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Die Entdeckung des Individuums als Geschäftsmodell

In der Onkologie ist der Trend zur personalisierten Medizin besonders weit fortgeschritten. Er führt zu einer engen Verflechtung von Diagnostik und Therapie und zu neuen profitablen Geschäftsmodellen mit manchmal umstrittenen exklusiven Rechtsansprüchen.

„Jeder Krebs ist anders.“ Aus der Erkenntnis, dass Tumoren oft Tausende von Mutationen aufweisen, die sich selbst innerhalb einer Krebsart erheblich unterscheiden, ist das Internationale Krebsgenomprojekt entstanden, das sich das Ziel gesetzt hat, die individuellen Mutationsprofile bei allen Tumortypen von klinischer und gesellschaftlicher Bedeutung zu analysieren. Als Konsequenz ergibt sich die Forderung, dass jeder Patient eine differenzierte, auf sein Krebsprofil zugeschnittene Therapie erhält. Auf keinem großen Indikationsgebiet ist daher das Konzept der personalisierten Medizin so weit fortgeschritten wie in der Onkologie. Voraussetzung ist eine verlässliche Diagnostik, die aufzeigt, ob und wie der Patient auf die Therapie ansprechen kann.

Roche als Vorreiter der personalisierten Medizin

Personalisierte Medizin bedeutet das Ende des Blockbuster-Konzeptes im Sinne von „Ein Medikament für alle Patienten einer Indikation.“ Sie bedeutet nicht das Ende der wirtschaftlich definierten Blockbuster-Medikamente „Mehr als eine Milliarde (Dollar) Umsatz jährlich“. Das zeigt beispielsweise der von Roche hergestellte therapeutische Antikörper Herceptin. Er war zur Behandlung von Frauen mit metastasiertem Mammakarzinom entwickelt worden, zeigte aber bei einem breiten Patientinnenkollektiv in klinischen Studien nur einen sehr geringen Überlebensvorteil. Erst als man die Therapie mit dem Antikörper (der gegen den humanen epidermalen Wachtumsfaktor-Rezeptor HER2/neu gerichtet ist) auf Personen beschränkte, bei denen das HER2-Gen im Tumor überexprimiert ist, wurde der positive Behandlungseffekt deutlich. Zur Behandlung mit Herceptin ist daher der Nachweis einer HER2-Überexpression zwingend vorgeschrieben – das gilt auch für die erweiterte, seit 2010 zugelassene Indikation des metastasierten Magenkarzinoms. Der Umsatz mit Herceptin nahm von 2008 auf 2009 von 4,7 auf geschätzte 6,5 Milliarden US$ zu. Für 2012 werden 7,3 Mrd. US$ vorhergesagt (Financial Times Deutschland, 02.10.08).

Roche Diagnostics in Mannheim © Roche

Für die in der personalisierten Medizin erforderliche Kombination von Therapie und Diagnostik sieht sich Roche bestens positioniert. Zu dem Schweizer Konzern gehört nicht nur einer der umsatzstärksten und gewinnbringendsten Pharmahersteller der Welt, sondern auch mit Roche Diagnostics der Weltmarktführer auf dem Gebiet der In-vitro-Diagnostik. Roche Diagnostics in Mannheim ist weltweit der drittgrößte Standort des ganzen Konzerns.

Konsequenter als andere große Pharma-Konzerne setzt F. Hoffmann-La Roche Ltd. auf die Personalisierte Medizin (in der eigenen Terminologie: „Personalised Healthcare", PHC) als Innovationsmotor einer sich wandelnden Gesundheitsindustrie. Forschung & Entwicklung im Pharma-Bereich und in der Diagnostik treffen sich in der Personalisierten Medizin auf gleicher (molekularer) Ebene. Das PHC-Konzept von Roche beinhaltet die enge Zusammenarbeit der Teams für die Entwicklung innovativer Medikamente und diagnostischer Tests, wie Dr. Horst Krämer, Project Leader Roche PHC Communications, erklärt. Durch den dadurch ermöglichten uneingeschränkten Informationsaustausch zwischen früher Entwicklung der pharmazeutischen Wirkstoffe und der diagnostischen Testverfahren und Technologien werden so Zeit und Kosten auf dem Weg zur klinischen Validierung und Kommerzialisierung gespart. Diese Parallelentwicklung soll an zwei Beispielen aus der Onkologie-Pipeline von Roche illustriert werden:

