sagte Ho. Seine Arbeitsgruppe, zusammen mit Privatdozent Dr. Thomas Luft, dem Leiter der „Taskforce Myelodysplastisches Syndrom“ der Medizinischen Universitätsklinik Heidelberg, und seinen Mitarbeitern, analysieren die Genome von Stammzellen unterschiedlichen Alters – von Neugeborenen bis zu über 70-Jährigen. Außerdem werden die Genome von Patienten mit MDS oder B-CLL mit denen gesunder Altersgenossen verglichen.
So wollen die Forscher die sich im Laufe der Zeit ansammelnden Veränderungen in der DNA erfassen und normale und krankhafte Alterungsprozesse der Stammzellen erkennen. Aus diesen Daten könnten sich Hinweise ergeben, wie man dem krankhaften Altern von Knochenmarks-Stammzellen mit neuen Wirkstoffen begegnen kann. Die Ergebnisse könnten auch große diagnostische Bedeutung erlangen, wenn sich Marker finden lassen, die als Frühwarnsignale auf altersbedingte Erkrankungen hinweisen. Denn bei den Stammzellen fängt das Altern an, bevor es in Krankheiten und Gebrechen sichtbar wird.