DNA-Fängermolekül für Zellen gesucht
Künstliche Blutgefäße aus speziellen Kunststoffen sind längst keine Utopie mehr. Der Knackpunkt: Die Implantate müssen auch gewebeverträglich sein. Eine Lösung wäre, dem Körper vorzugaukeln, es seien echte, indem die Innenseite dieser Blutgefäße mit patienteneigenen Zellen ausgekleidet wird. Um Fängermoleküle für solche Zellen zu finden, haben Reutlinger Forscher einen Mikrofluidikchip entwickelt. Diese Fänger sollen später direkt im Patienten Vorläuferzellen der Gefäßwand aus dessen Blut herausfischen und an das Implantat binden.
Das Team um Britta Hagmeyer und Martin Stelzle vom NMI hat einen Mikrofluidikchip für zellspezifische Aptamere entwickelt.
© Helmine Braitmaier
„Wenn Blut mit künstlichen Oberflächen von Implantaten in Berührung kommt, können sich Blutgerinnsel bilden", erzählt Dr. Martin Stelzle. Der Physiker leitet die Arbeitsgruppe Bio-Mikroelektromechanische Systeme (BioMEMS) am Naturwissenschaftlichen und Medizinischen Institut an der Universität Tübingen (NMI) mit Sitz in Reutlingen. Stelzles Tübinger Kollegen um Prof. Dr. Hans Peter Wendel von der Universitätsklinik für Thorax-, Herz- und Gefäßchirurgie hatten daher die Idee, künstliche Blutgefäße innen mit Molekülen zu beschichten, die bestimmte im Blut zirkulierende Stammzellen der Patienten abfangen. Diese sollen zu Gefäßwandzellen differenzieren und so die künstliche Oberfläche innen mit einer Schicht patienteneigener Zellen maskieren.
Kurze einzelsträngige Nukleinsäuremoleküle, sogenannte Aptamere, gelten als vielversprechende Zell-Fänger. Sie falten sich zu bestimmten dreidimensionalen Strukturen, die wie ein Schlüssel nur in ein bestimmtes „Schloss" passen, beispielsweise also spezifisch an Zelloberflächenmoleküle binden. „Anders als bei Antikörpern können kommerziell erhältliche Bibliotheken von Billiarden (Eins mit 15 Nullen) unterschiedlichster Moleküle eingesetzt und mittels PCR-Technologie vervielfältigt werden", sagt Stelzle. Doch bei dem Versuch, aus der Riesenbibliothek die eine „Nadel im Heuhaufen" zu finden, die an die gewünschten Zellen bindet, stieß Wendels Team an seine Grenzen.
Lebende Zellen gefangen im elektrischen Feld
Das Problem: Aptamere, die sie mit einer Zellpräparation vermischten, um später die spezifisch bindenden zu isolieren, banden auch unspezifisch an tote Zellen. Das war der Zeitpunkt, zu dem Stelzles Arbeitsgruppe ins Spiel kam. In dem durch das Programm „Molekulare Bionik Baden-Württemberg" geförderten Verbundprojekt entwickelte sein Team einen Chip, in dem gezielt die lebenden Zellen festgehalten werden und an die im zweiten Schritt die Aptamere binden. „Nur in lebenden Zellen erzeugen Ionenpumpen in der Membran Unterschiede in der Ionenkonzentration zwischen intra- und extrazellulärem Raum", erklärt Stelzle.
Das nutzen die Reutlinger aus, indem sie mittels eines elektrischen Feldes ein Dipolmoment in den Zellen induzieren. Das bedeutet, dass die positiven und negativen Ladungen gegeneinander verschoben sind und im elektrischen Feld eine Kraft erfahren. Indem die NMI-Forscher eine Wechselspannung anlegen, polen sie auch die Ladungen in den Zellen im Takt des elektrischen Feldes um. Dadurch bleiben die lebenden Zellen in der Nähe der Elektroden auf dem Glasboden des 7,5 mal 2,5 cm großen Chips gefangen und können von der Aptamer-Suspension umströmt werden. Tote Zellen haben eine löchrige Membran, erfahren somit keine Kraft in der Nähe des elektrischen Feldes und werden weggespült.
Durchbruch im zweiten Ansatz
Mittels Fluoreszenzmikroskopie beobachten die Forscher, wie sich lebende Zellen innerhalb des Chip-Kanals verteilen.
© NMI
Nachdem auch die Aptamere, die nicht an die Zellen gebunden haben, weggewaschen sind, legen die Forscher zusätzlich noch ein Gleichspannungsfeld an. Es zieht die negativ geladenen Nukleinsäuremoleküle, die nur schwach gebunden haben, in Richtung der positiv geladenen Elektrode im Glasdeckel des Chips ab. Anschließend schalten die Forscher das elektrische Feld ab und spülen die Zellen mit den daran gebundenen Aptameren aus dem Mikrofluidikchip heraus. Diese Aptamere lassen sich dann mittels PCR vervielfältigen und für weitere Selektionsrunden im Chip oder für die Beschichtung der Implantate verwenden. Ihre Forschungsergebnisse haben die Arbeitsgruppen von Stelzle und Wendel zusammen im Fachjournal Biomicrofluidics publiziert.
„Die ersten Ansätze sahen noch ganz anders aus: viel komplexer", erinnert sich Projektleiterin Britta Hagmeyer vom NMI. Nach einem dreiviertel Jahr „voller Blut, Schweiß und Tränen" warfen die Forscher ihr Konzept schließlich über Bord und entwarfen ein neues Design für einen Mikrofluidikchip. Mit Hilfe von Computersimulationen hat Hagmeyer die Anordnung der Elektroden und die Form der Mikrofluidikkammer optimiert, in der die Zellen festgehalten werden. Außerdem haben die Wissenschaftler verschiedene Materialien getestet: Sie müssen die von den Elektroden erzeugte Wärme gut abführen können, damit die Zellen nicht beschädigt werden.
„Es ist vor Projektbeginn oft nicht absehbar, wie schwierig die Lösung eines Problems sein wird", sagt Stelzle. Doch der zweite Anlauf war letztendlich erfolgreich: Am Ende stand ein am NMI gefertigter funktionierender Prototyp, bestehend aus Chip samt Halterung und elektronischer Peripherie, Pumpe sowie Steuerungssoftware. „Die in diesem Projekt verwendete Technologie kann auch zur Trennung verschiedener Zellen angewandt werden oder in Systemen zur Isolation seltener Zellen, etwa zirkulierender Tumorzellen", ergänzt Stelzle.