  • Der Tumorsuppressor p53 ist ein Schlüsselprotein für DNA-Reparatur und Zellwachstum, das auch beim Wachstum bzw. der Unterdrückung des Wachstums von Tumoren eine wichtige Rolle spielt und deshalb schon seit Jahrzehnten im Visier der Pharmaindustrie steht. Er wird durch das Onkogen MDM2 inhibiert, woraus beispielsweise bei Sarkomen, Leukämien und Brustkrebs ein verstärktes Tumorwachstum resultiert. Durch den bei Roche entwickelten MDM2-Antagonisten RG7112 kann daher p53 seine Suppressorfunktion entfalten und das Tumorwachstum verhindern. Eine wirksame Krebsbehandlung mit RG7112 setzt allerdings voraus, dass das p53-Gen nicht mutiert ist, was bei etwa 50 Prozent der Krebspatienten der Fall ist. Für den Einsatz von RG7112 ist ein Test essenziell, der die Patienten, bei denen das p53-Gen im Wildtyp vorliegt, identifizieren kann. Dafür wurde, parallel zur klinischen Entwicklung von MDM2-Antagonisten, ein AmpliChip p53-Array entwickelt, der den Mutationsstatus des p53-Gens erkennt.
     
  • BRAF ist eine Proteinkinase, die eine wichtige Rolle in dem MAP-Kinase-Signalweg für Zellteilung und Zelldifferenzierung spielt. Roche hat parallel zu einem BRAF-Inhibitor (RG7204), der sich jetzt in einer europäischen Phase-III-Zulassungsstudie zur Behandlung von fortgeschrittenem Malignem Melanom befindet, einen diagnostischen Test entwickelt, der eine Einzelmutation im BRAF-Gen (BRAFV600E) durch Polymerasekettenreaktion (RT-PCR) nachweist. Patienten, die diese Mutation im Tumor aufweisen, können von dem Wirkstoff, dessen Zulassung 2012 erwartet wird, profitieren.

Exklusive, profitable Gene

Dass die so nützliche Hinwendung zur personalisierten Medizin auch für höchst fragwürdige Geschäftsmodelle genutzt werden kann, zeigt sich am Fall der BRCA-Gene, wie ihn Helga Nowotny, Vizepräsidentin des Europäischen Forschungsrates und Prof. em. an der ETH Zürich, sowie Giuseppe Testa, Leiter des Labors für Stammzellepigenetik am Europäischen Institut für Onkologie in Mailand (Nowotny H, Testa G: Die gläsernen Gene, SV 2009) beschrieben haben.

Mary-Claire King, Professor of Genome Sciences and of Medicine, Seattle © University of Washington

Bei etwa fünf Prozent aller Brustkrebsfälle liegt eine erbliche Form vor, und für ungefähr zwei Drittel davon sind Mutationen auf zwei Genen, BRCA1 und BRCA2, verantwortlich. Das hatte in den 1990er Jahren die  amerikanische Genetikerin Mary-Claire King entdeckt.

