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Die Mischung macht’s: Was Zellen an Nährmedien mögen

Aziz Cayli kennt CHO (chinese hamster ovary)-Zellen so gut, dass er sich nach Stationen bei Roche in Penzberg und Boehringer Ingelheim in Biberach 2005 mit CellCa in Laupheim selbstständig machte. Der Upstream-Spezialist zählt 15 Mitarbeiter und erwirtschaftete 2009 einen Umsatz von rund zwei Mio. Euro. Wir sprachen mit dem Firmengründer und Zellkulturexperten, der 1997 über den Stoffwechsel der CHO-Zellen promovierte.

Ist die CHO-Zelllinie immer noch der Standard für biopharmazeutische Produktion?

Ja. Immer noch ist das der am meisten verbreitete Zelltyp für die rekombinante Proteinproduktion mit Zellkulturen. Mittlerweile verfügen viele Unternehmen über eigene CHO-Klone, CHO-Subtypen.

Was macht die CHO-Zelle als biopharmazeutische Produktionseinheit so interessant?

Upstream-Spezialist Aziz Cayli, CellCa, Laupheim © CellCa GmbH

Dass die Industrie so viel mit CHO-Zellen arbeitet, ist eigentlich ein Zufall. Es ist aber kein Zufall, dass man mit Zellkulturen, mit Zelllinien arbeitet. Die Zelllinien, seien es BHK-, CHO-, humane oder NS0-Zellen, haben den Vorteil, dass sie Krebszellen sind und deshalb nicht wissen, dass sie sterben sollen. Solange die Umgebungsbedingungen stimmen, wachsen sie unaufhörlich weiter. Dass die Industrie heute sehr häufig CHO-Zellen verwendet, liegt daran, dass in den 60er-Jahren ein Professor namens Lawrence Chasin die CHO-Zelle etabliert und publiziert hat.

Danach stellten einige Labore Versuche mit dieser Zelle an und bauten daraus industrielle Produktionsprozesse. Andere Firmen machten sich diese Erfahrung zunutze, weil sie sahen, dass die Produktion mit der CHO-Zelle funktioniert. Das kam der konservativen Pharmawelt entgegen. Inzwischen hat man sehr viel Erfahrung mit dieser Zelle und viel Wissen über sie angesammelt. Es wäre nicht so einfach, auf eine fremde Zelle umzusteigen. Das würde Jahre, Jahrzehnte Zeit kosten.

Was braucht diese Zelle, damit sie wächst und gedeiht?

Nur im richtigen Mediummix fühlen sich Zellen wohl. © CellCa GmbH

Wir versuchen durch unsere Medien- und Prozessentwicklung die natürliche Umgebung der Zelle nachzuahmen. Durch unsere Maschinen, Medien und künstliche Bedingungen versuchen wir diese Körper- und Gewebebedingungen wieder herzustellen, damit die Zelle sich wohlfühlt, gut wächst und produziert. Was heißt das konkret? Im Tier wird die Zelle vom Blut mit allen Nährstoffen versorgt, mit Zuckern, Aminosäuren, Antioxidanzien, Vitaminen, Spurenelementen. All diese Nährstoffe versuchen wir im künstlichen Nährmedium nachzuahmen. Auch den Prozess müssen wir auf die Zelle abstellen: Im Blut hat man einen pH-Wert von 7,3 bis 7,4, ähnliche Werte versuchen wir im Bioreaktor zu halten. Im Blut gibt es gelöstes CO2, das und Ähnliches haben wir im Puffersystem und ist in den Medien enthalten. Ebenso wie die Körpertemperatur des Hamsters werden unsere Reaktoren bei 37 Grad Celsius gehalten.

