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Fortschritt hetzt Gesetzgeber

Die Diskrepanz könnte kaum größer sein. Mehr als ein Jahrzehnt brüten Politiker über dem Gendiagnostikgesetz, ehe es im Februar in Kraft tritt. Und dann das: Führende deutsche Wissenschaftler fordern seine Generalrevision. Das Regelwerk hält dem Praxis-Check nicht stand, ist veraltet und verschlimmbessert, lautet ihr harsches Urteil.

Es lässt aufhorchen, wenn Wissenschaftler so unverhüllt und drastisch sprechen. Bei den Fachpolitikern im Berliner Parlament ist die Schelte angekommen. Wirklich überrascht hat die Kritik niemanden, denn schon bei den Beratungen waren die kritischen Stimmen unüberhörbar.

Forscher: Wir betreten Neuland

Strukturbild der DNA-Doppelhelix (Ausschnitt). © Michael Ströck / www.wikipedia.de

Die umfängliche Stellungnahme der drei Wissenschaftsakademien mit dem sperrigen Titel „Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention“ hat neben der gegenwärtigen politischen auch eine zukunftsgerichtete gesellschaftliche Dimension. Denn wir alle betreten „Neuland“, so formulieren es die 17 Wissenschaftler verschiedener Disziplinen.

Im „Zeitalter der genetischen Medizin“ (Peter Propping) lassen sich behandelbare Krankheiten auf der Grundlage einer Erbgut-Analyse frühzeitig erkennen. Und ständig entdecken Forscher neue genetische Varianten, die mit Krankheiten in einem Zusammenhang stehen. Nicht nur das genetische Wissen vermehrt sich nahezu explosionsartig. Hinzu kommt die rasante technische Entwicklung. Das 1.000-Dollar-Genom - stellen die Fachleute offenkundig selbst überrascht fest - ist längst keine Utopie mehr, sondern bald Wirklichkeit.

Das bedeutet zunächst einmal nur, dass die Entzifferung unseres gesamten Erbguts durch Sequenziertechniken immer leichter und preiswerter wird. Es entsteht das, was die Experten „genetische Überschussinformation“ nennen: eine Unzahl von genetischen Daten, die nicht interpretierbar sind. Noch nicht. Gerade darin liegt die neue Qualität: Denn das neue Gendiagnostikgesetz ist auch deshalb untauglich, weil es der Vorstellung von der Untersuchung einzelner Gene anhing.

Viele Ärzte wissen zu wenig von der Genetik

Prof. Christian Kubisch. © UK Ulm

Während die Molekulargenetik und ihre technologischen Werkzeuge sich in immer schnelleren Entwicklungszyklen drehen, verharren die meisten Ärzte in Deutschland sozusagen im Zeitalter Gregor Mendels. Von der molekulargenetischen Revolution ist in den Praxen der niedergelassenen Ärzte oder in kommunalen Kliniken kaum etwas angekommen. Fortbildung tue not, damit Ärzte Patienten mit familiären Erkrankungsrisiken, insbesondere Hochrisikopersonen erkennen und an Spezialisten überweisen.

Bis 2004 approbierten Mediziner praktisch ohne humangenetische Kenntnisse. Wenn Genetik zum Einsatz kam, dann zur Symptomabklärung, sagte Christian Kubisch, Leiter des Ulmer Instituts für Humangenetik. Immer noch gebe es zu wenige Fachärzte für Humangenetik, die ausbildenden universitären Institute seien meist klein.

Der molekulargenetische Fortschritt macht vor Fachgrenzen nicht Halt – große Kohortenstudien untersuchen beispielsweise den genetischen Einfluss auf komplexe Volkskrankheiten wie Diabetes. Interdisziplinäres Zusammenarbeiten der Mediziner sei dazu erforderlich. Überregionale, interdisziplinäre Kompetenzzentren für behandelbare genetische Krankheiten fordern die Fachleute. Das mag es an vielen Universitäten für andere Fachbereiche schon geben, aber solange die medizinische Basis nicht erreicht wird, hängen solche Wünsche in der Luft.

