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Das Gehirn, die Funktion und die Architektur

Muss auch beim Tasten eine gewisse Ordnung sein? Die Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Jürgen Hennig von der Universitätsklinik Freiburg will den funktionellen Aufbau eines hochgradig strukturierten sensorischen Gehirnareals der Maus untersuchen, das Information von den für das Tasten wichtigen Schnurrhaaren der Tiere erhält. Mithilfe moderner Bildgebungsverfahren wie der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) oder des Diffusions-Tensor-Imaging (DTI) wollen die Wissenschaftler prüfen, ob Mäuse auch mit einer gestörten Organisation im Gehirn taktile Reize noch normal verarbeiten können. Die Technik des DTI liefert bereits erste spektakuläre Einblicke.

Erst vor einigen Wochen hat Prof. Dr. Jürgen Hennig, Wissenschaftlicher Direktor der Abteilung für Röntgendiagnostik – Medizin Physik der Universitätsklinik Freiburg, den renommierten Grant des Europäischen Forschungsrats (ERC) erhalten. Der mit 2,5 Millionen Euro datierte Forschungszuschuss kommt seiner Arbeit auf dem Gebiet der Magnetresonanz-Bildgebung zugute, die neue Möglichkeiten im Bereich der Neurologie, Neurowissenschaft und Onkologie eröffnet. Das Know-how in Hennigs Arbeitsgruppe erlaubt tatsächlich tiefe Einblicke in den Körper, und das, ohne das Gewebe zu schädigen. Es dient damit zum Beispiel Ärzten, die es für die Diagnostik beim Menschen einsetzen. Neben der humanen Anwendung gehen Hennig und seine Mitarbeiter Dr. Dominik von Elverfeldt und Dr. Laura Harsan seit Kurzem aber auch neue Wege. Zusammen mit der Gruppe von Prof. Dr. Jochen Staiger vom Freiburger Zentrum für Neurowissenschaften und der Abteilung für Neuroanatomie der Universität Freiburg konzentrieren sie sich im Rahmen des Sonderforschungsbereichs (SFB) 780 „Synapsen und Netzwerke“ jetzt auch auf die Maus. „Im experimentell besser zugänglichen Tiermodell können wir unsere Verfahren optimieren“, sagt Hennig. „Außerdem ist die wissenschaftliche Seite des Projekts sehr spannend.“

Nebeneinander gestapelte Fässer

Hennig und seine Mitarbeiter stellen sich in diesem Zusammenhang die Frage nach der funktionellen Architektonik und der Plastizität in dem Gehirnareal der Maus, das für bestimmte Aspekte des Tastsinns zuständig ist. Das Areal mit dem Namen Barrel Cortex (Barrel bedeutet im Englischen Fass oder Tonne) ist normalerweise sehr strikt organisiert: Es besteht aus parallel zueinander verlaufenden Kolumnen (den Barrels) und den sie trennenden Zwischenschichten, die im Querschnitt und bei geeigneter Anfärbung eine Art Schachbrettmuster zeigen. Diese räumliche Ordnung spiegelt auch eine funktionelle Ordnung wider, denn das Areal ist das Abbild der einzelnen Schnurrbarthaare der Maus, die ein wichtiges Tastorgan des Nagers darstellen. Jedes Tasthaar ist mit einer bestimmten Kolumne im Barrel Cortex verschaltet. Die Gesamtheit der Kolumnen stellt eine Karte dar, welche die räumliche Verteilung der Haare und der mit ihnen verbundenen Tastrezeptoren wiedergibt.

Die funktionelle Organisation ist ein Modell für ähnliche Verschaltungsmuster im menschlichen Gehirn, beispielsweise im visuellen Cortex, der die Netzhaut räumlich abbildet. Ist aber die anatomische Ordnung zwingend notwendig, damit Mäuse ihre Tasthaare noch genauso gut einsetzen können? Das können Experimente an so genannten Reeler-Mausmutanten verraten, die diese Ordnung aufgrund eines defekten Entwicklungsprogramms nicht mehr aufweisen.
Im Gehirn einer Reeler-Maus fehlt das wichtige Entwicklungsmolekül Reelin. Deshalb bildet sich im Barrel Cortex keine saubere Schichtung der Kolumnen aus. Bis heute weiß niemand, wie diese fehlerhafte Architektonik genau aussieht. Um hier im Vorfeld der weiteren Experimente Aufschluss zu erlangen, haben die Medizin-Physiker um Hennig das Verfahren des Diffusions-Tensor-Imaging (DTI) so angepasst, dass es mit etwa 100 Mikrometern auch für die kleinen Gehirne von Mäusen eine gute Auflösung liefert. Die Technologie misst mit Hilfe von kompliziert miteinander kombinierten Magnetfeldern die Diffusionsrichtung von Wassermolekülen im Gewebe. Wassermoleküle in den Axonen von Neuronen diffundieren im Durchschnitt eher parallel zum Verlauf der Zellfortsätze, während sie in allen anderen Richtungen von Zellmembranen aufgehalten werden.