Die Zellen im Gewebe werden aus dem Blut über Hämoglobin mit Sauerstoff versorgt. Wir pumpen den Sauerstoff ins Nährmedium zu den Zellen, wo er sich löst und von den Zellen aufgenommen wird. Ziel ist, diese Zelle am Leben zu halten. Solange die Zelle zufrieden ist, solange produziert sie unser Protein. Sie wird natürlich zuvor genetisch programmiert, damit sie die rekombinanten Proteine produziert.

Was waren die Meilensteine in der Entwicklung der Nährmedien?

Die ersten Nährmedien wurden in den 60er-Jahren entwickelt, kurz nach der Publikation zur CHO-Zelle. Im pragmatischen Bestreben, die natürliche Umgebung der Zelle nachzuahmen, gab man Serum dazu, weil die Zelle im Körper mit Blut, also auch Serum, versorgt wurde. Anfangs nahm man sehr hohe Serumanteile für die Medien, zehn Prozent und mehr waren die Regel. Im Serum befinden sich neben vielen Nährstoffen auch viele Schutzfaktoren, Proteine und Wachstumsfaktoren, so dass die Zellen zu wachsen begannen.

Im Laufe der Zeit stellte man fest, dass das Serum teuer ist. Hinzu kamen neue zellbiologische Erkenntnisse, so dass der Serumgehalt reduziert wurde. Zu meiner Zeit als Doktorand Ende der 90er-Jahre setzte man gewöhnlich zwei Prozent Serum zu. Bald erkannte man, dass solche tierischen Bestandteile das Risiko viraler Kontaminanten wie Prionen in sich tragen. Daher war man bestrebt, Serum komplett aus den Medien weg zu lassen.

Serum wurde untragbar?

Ja. Anfang der 90er-Jahre gab es großen Druck der Behörden, diese tierischen Bestandteile aus den Medien zu verbannen. Es folgten große Anstrengungen, zumeist in Firmen. Als das Serum wegfiel, starben die Zellen zwar nicht, wuchsen aber langsamer.

Gab es Ersatz für das Serum?

Um die Produktivitätseinbußen auszugleichen, setzte man dem Medium pflanzliche Bestandteile zu, die keine viralen Kontaminationsrisiken mitbringen. Üblicherweise gab man Sojapepton (Sojabohnenpepton) in Form von hydrolysierten Proteinen aus Soja und Peptide ins Medium. Viele Unternehmen verfahren heute noch so. Dieser Serum-Ersatz brachte aber das Problem der Nichtreproduzierbarkeit mit sich, weil diese pflanzlichen Peptone nie dieselbe biochemische Zusammensetzung aufwiesen.

Und das missfiel den Aufsichtsbehörden…

Es entstand wieder Druck, anstelle dieser pflanzlichen Stoffe vollständig chemisch definierte Medien zu verwenden. Heute gibt es viele moderne Medien wie auch die unsrigen. Aber auch das hat Forschung gekostet, um so weit zu kommen, um zu wissen, warum ein Sojabohnenpepton gut für das Zellenwachstum ist. Erst dann konnte man diesen Mechanismus chemisch nachbauen.

Ich habe jetzt die Entwicklung grob skizziert. Allerdings gab es sehr viele kleine Schritte wie Rekombinanten-Proteine, wachstumsfördernde Proteine im Serum. Diese Proteine hat man isoliert und rekombinant in E. coli hergestellt und dann ins Nährmedium gegeben. Das ist heute noch Standard. Das war sozusagen die regulatorische Entwicklung der Medien über die Jahrzehnte.

Und der heutige Wissensstand?

Diese Frage ist sehr einfach zu beantworten: Entscheidend ist die Balance, das Verhältnis der Zusammensetzung der Nährstoffe zueinander. In internationalen Gremien werde ich oft nach dem Geheimnis dieses Nährstoffcocktails gefragt. Die Antwort ist: Wir haben nichts Neues, wir haben nur ein anderes Verhältnis der Nährstoffe zueinander. Wir haben nur die 66 einzelnen Chemikalien eines Nährmediums anders balanciert. Deren Verhältnis zueinander ist wichtig für gute Produktivität.

