Die Welt der EU-Projekte – aus Gutachtersicht
Forschungsförderung ist eine Wissenschaft für sich, die sich auf EU-Ebene besonders komplex präsentiert. Wie die Dinge beim europäischen Marie-Curie-Programm in der Sparte „People“ und dort in den Life Sciences ablaufen, erzählen aus Gutachtersicht zwei Wissenschaftler aus der BioRegion STERN. Sie geben Einblick in ihre Arbeit und sagen, worauf es für Antragsteller ankommt.
Prof. Dr. Elke Guenther
© NMI
Seit 2007 kümmert sich Prof. Dr. Elke Guenther als Vice-Chair um Gutachten zu Life-Science-Anträgen im Marie-Curie-Programm/People, das Bestandteil des 7. Europäischen Forschungsrahmenprogrammes ist. Zuvor war sie im 5. und im 6. Rahmenprogramm bereits Gutachterin, „in verschiedenen Programmen, aber immer in den Life Sciences", wie sie sagt. Damit hat Guenther mehr als zehn Jahre Erfahrung mit internationalen Anträgen - Erfahrung, die ihr natürlich auch selbst zugute kommt, wenn sie Forschungsanträge schreibt. Die Elektrophysiologin ist Leiterin des Fachbereichs Zellbiologie am Naturwissenschaftlichen und Medizinischen Institut NMI in Reutlingen und Leiterin der Pharmaservices der NMI TT GmbH. Daneben ist sie im derzeitigen Förderprogramm der EU für die Koordination von Gutachten und Gutachtern verantwortlich. Mehr als eine Aufwandsentschädigung und Spesen für die notwendigen Reisen nach Brüssel erhält sie dafür nicht.
Das gilt auch für Prof. Dr. Konrad Kohler, einen der drei Leiter des Zentrums für Regenerationsbiologie und Regenerative Medizin ZRM an der Uni Tübingen. Er ist seit drei Jahren Gutachter im Marie-Curie-Programm/People und zwar ebenfalls im Bereich Life Sciences. Was motiviert Gutachter zu ihrer durchaus arbeitsintensiven Tätigkeit? „Wir bekommen einen guten Überblick, was in den Life Sciences forschungsaktuell ist. Gutachter erhalten die Gesamtliste aller Abstracts der eingereichten Anträge. Thematisch reicht das zum Beispiel von botanischen Kartierungen im Dschungel bis zur Molekulargenetik. Häufungen fallen dann natürlich auf, und so lassen sich Trends abschätzen", sagt Kohler.
Ein aktueller Forschungs-Überblick ist der Benefit für Gutachter
Wer welche Projekte zur Begutachtung erhält, hängt davon ab, wo der Gutachter selbst wissenschaftlich verortet ist. „Die Expertise ist eng gesteckt“, sagt Guenther und klärt in diesem Zusammenhang auf, wie man überhaupt Gutachter wird: „Es gibt eine frei zugängliche Datenbank der EU, in der sich jeder Wissenschaftler mit seiner Expertise eintragen kann. Wenn ein neues Programm aufgelegt wird, sichten die Verantwortlichen die Liste und fragen passende Wissenschaftler an. Darüber hinaus haben Gutachter auch die Möglichkeit, ihrerseits Experten zu empfehlen, was jedoch nicht bedeutet, dass diese dann auch automatisch angefragt werden.“
Im Idealfall setzen sich die Mitglieder der Gutachter-Kommission aus allen Ländern der EU zusammen und es sind ähnlich viele Frauen wie Männer vertreten. „Es gibt zwar keine offiziellen Quoten, aber es wird darauf geachtet, dass die Geschlechter und alle Mitgliedsländer möglichst proportional vertreten sind“, sagt Kohler. Die für ein bestimmtes Programm zuständige Kommission an Gutachtern und Vice Chairs wird jedes Jahr neu zusammengestellt und ein gewisser Prozentsatz der Gutachter wird ausgetauscht – „damit nicht jeder stets das gleiche begutachtet“, so Guenther. Jeder Gutachter bekommt rund 20 Anträge pro Ausschreibungsrunde. Allein im letzten Jahr gab es im Bereich People/Life Sciences insgesamt etwa 1.200 Anträge, erinnert sich Guenther.