Während King und ein internationales Wissenschaftlerkonsortium an der weiteren Erforschung der beiden Brustkrebsgene arbeiteten, sequenzierte die Firma Myriad Genetics in Salt Lake City, eine Ausgründung der University of Utah zur Erfassung der genetischen Stammbäume von Mormonenfamilien, die Gene BRCA1 und BRCA2, ließ sie patentieren und entwickelte ein diagnostisches Testverfahren zur Identifizierung der Mutationen auf diesen Genen. Die exklusive Lizenz zur Vermarktung aller aus der Entdeckung resultierenden Testverfahren für mögliche Therapien vergab Myriad an den Pharmakonzern Eli Lilly und konzentrierte sich selbst darauf, eine firmeneigene genomische Datenbank mit allen BRCA1- und BRCA2-Sequenzen von Patientinnen, die sich dem diagnostischen Test unterzogen, einzurichten. Mit massiver Werbung wurde das Testverfahren nicht nur den Ärzten, sondern auch den Frauen direkt vermittelt. So heißt es auf der Webseite des Unternehmens: „Less than 5% of people at-risk for hereditary cancer know their genetic results. Myriad provides the answer." Frauen ohne erbliche Brustkrebsinzidenz wurden sozusagen „vorbeugend" getestet und ihre Gensequenzen in die Datenbank einbezogen, die sich in eine äußerst wertvolle Ressource für die Identifizierung genetischer Varianten zur Entwicklung neuer Medikamente verwandelte und zugleich den dafür notwendigen Referenzrahmen lieferte. Unabhängige Wissenschaftler und andere Unternehmen wurden durch exklusive Eigentumsansprüche an der anwendungsorientierten Forschung am erblichen Brustkrebs blockiert. 

Gene sind keine Erfindung des Menschen

Neuerdings zeichnet sich eine Wende ab. Zu einer Klage der Public Patent Foundation und der American Civil Liberties Union of New York City gegen das US-Patentamt und Myriad Genetics veröffentlichte das US-Justizministerium am 29.10.2010 ein Gutachten, das voraussichtlich für die Biotechnologie nicht nur in den USA, sondern auch in Europa von grundlegender Bedeutung sein wird. Der entscheidende Satz in dem „amicus curiae“-Statement lautet: „Die einzigartige Kette von Basenpaaren, die eine Zelle dazu bringt, ein BRCA-Protein zu produzieren, ist keine Erfindung des Menschen.“ Mehr als ein Dutzend von Myriads Schlüsselpatenten seien ungültig, denn „isolierte DNA" sei ein Produkt der Natur und keine Erfindung.

Brustkrebszellen, Fluoreszenzmikroskopie © Lutz Langbein, DKFZ

Selbstverständlich verurteilten Patentanwälte das Statement des Justizministeriums als „absurd, verstörend und einer gesunden Patentierungspolitik abträglich". Auch die Reaktionen großer Biotech-Unternehmen in den USA fielen erwartungsgemäß negativ aus. Als ihr oberster Lobbyist verurteilte Jim Greenwood, Präsident der Biotechnology Organization (BIO), das Gutachten: „Falls diese Position des Justizministeriums rechtswirksam werden sollte, würden die globale Führung der USA und Investitionen in den Life Sciences untergraben, das Wachstum der US-Wirtschaft und ihre Wettbewerbsfähigkeit geschwächt und die Eigeninitiativen der Regierung zum Kampf gegen Krebs und zur Entwicklung erneuerbarer Rohstoffe und Energie konterkariert" (zitiert nach „Science", 01.11.2010).

Da die bisher erteilten Patente auf Gene zum ganz überwiegenden Teil bei amerikanischen Biotech/Pharma-Unternehmen und bei großen, mit der Wirtschaft eng verflochtenen Universitäten liegen, sollte der Schmerz über die neue Einstellung zur Genpatentierung bei deutschen Biotech-Unternehmen gering ausfallen. Im Gegenteil: Da das Statement nur besagt, dass natürliche Gene nicht patentierbar seien, der Rechtsschutz für Anwendungen oder Veränderungen von Gensequenzen aber keineswegs davon betroffen wäre, sollten Forschungen und Eigenentwicklungen an krankheitsassoziierten Genen nur stimuliert werden, wenn Unternehmen wie Myriad und Forschungsinstitute wie die University of Utah das nicht mehr behindern können. Wie die Wochenzeitung DIE ZEIT am 4. November 2010 schreibt: „...nun können alle Unternehmen auf der Basis eines genetischen Merkmals eigene Verfahren entwickeln... Noch ist offen, wann das US-Patentamt die Position des Justizministeriums in die Praxis umsetzt. Aber wenn das geschieht, wird der Goldrausch der Biotech-Branche nicht gestoppt, es geht erst richtig los."

Seiten-Adresse: https://www.gesundheitsindustrie-bw.de/fachbeitrag/aktuell/die-entdeckung-des-individuums-als-geschaeftsmodell