Von Schelte nicht überrascht

Kaum überrascht zeigen sich Fachpolitiker der Bundestagsfraktionen in ersten Reaktionen zur Schelte: Stefanie Vogelsang nimmt den „Weckruf“ dankbar auf. Die CDU-Bundestagsabgeordnete ist seit dieser Legislaturperiode Berichterstatterin für das Gendiagnostikgesetz und Mitglied im Gesundheitsausschuss. Angesichts des raschen wissenschaftlichen Fortschritts kommt für die Unionspolitikerin der Ruf nach Gesetzesänderungen nicht überraschend. Gesetze wie das Gendiagnostikgesetz werden ihrer Einschätzung nach öfter aktualisiert werden. „Da lassen sich keine Gesetze für die nächsten 20 Jahre machen“.

Ähnlich äußert sich die stellvertretende FDP-Vorsitzende und gesundheitspolitische Sprecherin im Bundestag Ulrike Flach. Sie räumt Schwächen des Gesetzes ein, fordert „Begleitforschung zur Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit. Gesundheits- und Forschungsressort müssten eine Forschungsstrategie entwickeln, um krankheitsrelevante von nicht-krankheitsrelevanten Unterschieden im Erbgut zu unterscheiden.“

Grüne beantragen Biobanken-Gesetz

Will Biobanken-Gesetz, Priska Hinz (Bündnis 90/Die Grünen). © Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion

Priska Hinz stellt klar, dass der Gesetzgeber nicht nur einseitig die Interessen der Humangenetiker berücksichtigen müsse. Hinz ist Sprecherin für Bildungspolitik und Biotechnologie der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen. Trotz der Kritik am Gesetz – dem die Grünen im Bundestag nicht zustimmten – ist Hinz überzeugt, dass „die die Medizin betreffenden Regelungen des Gesetzes eine positive Wirkung haben, beispielsweise Regelungen zur Information, Aufklärung und Einwilligung und Wahrung des Rechts auf Wissen, aber auch des Rechts auf Nichtwissen, ob jemand eine Erbkrankheit hat oder nicht“.

Zu weit geht der Grünen-Politikerin die Forderung nach mehr Daten von nicht einwilligungsfähigen Menschen; auch das Recht auf Nichtwissen dürfe nicht ausgehebelt werden, wonach der Arzt selbst entscheiden soll, ob er eine verwandte Person eines Patienten ungefragt über dessen genetisches Risiko für eine schwere Erbkrankheit informieren dürfe. Ungeregelt sei weiterhin der Umgang der Forschung mit Proben und Daten. Jüngst hat die Grünen-Fraktion im Bundestag ein „Biobanken-Gesetz“ beantragt. Mit einem Biobankengeheimnis sollen vorhandene Proben und damit verknüpfte personenbezogene Daten geschützt werden, gleichzeitig aber auch „forschungsfreundliche Regelungen“ geschaffen werden.

Warum fehlt die PID?

Die Autoren der Stellungnahme stellen fest, dass die Öffentlichkeit und nicht zuletzt Politiker Schwierigkeiten haben, der raschen Entwicklung zu folgen und sich ein Urteil zu bilden, „zumal Wissenschaftler, Ärzte und Medien“ unterschiedlich interpretieren, falsche Hoffnungen wecken oder Ängste schüren. Unverständlich und bedauerlich ist, dass die Präimplantationsdiagnostik (PID) in der Stellungnahme fehlt, wohin sie sachlich dazugehört. Gerade jetzt wäre eine ausgewogene Darstellung hilfreich gewesen. Dass ein so sensibles Thema nicht dazu taugt, das konservative Profil zu schärfen und instrumentalisiert zu werden, hat unlängst die CDU demonstriert.

Seiten-Adresse: https://www.gesundheitsindustrie-bw.de/fachbeitrag/aktuell/fortschritt-hetzt-gesetzgeber