Sind solche Verbesserungen dem wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt geschuldet oder passiert dies in einem Trial-and-Error-Verfahren?

Beides trifft zu. Wir kennen zahlreiche biochemische Wege, aber verstehen davon vielleicht die Hälfte. Die zweite Hälfte erschließen wir über Versuch und Irrtum. Das ist ein iterativer Prozess, der Monate und Jahre dauern kann.

Was muss man über die Zelle als Produktionseinheit wissen?

Bestimmung des pH-Wertes einer Nährlösung. © CellCa GmbH

Will man eine Zelle als Produktionsstätte verwenden, muss man unbedingt wissen, ob diese genetisch stabil bleibt. Die Zelle ist ja zuvor genetisch programmiert worden, um ein bestimmtes pharmazeutisches Protein zu produzieren. Manche Klone sind genetisch instabil, obwohl das Gen im Chromosom bereits integriert ist. Wenn die Zelle anfängt zu wachsen, wird das Gen abgeschaltet oder aus dem Chromosom deletiert. Das heißt, die Zelle wächst zwar immer noch, produziert aber nicht mehr das gewünschte Protein. Das wäre die Katastrophe. Bevor man einen Klon zur Produktion verwendet, muss man wissen, dass dieser für einen bestimmten Zeitraum, beispielsweise sieben Wochen, genetisch stabil ist.

Zweitens muss man wissen, ob sich diese Zelle für einen Scale-up eignet. Zwar machen wir viele Experimente im kleinen Maßstab von 1-  oder 3-Liter-Reaktoren, aber produziert wird in großen Tanks von 1.000 oder 10.000 Litern. Die Zelle muss deshalb eine gewisse Stabilität und Robustheit haben, um auch im großen Maßstab zu wachsen. Sie muss beispielsweise bestimmte Scherkräfte im Reaktor aushalten.

Drittens muss die Produktionszelle die Fähigkeit zur Glykosilierung mitbringen, die das produzierte Protein mit bestimmten Charakteristika ausstattet, die das Molekül in einen biologisch aktiven Zustand versetzt.

Viertens muss die Zelle frei von pathogenen Kontaminanten wie Viren sein.

All diese Fragen müssen schon bei der Klonauswahl zur Zufriedenheit beantwortet werden. Das Thema ist komplex. Ich habe lediglich die vier wichtigsten Punkte genannt. 

Angesichts stetig wachsender Ausbeuten – gibt es noch Verbesserungen beim Upstream, die ökonomisch sinnvoll sind oder ist der Upstream an sein natürliches Entwicklungsende gelangt?

Ja, das ist er eigentlich. Es gibt keine große Veranlassung, die Produktivität dort zu steigern. Wir sind heute in der Lage, solche Prozesse mit zehn Gramm Antikörpern pro Liter zu designen.

Ich will folgende Rechnung aufmachen: Stellen wir uns einen 1.000-Liter-Reaktor vor, in dem ein Lauf gefahren wird. Nach drei Wochen hätte man zehn Kilogramm Protein produziert. Für klinische Studien der Phase Eins braucht man vielleicht ein Kilogramm, für die zweite Phase drei Kilogramm und für die Phase drei vielleicht fünf Kilogramm. Mit einem Lauf verfügt man also beinahe über das gesamte Material zur Durchführung aller klinischen Prüfungen. Diese können sechs, sieben Jahre dauern.

Für die spätere Routine-Produktion gilt dasselbe: Früher gab es Blockbuster-Proteine, wovon man 100 Kilogramm pro Jahr für die Versorgung des Weltmarktes benötigte. Das würde zehn Läufe im 1.000-Liter-Maßstab bedeuten oder gerade mal einen Lauf in einem 10.000-Liter-Reaktor. Kurz: Eine weitere Erhöhung der Produktivität ist nicht mehr wirtschaftlich. Die gesamte Prozesskette einschließlich Aufreinigung muss aufeinander abgestimmt sein.

