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Experteninterview

Genomanalysen: „Deutschland hinkt dramatisch hinterher“

Etwa 6.000 genetisch bedingte Erkrankungen können heute mithilfe genetischer Tests aufgespürt werden. Vor allem bei unklaren Symptomen ermöglicht das die Diagnose der Erkrankung und Aussagen über den Verlauf. In Deutschland ist die genetische Diagnostik allerdings durch restriktive Regelungen erheblich erschwert – zu Lasten der Patienten. Über diesen Missstand sprach BIOPRO mit Dr. Dr. Saskia Biskup, Ärztin für Humangenetik und Mitgründerin des Tübinger Unternehmens CeGaT. Das Unternehmen ist auf genetische Diagnostik spezialisiert und wurde für sein Konzept bereits mehrfach ausgezeichnet.

Frau Dr. Biskup, was führt Patienten zu Ihnen?

Kranke Menschen, die seit Jahren nicht wissen, woran sie leiden, und keine Diagnose haben. Oft leiden sie an einer seltenen Krankheit und haben unzählige Ärzte aufgesucht. Im Schnitt vergehen sieben Jahre bis zu einer Diagnosestellung. Eine Genomanalyse kann den Zeitraum auf wenige Wochen verkürzen. Zunehmend kommen auch austherapierte Tumorpatienten in die Praxis. Wir untersuchen den Tumor und suchen mögliche Therapieansatzpunkte.

Dr. med. Dr. rer. nat. Saskia Biskup ist Fachärztin für Humangenetik und Geschäftsführerin der CeGaT GmbH. © CeGaT

Wie funktioniert eine Genomanalyse?

Vorab empfehlen wir ein Beratungsgespräch. Bei einer solchen Untersuchung können auch Zufallsbefunde auftreten, wie beispielsweise Risikofaktoren für andere Erkrankungen, die nicht die aktuelle Fragestellung betreffen. Hier muss der Patient entscheiden, ob er zusätzlich darüber informiert werden möchte oder nicht.

Für die Untersuchung selbst reicht dann eine Blut- oder Speichelprobe aus: Wir isolieren die DNA, reichern die gewünschten Abschnitte an und entschlüsseln das Erbgut. Auch die Datenanalyse und die Befundung erfolgen bei uns. Bei der Entschlüsselung nutzen wir das Next-Generation-Sequencing, ein Hochdurchsatzverfahren, mit dem wir Genome heute in wenigen Tagen sequenzieren können.

Und wie untersuchen Sie Tumorpatienten?

Bei Krebspatienten sequenzieren wir das Tumorgewebe und vergleichen es mit dem gesunden Gewebe des Patienten, um die tumorrelevanten Mutationen aufzuspüren. Jeder Tumor ist verschieden, und je nach zugrundeliegender Mutation benötigen Patienten unterschiedliche Therapien oder sprechen unterschiedlich darauf an. Ziel ist eine auf den Patienten zugeschnittene individualisierte Therapie. So können unnötige Nebenwirkungen reduziert und der Therapieerfolg gesteigert werden.

Wie gut ist die derzeitige humangenetische Krankenversorgung in Deutschland?

In Deutschland kann man bei den meisten Patienten keine sinnvolle Diagnostik betreiben: Seit Juli 2016 dürfen Ärzte bis zu 25.000 der drei Milliarden Basenpaare des Menschen entschlüsseln und mit der Krankenkasse abrechnen. Das sind etwa vier Gene. Für geistige Behinderung sind allein 1.000 Gene bekannt. Nach einem Jahr dürfen wir uns die nächsten vier Gene anschauen usw. Das ist Irrsinn und kostet das Gesundheitswesen viel Geld. Denn für die Abrechnung dieser vier Gene, etwa 2.000 Euro, könnte man heute aufgrund des technischen Fortschritts Millionen Positionen im Erbgut ansehen. Im Ausland etwa kostet ein Trio, also die Entschlüsselung der Exome von Vater, Mutter, Kind, insgesamt also 60.000 Gene, ca. 2.500 Euro. Deutschland hinkt den internationalen Entwicklungen dramatisch hinterher.

Das heißt, die humangenetische Versorgung ist in anderen Ländern weiter?

Deutlich weiter. Die Niederlande gehören zu den Vorreitern: Umfassende genetische Diagnostik ist dort selbstverständlich. Sie publizieren mehr, sind innovativer. Frankreich setzt gerade ein großes Genomprogramm auf, mit dem Ziel, bis 2020 rund 240.000 Gesamtgenome sequenziert zu haben, und England hat sein 100.000-Genom-Projekt fast schon abgeschlossen. In den USA gibt es eine Akkreditierungspflicht für Labore, die in der Diagnostik tätig sind. In Deutschland herrscht Wildwuchs der Methoden und Verfahren, die größtenteils ohne Qualitätssicherung abgerechnet werden können.

Was bedeutet die restriktive Regelung Deutschlands in der Praxis?

Die 25.000 Positionen sind ein einziger Witz. Ich bin gespannt, wann die Verantwortlichen das endlich erkennen. Wir brauchen nicht nur deutlich länger für eine Diagnosestellung, sondern es kostet insgesamt auch deutlich mehr. Schwierig wird es, wenn wir ein Kind mit einer ungeklärten geistigen und/oder körperlichen Entwicklungsverzögerung sehen – und sie machen bestimmt die Hälfte der ratsuchenden Patienten aus. In einem solchen Fall wäre ein Trio angeraten, in vielen Ländern längst Standard, weil sich auf diese Weise Veränderungen im Erbgut des Kindes leichter erkennen lassen. Bei Kindern finden wir auf diese Weise in bis zu 45 Prozent die Ursache. Das ist eine richtig gute Aufklärungsquote, die sich schnell noch weiter verbessern wird, da die Phänotyp-Genotyp-Datenbanken, die Daten über krankheitsverursachende Genvarianten sammeln und der Diagnostik und Forschung zur Verfügung stellen, wöchentlich wachsen.