Ist man durch die EU als Gutachter für ein bestimmtes Programm berufen worden, erhält man noch die Möglichkeit, das Themenspektrum und die Auswahl der Anträge entsprechend der eigenen Expertise über Stichwort-Matching einzugrenzen. Schlussendlich bearbeiten mindestens drei Gutachter einen Antrag. Das Forschungsvorhaben wird dann von jedem der Gutachter nach genau festgelegten Regeln benotet. Die Notenskala reicht von 0 bis 5, die beste Note ist die 5. Das Schwierige an der Sache: Bei der abschließenden Bewertung müssen sich alle Gutachter einig werden und sich auf ein Zehntel genau auf eine gemeinsame Endnote festlegen. Falls sich diese drei hierbei nicht einigen können, wird ein weiterer Gutachter hinzugezogen, wobei es dann gelegentlich vorkommen kann, dass fünf oder sogar mehr Gutachter mit einem Antrag beschäftigt sind, wie Guenther sagt. Die Abschluss-Bewertungen werden in der Regel ein bis zwei Mal pro Jahr in einer aufwändigen einwöchigen Prozedur in Brüssel vorgenommen. Das zu planen und den Prozess zu steuern, ist eine der zeitintensivsten Aufgaben der Vice Chairs. „Im Vorfeld müssen wir zuordnen, welche Gutachter wie viele und welche Anträge bekommen. Das letzte Mal war ich für 15 Gutachter zuständig, habe sie aus der Ferne informiert und beraten. Vor Ort begleiten wir dann den gesamten Prozess. Wenn zum Beispiel über eine Note keine Einigkeit erzielt werden kann, können wir moderierend eingreifen“, so Guenther.
Die Brüsseler Woche – ein Begutachtungs-Marathon
Prof. Dr. Konrad Kohler
© ZRM Tübingen
Auch für die Gutachter hält die Brüsseler Woche harte 12-Stunden-Tage bereit. „Die EU-Administration mietet extra Räumlichkeiten an. Über mehrere Stockwerke verteilt bekommt jeder Gutachter eine Bürobox mit einem eigenen Arbeitsplatz, PC und Intranet. Die ganze Woche hindurch finden halbstündige Consensus-Meetings statt, bei denen jeder Antrag durchgegangen und besprochen wird. Am Ende wird ein Consensus-Report verfasst, den auch die Antragsteller bekommen, und es muss einvernehmlich eine Gesamt-Endnote festgelegt werden", erklärt Kohler. Alle Reports werden dann von den Vice Chairs gelesen. „Wir überprüfen, ob alles formal in Ordnung ist und zum Beispiel auch den ethischen Normen entspricht. Auf der vorliegenden Notenbasis werden dann Ranglisten erstellt", sagt Guenther. Selbstverständlich sind alle Gutachten und Diskussionen darüber streng vertraulich, es dürfen keinerlei Notizen nach außen gelangen und alle Unterlagen werden nach der Brüsseler Woche vernichtet.
Welcher Antrag gefördert wird, hängt dann von seiner Position im Ranking ab. „Der Schlussstrich für die Anzahl der geförderten Anträge richtet sich nach der Geldsumme, die insgesamt zur Verfügung steht. Das heißt, es kann sein, dass ein gutes Projekt nicht gefördert werden kann, weil es zu viele sehr gute gibt", stellt Guenther klar. „Die sehr guten Projekte werden immer mehr, das Spitzenfeld wird dichter. Es kommt hier zunehmend auf Nuancen an", sagt Kohler. Beide sind sich einig, dass das auch daran liegt, dass Antragsteller immer professioneller unterstützt werden, an Universitäten zum Beispiel von EU-Koordinationsstellen, die zunehmend eingerichtet werden. Auch sprachlich würden die Anträge immer besser, stellen beide übereinstimmend fest.
