Die Nationale Kohorte: Datensammlung für eine gesündere Zukunft
Mit einer riesigen Langzeitstudie soll für die großen Volkskrankheiten in Deutschland - vor allem Krebs, koronare Herzerkrankungen, Schlaganfall und Diabetes - aufgeklärt werden, welche Risikofaktoren die Entstehung und den Verlauf dieser Krankheiten hervorrufen oder begünstigen. Die Nationale Kohorte soll die Voraussetzungen schaffen, neue und zielgenaue Strategien zur Prävention, Vorhersage und Früherkennung dieser Krankheiten zu entwickeln.
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Standorte der Studienzentren der Nationalen Kohorte.
© BMBF
Epidemiologische Studien haben schon seit vielen Jahren Hinweise erbracht, dass Ernährung, Lebensweise und andere Umweltfaktoren großen Einfluss auf die Entwicklung der häufigsten chronischen Krankheiten und die Zahl der durch sie bedingten Todesfälle haben. In den meisten Fällen handelte es sich dabei um „Fall-Kontroll-Studien“, in denen Personen zum Zeitpunkt der Krankheitsdiagnose oder nach einer Therapie über ihr Verhalten in der Vergangenheit befragt worden sind. Derartige Angaben sind unter anderem durch fehlende und lückenhafte Erinnerungen oder wissentliche Falschangaben mit großen Unsicherheiten behaftet.
Diese Probleme können durch „prospektive Kohortenstudien“ wesentlich verringert werden. Dabei wird eine definierte Bevölkerungsgruppe – eine Kohorte – über einen längeren Zeitpunkt hinweg begleitet und es wird registriert, ob und wann bei den beteiligten Personen solche Krankheiten auftreten. Über die Probanden werden zu Beginn und im Verlauf der Studie Informationen gesammelt. Je mehr Daten man hat, umso besser - durch Befragungen, medizinische Untersuchungen und Probenentnahmen, die man analysieren und in Beziehung zum Auftreten der Krankheiten setzen kann.
Prof. Dr. Rudolf Kaaks
© DKFZ
Nach mehrjähriger Planungs- und Vorbereitungszeit sowie einer einjährigen Pilotstudie hat im Frühjahr 2014 die größte, aufwendigste und teuerste epidemiologische Studie begonnen, die in Deutschland jemals aufgelegt worden ist: die Nationale Kohorte (NatKo), eine bevölkerungsbezogene prospektive Studie an 200.000 Männern und Frauen im Alter zwischen 20 und 69 Jahren. Mit ihr sollen die Ursachen und die Entwicklung der großen Volkskrankheiten, ihre Früherkennung und Prävention erforscht werden. An dem riesigen Verbundprojekt beteiligen sich neben vier Helmholtz-Zentren und vier Leibniz-Instituten auch vierzehn Universitäten, die zusammen achtzehn über ganz Deutschland verteilte Studienzentren gebildet haben, an denen die Untersuchungen durchgeführt, verarbeitet und nachverfolgt werden. Für die kommenden zehn Jahre stellen Bund, Länder und die Helmholtz-Gemeinschaft der Großforschungszentren dafür 210 Millionen Euro zur Verfügung. Die Studie selbst, mit Nachbeobachtung der Probanden, soll bis zum Jahr 2042 laufen. Die wissenschaftliche Leitung hat der vierköpfige Vorstand des Nationale Kohorte e.V., darunter Prof. Dr. Rudolf Kaaks, Leiter der Abteilung Krebsepidemiologie am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg. Administration und Geschäftsführung der Megastudie befinden sich ebenfalls am DKFZ.
Brauchen wir diese Megastudie?
Mehr als zwei Drittel aller Todesfälle in Deutschland gehen auf das Konto von Krebs, koronaren Herzkrankheiten (Herzinfarkt), Schlaganfall und den Komplikationen von Diabetes. Es gibt zahllose Hinweise, dass neben genetischen Faktoren auch Umwelt und Lebensstil - wie zum Beispiel Ernährung, körperliche Aktivitäten, Alkoholkonsum und Rauchen, psychosozialer Stress, frühere Infektionskrankheiten und chronische Entzündungen - eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung dieser großen Volkskrankheiten spielen können. Auch bei neurodegenerativen und neuropsychiatrischen Krankheiten wie Demenz und Depression, Erkrankungen der Atemwege wie COPD und Asthma und bei Infektionskrankheiten sind solche Faktoren wahrscheinlich beteiligt.
