Die Lunge, das immer noch unbekannte Organ
Paul Dietl holt kurz aus, ehe er die Pointe setzt. Ja, die Lungenforschung sei traditionsreich. Ja, Atemmechanik und Struktur des Organs seien viele Jahre schon bekannt. Und ja, dass die Gase diffundieren und nicht aktiv aufgenommen werden, diese Erkenntnis habe auch schon Patina angesetzt. Beschäftigen sich die Lungenforscher nur mehr mit Details? Nichts wäre falscher, hält der Ulmer Ordinarius für Allgemeine Physiologie dagegen: „Alles Wesentliche ist unklar“.
Prof. Paul Dietl, Experte für zelluläre Lungenphysiologie.
© Paul Dietl
Vielmehr wächst der Forschungsbedarf umso schneller, je tiefer man dringt. Es sei ein Trugschluss zu glauben, man müsse nur lange genug forschen, um die wesentlichen Krankheitsursachen zu verstehen. Noch unverstanden sind nach Dietls Worten die Ursachen beim Emphysem, beim sogenannten „Lung remodeling“, bei allen chronischen, durch das Rauchen oder Schadstoffe ausgelösten Veränderungen des Organs. Dies gelte ebenso für Lungenhochdruck und manche Formen der Lungenfibrose.
Ein grundlagenorientierter Lungenforscher wie Dietl ist in seinem Fach, auch innerhalb der Fakultät, dennoch ein Exot. Obwohl die Erkenntnislücken beträchtlich sind, ist die universitäre Lungenforschung im deutschsprachigen Raum, anders als in angloamerikanischen Ländern, unterrepräsentiert. Zur Hochzeit der Tuberkulose wurde die Pulmonologie in Sanatorien ausgelagert. Geforscht wird hierzulande vor allem in den Labors der Pharmaindustrie.
Ungleich größer ist die klinische Bedeutung der Lunge, in erster Linie durch Lungenerkrankungen, in zweiter Linie im Verlauf von Herzerkrankungen oder auch bei systemischen Erkrankungen wie Autoimmunerkrankungen. In jüngster Zeit wurden hierzulande zwei klinische Forschungsstätten gegründet, doch die grundlagenorientierte Lungenforschung ist nach Dietls Einschätzung weiter unterrepräsentiert.
Spröde und verschlossen
Obendrein setzt die Lunge den Forschern enge methodische Grenzen. Nach wie vor ist es außerordentlich schwierig, in die ultrafeinen Verästelungen der Lungen zu gelangen. Der Blick in ihre feinsten Verzweigungen bleibt verwehrt. Auch die Entwicklung zellulärer Modelle, künstlicher Lungen und von Tiermodellen gestaltet sich nach Dietls Worten sehr schwierig. Überhaupt gebe es methodische Begrenzungen, an das intakte Gewebe zu kommen. Die Maus tauge wie in vielen anderen Fällen nur begrenzt als Modell, das Schwein käme eventuell in Frage, sei aber teuer.
Wird die Lunge, beispielsweise durch langjähriges Rauchen, umgebaut und ändert ihre Struktur, ist davon automatisch der Gasaustausch betroffen. Störungen in den 223-Verästelungen lassen sich nur indirekt erkennen. Diese lassen sich diagnostizieren, aber bis diese Symptome erkennbar sind, ist „schon sehr viel passiert“. Die schlechte Zugänglichkeit der Endstrukturen ist nach Dietls Worten eines der Grundprobleme in der Lungenforschung.
„Je weiter und tiefer man in die Lunge dringt, desto obskurer wird es.“ Der Ulmer Lungenforscher Dietl und seine 15-köpfige Arbeitsgruppe wollen mit ihren Arbeiten ein bisschen Licht in noch unverstandene grundlegende Regulationsmechanismen bringen. „Wichtig ist zu wissen, was man nicht weiß“, formuliert Dietl die Prämisse ihres Forschens.
Forschen an der Grenze zwischen Luft und Flüssigkeit
Ein komplexes biophysikalitsches Feld, die Grenzfläche zwischen Luft und Flüssigkeit. Unten im Bild eine Alveole, die Surfactant "austreibt".
© Paul Dietl
Komplexe Schutzmechanismen der Lunge, die mit ihren 500 Millionen Alveolen ein 140 Quadratmeter großes Einfallstor bildet, halten die Lungenbläschen offen und sorgen dafür, dass Luft ununterbrochen strömt und die Gase ausgetauscht werden. Diese Interaktionen zwischen Luft und Flüssigkeit sind nach Dietls Worten ein sehr komplexes biophysikalisches Feld, dessen zugrunde liegenden Mechanismen noch unzureichend verstanden sind.
So ist beispielsweise noch nicht geklärt, wie der Luftstrom mit jedem Atemzug gleichmäßig in alle 500 Millionen Lungenbläschen gelangt. Unbeantwortet ist beispielsweise auch, wie die Dicke der schmutzfangenden Schleimschicht der Lunge reguliert wird, auf der Schad- und Störstoffe über die Flimmerhärchen aus den Atemwegen „nach oben“ wegtransportiert werden. Dieser schützende Schleim muss auf einer Schicht von Flüssigkeit gleiten, woher aber letztere kommt und wie deren gleich bleibende Dicke reguliert wird, darüber gibt es nur Vermutungen.
Was bewirken mechanische Kräfte?