In einem Magnetresonanztomographen können die Freiburger Medizin-Physiker diese Richtungstendenz sichtbar machen und damit den Verlauf von Nervenfasern und Nervenbündeln vom Barrel Cortex bis zu den Schnurrhaaren abbilden.
Zu sehen ist das Gehirn der Maus im Querschnitt von vorne. Links: Bei normalen Mäusen projizieren Verbindungen mit Eingang aus den Schnurrhaaren von einer tieferen Schicht des Gehirns in den an der Oberfläche liegenden Barrel Cortex und fächern sich dort
Zu sehen ist das Gehirn der Maus im Querschnitt von vorne. Links: Bei normalen Mäusen projizieren Verbindungen mit Eingang aus den Schnurrhaaren von einer tieferen Schicht des Gehirns in den an der Oberfläche liegenden Barrel Cortex und fächern sich dort zu einer „Karte“ auf (rot). Rechts: Bei Reeler-Mäusen ist die Auffächerung unordentlich. (Abbildung: L. Harsan, D. Elverfeldt, J. Hennig, J. Staiger)

Ein architektonisches Wirrwarr

„Das Verfahren des DTI zeigt uns bei normalen Mäusen genau das Bild des Barrel Cortex, wie es schon in Lehrbüchern zu sehen ist“, sagt Hennig. „Die parallelen Kolumnen senden parallele Verbindungen bis zu den Tasthaaren aus.“ Allein die Bestätigung des Lehrbuchmodells ist beachtenswert, denn bisher gab es solche Aufnahmen bei lebenden Tieren nicht. Noch interessanter ist aber die architektonische Situation in den Gehirnen von Reeler-Mäusen, denn hier sehen die Medizin-Physiker auf ihren Aufnahmen deutlich, dass die Nervenfaserbündel wirr durcheinander laufen und sich keiner rechten Ordnung beugen wollen. Weil die Wissenschaftler auf diesen Aufnahmen genau erkennen können, welche räumliche Ausrichtung die Kolumnen haben, können sie Fragen nach der funktionellen Bedeutung des normalen kolumnären Aufbaus stellen. „Ist die korrekte Funktion der Schnurrhaare bei einer gestörten Ordnung irgendwie beeinträchtigt“, fragt Hennig. „Oder können die Reeler-Mäuse taktile Reize genauso gut und in jeder Hinsicht wie normale Mäuse verarbeiten?“
Im Gehirn des Menschen kann das Diffusions-Tensor-Imaging (DTI) zum Beispiel Nervenfaserbündel enthüllen, die von tieferen Gehirnschichten in den Cortex aufsteigen. (Abbildung: Prof. Dr. Jürgen Hennig)
Im Gehirn des Menschen kann das Diffusions-Tensor-Imaging (DTI) zum Beispiel Nervenfaserbündel enthüllen, die von tieferen Gehirnschichten in den Cortex aufsteigen. (Abbildung: Prof. Dr. Jürgen Hennig)
Diese Fragestellung ist nun die Grundlage zukünftiger Experimente. Hennig und seine Mitarbeiter wollen zum Beispiel einzelne Schnurrhaare von Reeler-Mäusen mechanisch reizen und messen, welche Gebiete im Barrel Cortex aktiv werden. Damit können sie testen, ob die Karte in dem Gehirnareal nur verzerrt oder auch lückenhaft ist. Hilfreich wird dabei ihr Know-how im Bereich der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) sein, das Stoffwechselraten im Gehirn darstellen kann und Rückschlüsse auf elektrische Aktivität erlaubt. In den letzten Monaten haben die Forscher am Advanced Molecular Imaging Research Center (AMIR) viel Zeit damit verbracht, eine Apparatur aufzubauen, die automatisierte und computergestützte Stimulationsexperimente an ihren Mäusen erlaubt. Bald wissen sie vielleicht, wie viel Unordnung der Barrel Cortex der Nager verträgt.

mn – 04.11.08
© BIOPRO Baden-Württemberg GmbH
Weitere Informationen zum Beitrag:
Prof. Dr. Jürgen Hennig
Abteilung Röntgendiagnostik Medizin Physik
Universitätsklinik Freiburg
Hugstetter Str. 55
79106 Freiburg
Tel.: +49-(0)761/ 270-3836
Fax: +49-(0)761/ 270-3831
E-Mail: juergen.hennig@uniklinik-freiburg.de
Seiten-Adresse: https://www.gesundheitsindustrie-bw.de/fachbeitrag/aktuell/das-gehirn-die-funktion-und-die-architektur