Biomarker-Analyse mit Hilfe von Microarrays
© DKFZ
Welche Faktoren aber am wichtigsten sind, ist unklar. „Wir wollen besser verstehen, wie diese Krankheiten entstehen und wie man ihnen vorbeugen und sich schützen kann“, erklärte Rudolf Kaaks. „Seit Jahren gibt es die Debatten: Soll man weniger rotes Fleisch essen oder ist es wichtig, sich zu bewegen, viel Obst und Gemüse zu essen, usw.“ In der NatKo geht es darum, von einer Zufallsstichprobe der Gesamtbevölkerung viele Informationen aus Untersuchungen und Befragungen sowie biologische Proben pseudonymisiert zu speichern und später zu sehen, wer von welchen Krankheiten betroffen ist und wer nicht. Dann können die Epidemiologen aus den Daten und Proben von früher die Faktoren, die möglicherweise zu bestimmten Krankheiten geführt haben, erkennen und sie miteinander vergleichen.
Zwar laufen in Deutschland schon einige große Kohortenstudien, aber diese sind regional beschränkt, unabhängig voneinander geplant und gestaltet und meist auf bestimmte Krankheitstypen zugeschnitten. Nur ein Teil der dabei gesammelten Daten kann für eine zusammengeführte Datenanalyse verwendet werden. Die meisten prospektiven Studien umfassen hauptsächlich ältere Personen und können nicht zur Untersuchung von Krankheitsentwicklungen in jüngeren Jahren herangezogen werden. Bei der europäischen Langzeitstudie EPIC (European Prospective Investigation into Cancer and Nutrition), an der die Epidemiologie des DKFZ in Heidelberg auch beteiligt ist, liegt der Altersdurchschnitt beispielsweise bei über sechzig Jahren.
Das Untersuchungsprogramm
In den USA, Schweden, Großbritannien und anderen Ländern sind bereits große Kohortenstudien aufgelegt worden. Die NatKo wird in ihrem Design an die vergleichbaren internationalen Projekte angelehnt, soll sie an Aussagekraft aber noch übertreffen. Um die vorgesehene Teilnehmerzahl zu rekrutieren, werden 400.000 Personen angeschrieben. Alle 200.000 Probanden der Studie erhalten eine Basisuntersuchung mit Interviews, Fragebögen, körperlichen Untersuchungen und Tests der kognitiven Funktion. Von jedem Probanden werden Bioproben entnommen und hundert Aliquots gesammelt (von Serum, Blut, Plasma, Erythrozyten, DNA, RNA, lebenden Zellen, Urin, Speichel, Nasenabstrich und Stuhl). Insgesamt sind das 20 Millionen Aliquots, die in einer zentralen Biobank (dem Biorepository) aufbewahrt werden; dazu gibt es eine dezentrale Backup-Lagerung. Für auftretende Krebserkrankungen ist die systematische Sammlung von Tumorgewebe vorgesehen, das in einer zentralen Tumorbank am DKFZ gelagert wird. Nach fünf Jahren wird bei allen Studienteilnehmern eine Folgeuntersuchung durchgeführt; in den Jahren danach erfolgt das Follow-up über Fragebögen und die Verknüpfung mit Registern.
Follow-up über den Fragebogen.
© EPIC-Studie
Bei jedem fünften Probanden wird außerdem eine Magnetresonanztomografie (MRT) durchgeführt – eine Herz- und Gehirn-MRT und sogar eine Ganzkörper-MRT. „Diese Untersuchungstiefe ist in einer so großen Studie weltweit einmalig“, betonte Kaaks und erklärte, dass sowohl die biologischen Proben als auch die bildgebenden Verfahren später zu Vergleichen herangezogen werden können, die sich heute noch gar nicht genau benennen lassen. Die Biobank wird so differenziert wie möglich aufgebaut, um sie in Zukunft für eine Vielzahl unterschiedlicher Fragestellungen nutzbar zu machen. Das Datensammeln sei eigentlich nur der erste Schritt, wie der Vorstandsvorsitzende der Nationalen Kohorte, Prof. Dr. Karl-Heinz Jöckel vom Universitätsklinikum Essen darlegte. Hier wird zunächst eine aufwendige neue Infrastruktur für die medizinische Forschung geschaffen; erst danach kommen die Auswertung und die Forschung mit den Daten.