Schematische Darstellung eines Lungenbläschens, dessen Zelle gerade die Lunge geschmeidig macht durch Ausstoß des Surfactant.
© Paul Dietl
Der Forschungsschwerpunkt des Ulmer Lungenforschers lässt sich in der Grenzschicht zwischen Luft und Flüssigkeit lokalisieren und firmiert vielleicht am besten unter dem Oberbegriff der Mechanotransduktion.
In dieser Grenzschicht laufen wichtige physiologische Vorgänge ab. Einen hat Dietls Team besonders im Blick: den der Exozytose von Surfactant. Lungenzellen des Typs II produzieren und sondern diese lebenswichtige Substanz ins Lumen der Lungenbläschen ab. Das nur in der Lunge vorkommende Gemisch aus Phospholipiden und Proteinen schützt als physikalische Barriere vor Eindringlingen und es macht die Alveolen geschmeidig und dehnbar. Ist die Funktion dieser oberflächenaktiven Substanz vermindert oder gestört, droht akutes Lungenversagen (Adult respiratory distress syndrome) beispielsweise bei der künstlichen Beatmung, wenn die Zellen überdehnt werden.
Paul Dietls Arbeitsgruppe spürt einer Frage nach, die zu weit über die Lunge hinausreichenden physiologischen Grundprinzipien führt: Wie wird aus einem mechanischen Reiz eine (bio)chemische Reaktion und umgekehrt. Am Beispiel der Pneumozyten Typ II will Dietl wissen was passiert, wenn die beim Einatmen gedehnten Zellen die Freisetzung dieser wichtigen Substanz in Gang setzen. Die Substanz selber muss nach Dietls Worten eine spezielle Zusammensetzung haben, die ihre Eigenschaften in Abhängigkeit vom Radius der Alveolen ändert.
Von der Anlagerung bis zur Freisetzung
Was den Prozess der Exozytose anstößt, ist noch unklar. Über die Phasen dieses komplexen Vorgangs indessen sind sich die Lungenforscher einig.
© Paul Dietl
Mit Hilfe von Fluoreszenzfarbstoffen beobachtet der Ulmer Forscher, wie sich diese Zellen bei Dehnung verformen. Unter dem Mikroskop gelang es ihm zu beobachten, wie die Zellen diese komplexe Substanz abgeben. Über den Vorgang der Exozytose weiß die Forschung mittlerweile einiges. Hingegen ist noch weitgehend unklar, wie das mechanische Signal der Dehnung in der Zelle vermittelt wird und wie die biochemische Prozesskaskade in Gang gesetzt wird, an deren Ende der Surfactant ausgestoßen wird. Die "Elasto"-Substanz wird in großen Vesikeln, sogenannten Lamellärkörpern gespeichert. Diese Speicher müssen mit der Plasmamembran verschmelzen, damit deren Inhalt in den Alveolarraum freigesetzt wird. Diese Fusion vollzieht sich in mehreren Stufen, wobei sich eine Fusionspore ausbildet, durch die das Protein-Fett-Gemisch austritt. Die Pore selbst begrenzt das Maß der Freisetzung.
Wer setzt den ersten Impuls?
Was stößt die Exozytose an? Dietl zufolge kommen zwei Erklärungsmodelle in Frage: entweder die durch die Einatmung bedingte Dehnung der Zelle, wofür vieles spreche, oder - weniger wahrscheinlich, aber noch nicht ausgeschlossen - über den von extrazellulärem ATP aktivierten G-Protein gekoppelten P2Y-Rezeptor. Eines haben beide Hypothesen gemeinsam: zuvor muss im Zytoplasma die Kalzium-Ionen-Konzentration ansteigen; welche molekularen Maschinen diesen Anstieg veranlassen, ist hingegen noch unklar. Mehrere mögliche Kanäle, durch die Kalzium-Ionen in die Pneumozyten Typ II gelangen, werden aktuell in der Forschung diskutiert. Trotz vieler konkurrierender Erklärungsmodelle scheint ausgeschlossen, dass der Exozytose ein einziger Mechanismus oder ein einziges bioaktives Molekül zugrunde liegt.
Aktin beschleunigt den Prozess
Der Prozess der Exozytose selbst gliedert sich nach Stand der Erkenntnis in drei Schritte, die jeweils unterschiedlich kontrolliert werden. Jeder dieser Schritte kann die Freisetzung der oberflächenaktiven Substanz beeinflussen. Jüngste Versuche von Dietls Arbeitsgruppe deuten darauf hin, dass es molekulare Motoren wie das Strukturprotein Aktin braucht, die sich wie ein Mantel um die Lamellärkörper legen und die so geschaffene Einheit aus der Zelle „quetschen“.
Mit raschen Erfolgen rechnet der Forscher Dietl nicht, zu elementar sind diese Mechanismen. Doch Antworten auf diese Fragen führen nach seiner Überzeugung zu einem besseren Verständnis der Lunge und geben der Lungenforschung Mittel in die Hand, um mehr als nur Symptome weit verbreiteter Lungenkrankheiten zu kurieren.
Überblick zum Stand der Forschung:
Paul Dietl, Birgit Liss et. al. : Lamellar Body Exocytosis by Cell Stretch or Purinergic Stimulation : Possible Physiological Roles, Messengers and Mechanisms, in : Cellular Physiology and Biochemistry 2010 ; 25 ; Seiten 1-12.