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Exotische Erkrankungen aus dem Schatten führen - Teil 2

Es gibt Krankheiten, die so selten sind, dass nur Betroffene oder Spezialisten sie kennen. Patienten, die im Schatten der großen Volksleiden wie Diabetes oder Alzheimer leben und verzweifeln, aber auch Mediziner und Wissenschaftler, kämpfen um das Interesse der Öffentlichkeit, der Pharmaindustrie und der Forschungspolitik. Im Februar fand in Freiburg ein internationaler Kongress zum Thema „Seltene Erkrankungen“ statt. Die BIOPRO Baden-Württemberg sprach am Rande der Veranstaltung mit dem Direktor des Centrums für Chronische Immundefizienz (CCI) Freiburg, Professor Dr. Bodo Grimbacher, und dem Kinderarzt und Humangenetiker Professor Dr. Maximilian Muenke vom National Human Genome Research Institute (NHGRI) in den USA - zwei Experten, die sich unter anderem mit seltenen Erkrankungen beschäftigen. Lesen Sie im zweiten Teil des Interviews warum sich die Gesellschaft trotz des Exotenstatus für die „Waisen-Krankheiten“ interessieren sollte.

Prof. Dr. Maximilian Muenke © privat

Von seltenen Erkrankungen sind, wie Sie erwähnt haben, sehr wenige Menschen betroffen. Warum sollte sich die Gesellschaft trotzdem dafür interessieren?

Muenke: Das allerwichtigste sind natürlich erstmal die leidenden Menschen. Dass man versteht, welche Krankheit sie haben, wie man ihnen besser helfen kann. Aber ganz praktisch gesehen ist es für die Gesellschaft auch von großem Vorteil, wenn man früh erkennt, was ein Kind hat, auch wenn es sich um eine seltene Erkrankung handelt. Dadurch kann man letztendlich sehr viel Geld sparen. Ein altes Beispiel aus dem Bereich der Stoffwechselstörungen: Wenn man weiß, dass ein Kind die Ahornsiruperkrankung hat, kann dieses Kind direkt von der Geburt an auf eine bestimmte Diät gesetzt werden. Und dann ist dieses Kind zeitlebens gesund und kostet im Prinzip fast nichts außer der Diät, bei der eine oder zwei Aminosäuren aus der Ernährung entfernt werden. Letztendlich lindert man das Leid und es ist auch finanziell günstiger.

Grimbacher: Man muss sich überlegen: Jede dieser Erkrankungen ist für sich zwar selten, aber in der Gesamtheit sind es sehr viele. Es sind wie gesagt ungefähr 6.000 Rare Diseases als solche anerkannt. Und 6.000 mal ein Patient in 200.000 verursacht auch hohe Kosten für das Gesundheitssystem. Diese Patienten sind sehr teuer, gerade weil sie so selten sind. Die Pharmaindustrie kann nicht massenhaft und kostengünstig Medikamente produzieren, die Diagnostik ist oft schwierig und kostenaufwendig, die Diagnose wird spät gestellt, usw.


Muenke: Deshalb finde ich es besonders wichtig, dass hier in Deutschland jetzt eine Betonung auf seltene Erkrankungen gelegt wird. Dass also zum Beispiel Freiburg die erste Uni war, die seit drei Jahren ein Zentrum für seltene Erkrankungen hat, dass es in Deutschland einen Köhler-Preis für die Erforschung dieser Leiden gibt, dass es an diesem 29. Februar zum ersten Mal einen Tag der seltenen Erkrankungen gab. Das sind Dinge, die zeigen, dass es vielen Leuten wichtiger wird, an seltenen Erkrankungen zu arbeiten. Genauso ist es in den USA. Dort gibt es am NIH einen Officer for Rare Diseases, es gibt am NIH Clinical Center ein Programm für undiagnostizierte Erkrankungen, das Menschen empfängt, die bei allen Ärzten waren und keine Diagnose bekommen haben, keine Therapie haben, denen es schlechter und schlechter geht. Und da ist die Erfolgsrate für die Diagnosefindung dann bis zu 50 Prozent. Ich bin Genetiker seit über 20 Jahren, ich arbeite als Kinderarzt häufig mit Patienten, die seltene Erkrankungen haben. Es war nur lange Zeit nicht anerkannt als etwas, woran man forschen kann. Man hat früher einem jungen Forscher abgeraten, an etwas Seltenem zu arbeiten. Was sich langsam ändert, ist die Einstellung.

Prof. Dr. Bodo Grimbacher © privat

Ist die Pharmaindustrie auch einsichtig oder sieht die hier keinen Markt und ignoriert den Bereich?