Wie schätzen Sie die Entwicklung der Nährmedien und Supplemente ein?

Der Trend ist das, was wir heute haben: hundertprozentig chemisch definierte, also synthetisch hergestellte und fein aufeinander austarierte Komponenten. Dazu braucht es keine teuren und komplizierten rekombinanten Proteine. Wir haben gezeigt, dass die Zellen diese komplexen Proteine nicht benötigen.

Was ist Ihr Ziel als Nährmedienspezialist?

Ich träume davon, mit einem bestimmten Nährmediencocktail eine andere Produktqualität zu erzielen. Ich glaube, dass man durch Nährmedien die Produktqualität, also die Proteincharakteristika verschieben kann. Es gibt einige Firmen mit guten Ansätzen. Das ist die Zukunft.

Könnten Sie Ihren Traum an einem Beispiel veranschaulichen?

Ich denke an die Glykosilierung. Dadurch, dass ich der Zelle einen bestimmten Cocktail an Nährstoffen verabreiche, lässt sich das Glykosilierungsprofil des Proteins verändern. Ein Protein besteht aus Peptiden, aus einem Aminosäuregerüst. Auf diesem Gerüst stehen Zuckermoleküle, die manchmal vollständig, manchmal unvollständig sind, manchmal zwei, manchmal drei ‚Äste’ aufweisen. Diese Zuckermoleküle haben große Bedeutsamkeit für die Wirksamkeit der Proteine und ihre Halbwertszeit im Blut. Wenn man durch die Zusammensetzung der Nährmedien die Verteilung der Zuckermoleküle der Proteine verändern könnte, wäre das traumhaft. Wir greifen also in den Zellmetabolismus ein.

Man hat den Metabolismus der Zelle also schon wieder ein Stück weit besser verstanden?

Korrekt. Unsere bisherige Arbeit war auf Masse abgestellt. Es ging darum, wie die Zelle noch mehr Masse produzieren kann. Die Berliner Firma Glycotope beispielsweise geht in eine andere Richtung, das produzierte Protein in einer bestimmten Form zu produzieren, dass es ein bisschen anders glykosiliert ist. Das funktioniert nur, wenn man den Stoffwechsel der Glykosilierung besser verstanden hat.

Welche Wissenslücken bei der Produktionseinheit CHO-Zelle sollten Ihrer Ansicht nach geschlossen werden?

Die Protein-Glykosilierung. Das rekombinante Protein, das von den Zellen produziert wird, in vordefinierter Qualität produzieren zu lassen – das ist die Herausforderung. Alle anderen Probleme wie Scale-up, Stoffwechselbeiprodukte und Produktivität sind gelöst. Ungelöst und noch nicht richtig verstanden hingegen ist die posttranslationale Modifikation des Moleküls. Wüsste man das, könnte kann man die Eigenschaften des zu produzierenden Moleküls gezielt und bewusst verändern. Zwar gibt es punktuelle Antworten zu bestimmten Fragen, aber generell verstanden ist das Problem noch nicht.

Ein lösbares Problem?

Ich denke ja, wenn man genug Zeit und Geld mitbringt.

Zeichnen sich neue Zelllinien für neue Produktklassen ab?

Die gibt es schon. Es sind humane Zelllinien, die man zum Beispiel dem Retinagewebe entnimmt. Die Idee dahinter ist relativ einfach: Warum nicht das glykosilierte Protein, das im Menschen angewandt wird, von einer humanen anstatt einer tierischen Zelle produzieren lassen, die dann humane Proteinqualität aufweisen würde.

Die Fragen stellte Walter Pytlik, BioRegionUlm.

Seiten-Adresse: https://www.gesundheitsindustrie-bw.de/fachbeitrag/aktuell/die-mischung-macht-s-was-zellen-an-naehrmedien-moegen