Neben der Aufklärung von Ursachen chronischer Erkrankungen und der Identifizierung von Krankheitsrisikofaktoren gehört die Evaluierung von Biomarkern als Hilfsmittel zur Früherkennung von chronischen Krankheiten zu den Hauptaufgaben der NatKo. Kaaks und seine Kollegen wollen zudem Risikovorhersagemodelle für diese Erkrankungen entwickeln. Aus ihnen könnten auch personalisierte Präventionsstrategien abgeleitet werden, zum Beispiel bei welchen Personen eine häufigere Vorsorge angeraten ist und bei wem nicht.
Unbegründete Sorge um Big-Data-Sammelwut
Das Datensammeln im großen Stil in der NatKo hat auch Kritik und Misstrauen hervorgerufen, die gerade jetzt in einer durch den NSA-Skandal sensibilisierten Öffentlichkeit mit „Big Data“ in Verbindung gebracht werden. Die Erhebung umfangreicher patientenbezogener Daten, ihre mögliche Verknüpfung mit anderen Dateien und die Speicherung auf Servern, die womöglich von Hackern geknackt werden, weckt Befürchtungen vor dem „gläsernen Menschen“, der Bevormundung individueller Lebensweisen durch Staat und Gesellschaft und vor dem Datenmissbrauch für kommerzielle Zwecke.
Prof. Dr. Iris Pigeot, Direktorin des Leibniz-Instituts für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen, die an der Planung und Durchführung der NatKo wesentlich beteiligt ist, widerspricht leidenschaftlich der Meinung, dass es sich hier um „Big Data“ handelt wie bei Facebook, Google, Twitter und Co. Dort werden Daten von Personen erhoben und gespeichert, ohne dass diese davon etwas wissen; sie wissen auch nicht, was mit den Daten gemacht wird und wofür sie benutzt werden (Werbung, Verkauf etc.). Eine statistische wissenschaftliche Auswertung in den Studien ist mit einer solchen kommerziellen Ausschlachtung überhaupt nicht zu vergleichen.
Bei der NatKo, die in keiner Weise mit medizinischen Unternehmen verbunden ist, hat jeder Proband seine explizite Einwilligung zur Sammlung der Daten gegeben; er weiß, was mit ihnen geschieht und wofür sie ausschließlich benutzt werden. Die gesammelten Daten werden zielorientiert auch mit anderen Daten verknüpft - jedoch nur, wenn der Proband darüber umfangreich informiert wurde und der Verknüpfung zugestimmt hat.
Die Daten der NatKo werden zwar personenbezogen erhoben, aber pseudonymisiert und nicht personenbezogen auf den Servern gespeichert; der Schlüssel zur Identifizierung der Personen liegt bei einer unabhängigen Treuhandstelle. Die Leiter der Studie betonen auch, dass alle Erhebungen von den Ethikkommissionen des Bundes und der Länder genehmigt worden sind und in Zusammenarbeit mit den Datenschutzbeauftragten durchgeführt werden. Vor der Teilnahme muss der Proband erklären, ob er informiert werden will oder nicht, falls die Untersuchungen relevante Zufallsbefunde ergeben. Für den Fall, dass ein lebensbedrohender Befund festgestellt wird, über den der Arzt verpflichtet ist zu berichten, muss der Proband seine Zustimmung geben, anderenfalls kann er nicht an der Kohorte teilnehmen.
Allen Probanden sollte vor ihrer Teilnahme an der Studie klar sein, dass die Nationale Kohorte keine medizinische Versorgungsstudie ist, in der es um Therapieoptionen geht, und dass keine Diagnosen gestellt werden. Die größte prospektive Kohortenstudie Deutschlands ist eine Investition in die Zukunft. Sie wird wichtige Erkenntnisse und Sicherheiten über die Ursachen der großen Volkskrankheiten liefern und schafft damit die Voraussetzungen für neue, zielgenaue Strategien zu ihrer Prävention, Vorhersage und Früherkennung, um eine gesündere Zukunft der Gesellschaft zu ermöglichen.
Publikation:
Wichmann H-E, Kaaks R, Hoffmann W, Jöckel K-H, Greiser KH, Linseisen J: Die Nationale Kohorte. Bundesgesundheitsbl. 55: 781-789 (2012)