Grimbacher: Die Pharmaindustrie interessiert sich für seltene Erkrankungen, zumindest in der Immunologie, aber nicht für die einzelnen Patienten, sondern für das, was sie daraus lernen kann. Am Beispiel meiner eigenen Forschung - etwa im Falle der Anfälligkeit gegenüber Pilzinfektionen - ist deutlich zu sehen, dass aus den einzelnen monogenetischen Defekten bei einer bestimmten Familie grundlegende pathogenetische Mechanismen abgeleitet werden können. In meinem Fall also zum Beispiel, was wichtig und was weniger wichtig ist in der Kontrolle von Pilzinfektionen durch das Immunsystem. Jetzt sind natürlich Pilzinfektionen etwas, das die Pharmaindustrie interessiert. Das ist ein großer Markt. Deshalb will die Industrie anhand dieser monogenetischen Erkrankungen lernen, ob sie nicht vielleicht Medikamente entwickeln kann, die in die relevanten Signalnetzwerke eingreifen, die wir mittels unserer monogenetischen Erkrankungen enthüllt haben, und die auch für häufiger verbreitete Krankheiten relevant sind. Nicht besonders altruistisch, aber im Endresultat gut. Man schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe, wenn man deren Interesse an seltenen Erkrankungen nutzt, um vielen Menschen zu helfen, die unter häufigen Erkrankungen leiden.

Herr Muenke, eine seltene Erkrankung, die Sie untersuchen, ist die Holoprosenzephalie (HPE), eine schwere Entwicklungsstörung des Gehirns bei Neugeborenen. Machen Sie auch diese Erfahrung, dass Sie eine Erkrankung erforschen, deren Grundlagen für andere Dinge interessant sind?

Muenke: Auf alle Fälle. In unseren Untersuchungen sehen wir, wie die Entwicklung des Gehirns aus den Fugen gerät, sodass Kinder geboren werden, die schwerste mentale Retardierungen haben. Diese Forschung hilft gleichzeitig zu verstehen, wie die normale Gehirnentwicklung verläuft. Wir verstehen inzwischen viel besser, welche Gene und welche molekularen Signalnetzwerke da zusammen kommen. Wir konnten damit zum Beispiel zeigen, dass eines der Hauptgene - das Gen heißt Sonic Hedgehog - extrem wichtig ist. Das Genprodukt muss kovalent an Cholesterol gebunden sein. Wenn das nicht der Fall ist, dann laufen bestimmte Entwicklungsschritte nicht korrekt ab. Wir konnten zum Beispiel von dieser seltenen Erkrankung lernen, dass Mütter, die während der Schwangerschaft einen niedrigen Cholesterolspiegel haben, häufiger Kinder gebären, die zu früh kommen und untergewichtig sind. Mich als Kinderarzt freut es ungemein, wenn ich etwas herausgefunden habe, das vielleicht zu tun hat mit so etwas Problematischem und Häufigem wie Frühgeburten. Es ist wie immer in der Grundlagenforschung. Man weiß nie, auf welches entscheidende Wissen man stoßen wird, wenn man sich mit etwas beschäftigt, das zunächst eher exotisch wirkt.

Bodo Grimbacher studierte zwischen 1988 und 1995 Medizin an der Technischen Hochschule in Aachen und an der Universität Freiburg und promovierte 1995 an der Universitätsklinik Freiburg in der Abteilung für Rheumatologie und Klinische Immunologie. Zwischen 1997 und 2000 war er Postdoc am National Human Genome Research Institute (NHGRI) des National Institute of Health (NIH) in Bethesda/USA. Zwischen 2000 und 2006 war er Dozent und Emmy-Noether-Gruppenleiter in der Abteilung für Rheumatologie und Klinische Immunologie der Universitätsklinik Freiburg. 2006 habilitierte er sich in Freiburg im Bereich der Immunologie. Danach wurde er Leiter einer Marie-Curie-Forschungsgruppe in der Abteilung für Immunologie am Royal Free Hospital und am Universitäts-College in London. Seit 2011 ist er wissenschaftlicher Direktor des Centrums für Chronische Immundefizienz (CCI) in Freiburg. Grimbacher erforscht die genetischen und molekularbiologischen Grundlagen von Erkrankungen des Immunsystems.

Maximilian Muenke
schloss 1979 an der Freien Universität Berlin ein Studium der Medizin ab, promovierte ebenda in Humangenetik und spezialisierte sich auf Kinderheilkunde. Er arbeitete zwischen 1980 und 1990 als Postdoc in der humangenetischen Forschung an der Universität in Kiel, an der Yale University in New Haven/USA sowie an der Kinderklinik und der Universität in Philadelphia/USA. Zwischen 1990 und 1997 war er Professor an der Universität von Philadelphia in der Abteilung für Humangenetik und Molekularbiologie und wurde dann Leiter der Sektion für Humanentwicklung innerhalb der Abteilung für Humangenetik des National Human Genome Research Institute (NHGRI) des National Institute of Health (NIH) in Bethesda/USA. 2000 übernahm er dort die Leitung der Abteilung für Humangenetik. Muenke erforscht vor allem genetisch bedingte Erkrankungen des Nervensystems bei Kindern, von denen einige sehr selten sind, sowie die molekularbiologischen und genetischen Grundlagen der Gehirnentwicklung.

Seiten-Adresse: https://www.gesundheitsindustrie-bw.de/fachbeitrag/aktuell/exotische-erkrankungen-aus-dem-schatten-fuehren-teil-2