Ein rasche Diagnostik bringt nur Vorteile: Das Gesundheitswesen spart die Kosten der zusätzlichen, auch invasiven, und oft nicht zielführenden Untersuchungen, die in den durchschnittlich sieben Jahren bei Patienten mit seltenen Krankheiten anfallen. Und für Patienten ist die Diagnose der erste Schritt, um die Krankheit zu managen.

Was passiert mit diesen Kindern oder anderen Patienten mit unklaren Symptomen?

Entweder sind sie oder die Eltern gut informiert und wohlsituiert, das heißt, sie bezahlen die Untersuchung selbst. Oder wir stellen einen Antrag, dass wir mehr als 25.000 Positionen im Erbgut untersuchen müssen. In diesem Antrag müssen wir die Therapierelevanz erläutern. Was wir nicht können, weil wir ja zunächst eine Diagnose stellen müssen. Ich habe Hunderte Anträge geschrieben, sie wurden größtenteils alle mit fadenscheinigen Argumenten abgewiesen. Privatpatienten sind hier deutlich im Vorteil.

Wie sieht es mit Therapien aus?

Grundsätzlich lässt sich eine Therapie nur entwickeln, wenn man die zugrunde liegende genetische Krankheitsursache kennt. Das heißt, für die meisten Betroffenen seltener Erkrankungen gibt es nicht sofort eine Therapie. Aber für Betroffene ist es oft schon eine enorme Erleichterung, endlich die Ursache zu kennen und diese benennen zu können. Wenn man weiß, woran man leidet, kann man nach Experten suchen, die an Therapien arbeiten und sich mit anderen Betroffenen austauschen. Und die Arzt-zu-Arzt-Odyssee hat dann endlich ein Ende.

Was muss sich Ihrer Ansicht nach ändern, damit Patienten in Deutschland humangenetisch besser versorgt werden?

Mitarbeiter der CeGaT GmbH entschlüsseln die Erbgutinformation mithilfe von Hochdurchsatzsequenzierern. © CeGaT

Theoretisch darf sich jeder der 250 Humangenetiker in Deutschland ein Sequenziergerät in den Keller stellen. Qualitätsstandards existieren nicht. Ich fordere eine Akkreditierungspflicht für die Hochdurchsatzmethoden, einheitliche Standards bei der Sequenzierung, der Datenanalyse und Interpretation sowie der Erfassung und Speicherung der klinischen Befunde.

Generell müsste man die Bedarfsplanung und Planwirtschaft beenden. Wir brauchen deutlich mehr Fachärzte für Humangenetik. Aktuell ist ein Facharzt auf 600.000 Einwohner gerechnet. Auch das Erstattungssystem müsste grundlegend geändert werden. Es müsste mehr Geld für die Zeit mit dem Patienten geben. Diagnostische Untersuchungen, die medizinisch indiziert sind, müssten erstattet werden. Das würde viel Geld für nicht notwendige invasive Diagnostik und vor allem auch für nicht notwendige, weil nicht wirksame Therapien sparen. Das alles werde ich Herrn Spahn sagen, falls er uns einmal besucht.

Experten zufolge erschwert die dezentrale genetische Krankenversorgung in Deutschland die Etablierung einheitlicher Qualitätsstandards. Wie sehen Sie das?

Ich bin sehr für eine Zentralisierung der Labore, weil das die Qualitätssicherung tatsächlich erleichtern würde. Das ist in der Humangenetik im Laborbereich sehr einfach, da Blut- oder Speichelproben per Post versendet werden können. CeGaT bekommt Patientenproben aus der ganzen Welt, weil wir national und international für die Hochdurchsatzverfahren akkreditiert sind.

Ich bin aber auch für eine dezentrale Patientenversorgung: Es kommt ja nicht nur auf die Labordiagnostik an, sondern auch auf die Betreuung der Patienten und der Familien durch niedergelassene Kollegen, die großartige Leistungen erbringen. Die Wertschätzung dieser Leistung inklusive der Erstattung fehlt leider grundlegend. Man muss auch ohne Labor wirtschaftlich arbeiten können.

Genetische Daten sind sensible Daten. Wie speichern Sie diese Daten?

Wir speichern alles „in-house“ und halten uns an das Gendiagnostikgesetz. Patientendaten aus Genanalysen sind streng geschützt und gehören dem Patienten. Jeder hat ein Recht auf genetische Privatsphäre, aber auch darauf, dass er seine Daten teilen kann, wenn er das möchte.

Was wird sich in den nächsten zehn Jahren für Patienten mit genetischen Fragestellungen ändern?

Wir werden noch deutlicher in das Zeitalter der Präzisionsmedizin eintreten. Und Präzisionsmedizin erfordert Präzisionsdiagnostik. Nur wenn wir genau verstehen, was der Patient hat, werden wir ihm helfen können. Eine schnelle und kosteneffiziente genetische Diagnostik wird selbstverständlich sein. Es wird zunehmend auch darum gehen, das richtige Medikament richtig zu dosieren oder Krankheiten frühzeitig zu erkennen und zu behandeln. Genetik wird für jeden eine Rolle spielen.

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