Grundsätzlich kann jeder Antrag in jeder Sprache eingereicht werden, die in der EU offiziell gesprochen wird. Allerdings empfiehlt es sich, den Antrag auf Englisch zu stellen, schon allein, weil Englisch die allgemein anerkannte Wissenschaftssprache ist. Kohler führt ein weiteres wichtiges Argument an: „Neben dem wissenschaftlichen Wert des Antrags, der Expertise des Antragstellers und der des Gastgebers ist es ein ebenso wichtiges Bewertungskriterium, wie gut sich der Antrag in die EU-Forschungslandschaft eingliedert. Und dabei spielt es schon eine Rolle, ob der Antrag auf Englisch verfasst und damit international präsentabel ist. Das kann zum entscheidenden Zehntel der Gesamtnote führen."
Entscheidend: Mehrwert für die EU herausarbeiten
Damit ist ein Aspekt angesprochen, der zu den häufigsten Antragsschwächen zählt, wie Guenther und Kohler aus Erfahrung wissen. Denn es geht nicht nur darum, ob das Vorhaben ein herausragendes wissenschaftliches Projekt ist. „Die anderen Fragenkomplexe haben eine ebenso hohe Wertigkeit, werden von Antragstellern aber nicht unbedingt mit der gleichen Energie angegangen, weil sie eben nicht wissenschaftlich sind“, sagt Kohler. Daraus resultiert die Empfehlung, sorgfältig herauszuarbeiten, was die Gastinstitution und ihr Umfeld bieten. „Der Antragsteller sollte sich sehr gut mit dem Gastlabor abstimmen und darstellen, was er dort nicht nur an neuen wissenschaftlichen Verfahren und Techniken lernt, sondern wie er darüber hinaus von dem Austausch profitiert, welche Sprachen er zum Beispiel vor Ort lernen und welche fachübergreifenden Qualifikationen, sogenannte Soft Skills, er erwerben kann; auch wie ihn die Institution zum Beispiel bei der Wohnungssuche unterstützt und ob es, wenn nötig, Kita-Plätze gibt“, so Guenther.
„Eine ganz wesentliche Frage ist die nach dem europäischen Mehrwert: Wie profitiert die EU davon, dass in dem Forschungsvorhaben Ideen ausgetauscht und Forscher vernetzt werden? Je genauer der Antragsteller belegt, wie er diesen Mehrwert erreicht, umso aussichtsreicher ist sein Antrag. Ein Plus kann auch sein, dass er bereits Kontakte im Umfeld der Gast-Institution aufgebaut hat. Man hebt sich von der Masse ab, wenn man diesen Teil sehr ernst nimmt“, betont Kohler, und Guenther ergänzt: „Es sind schon exzellente Labors ausgeschieden, weil es nicht gelang, das Umfeld überzeugend darzustellen.“ Natürlich wird kein Antragsteller davon abgehalten, hinzu zu lernen. „Jeder hat unlimitierte Chancen. Man kann abgelehnte Anträge anhand des Rapports verbessern und beim nächsten Mal wieder einreichen“, so Kohler.
Die Zielgruppe für „Marie-Curie-Actions/People"
Ziel dieses Programms ist die „quantitative und qualitative Stärkung des Humanpotenzials in Forschung und Technologie in Europa". Europäische Forscher sollen motiviert werden, in Europa zu bleiben, und die weltweit besten Forscher sollen durch Spitzenforschung und einzigartige Forschungsinfrastrukturen nach Europa gezogen werden.
Grundsätzlich sind Menschen aller Einrichtungen angesprochen, die in Forschung oder Forschungsausbildung aktiv sind, neben Hochschulen also auch öffentliche und private Forschungseinrichtungen und Unternehmen - inklusive KMU (kleine und mittlere Unternehmen).