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Gentherapeutika: Die Situation nach der ersten Zulassung

Steht die Gentherapie vor der breiten Anwendung in der Klinik? Nach Negativ-Schlagzeilen Ende der 90er-Jahre war sie vom Radar der öffentlichen Wahrnehmung nahezu verschwunden und in Forschungslabore abgetaucht. Unvermittelt rückt sie wieder ins Bewusstsein, seit die europäische Behörde EMA dem niederländischen Biotech-Unternehmen uniQure grünes Licht für die somatische Gentherapie zur Behandlung einer sehr seltenen Stoffwechselerkrankung gegeben hat – Premiere in der westlichen Welt. In China sind Gentherapeutika seit 2003 im Umlauf, verlässliche Daten dazu gibt es nach wie vor nicht. Folgen dieser Zulassung, die erst im dritten Anlauf zustande kam, weitere? Steht die Gentherapie, die 1989 in den USA ihre ersten klinischen Schritte machte, vor einem durchschlagenden Erfolg, wie manche Fachblätter glauben machen, oder durchläuft sie noch eine Phase der Konsolidierung?

Tatsächlich erzielten im letzten Jahrzehnt klinische Studien „beeindruckende Erfolge insbesondere bei Kindern mit schweren angeborenen Immunschwächekrankheiten" (vgl. auch Anlinker et al., 2012). Bei einigen monokausalen, genetisch bedingten Krankheiten gelang der Machbarkeitsnachweis. Mit Blick auf die in Europa durchgeführten klinischen Studien, vorwiegend mit Probanden aus der Pädiatrie, kommen die Autoren des BBAW-Bandes (Fehse/Domasch, S. 50 ff.) zu einer positiven (Zwischen-)Bilanz. 39 von 42 Patienten profitierten von der Behandlung zumindest zeitweise; bei 27 der an der Nachbeobachtung noch teilnehmenden 32 Probanden bestand der therapeutische Nutzen nach fünf Jahren, bei einigen davon bereits mehr als zehn Jahre fort. Die Kehrseite: Sechs Patienten erkrankten bislang an Leukämien, zwei an myelodysplastischen Syndromen. Zwei dieser Patienten verstarben.

Wissenschaftlich-medizinischer Fortschritt ist im Feld der Gentherapie oft ambivalent. Vorschnellen Schlussfolgerungen entgeht, wer sich den Band der interdisziplinären Arbeitsgruppe (AG) Gentechnologiebericht der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) „Gentherapie in Deutschland" zu Gemüte führt. Er legt in seiner zweiten, aktualisierten und erweiterten Auflage den Stand der Forschung der Gentherapie in Deutschland dar - nicht ohne die forschertypische Zuversicht, wohl aber mit deutlichen Einschränkungen.

So kommt das Fazit der Experten, wohlgemerkt zu einem von mehreren Anwendungsbereichen gentherapeutischer Verfahren, nicht ohne ein großes "Aber" aus: „Wenn es gelingt, das Risiko der Insertionsmutagenese durch Entwicklung sicherheitsoptimierter Vektoren und Gentransferverfahren zu minimieren, dürfte die Gentherapie schon in wenigen Jahren die Therapie der Wahl für einige schwere Immundefekte darstellen." Das Problem: Wird das intakte respektive therapeutische Gen mit der retroviralen Genfähre in das Genom eingeschleust, kann es möglicherweise ein oder mehrere wichtige Gene am Ort der Integration oder in der Nähe unerwünscht aktivieren oder abschalten. Das birgt das Risiko, dass Zellen entarten und Tumoren entstehen.

Vektoren müssen sicherer werden

Auch Florian Kreppel sieht Optimierungsbedarf bei der Entwicklung von Vektoren. Der Biochemiker ist Arbeitsgruppen-Leiter der Sektion Gentherapie der Universität Ulm und entwickelt eine zielgenaue Vektoren-Technologie.

Die zwei Ansätze der Gentherapie haben mit ganz unterschiedlichen Problemen zu kämpfen. © Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, mit Änderungen nach Winnacker et al., 2002:30.

Der In-vivo-Ansatz (vgl. Grafik) kämpft mit Immunantworten und der Neutralisierung der Vektorpartikel. Der Ex-vivo-Methode fehlt dagegen die Zielgenauigkeit, was das Risiko der Insertionsmutagenese erhöht. „Dieses Problem ist nicht vollständig gelöst", sagt Kreppel. Darüber hinaus hat der Ex-vivo-Ansatz, wenn mit viralen Genfähren gearbeitet wird, ebenfalls mit Immunantworten des Patienten zu kämpfen, denn diese hatten häufig schon einmal Kontakt mit dem viralen Wildtyp.

Nicht-virale Vektoren haben zwar nicht mit der Immunabwehr zu kämpfen, dafür aber mit „dramatisch niedriger" Effizienz. Für den Ulmer Forscher überaus einleuchtend, denn ein Virus hatte Jahrmillionen Zeit, seinen Gentransferprozess zu optimieren. Diesen Vorsprung hat die Entwicklung synthetischer nicht-viraler Genfähren noch nicht aufgeholt. „Diese Effizienz des viralen Gentransfer chemisch abzubilden, ist derzeit nicht möglich", sagt Florian Kreppel.

Jede Krankheit braucht ihren eigenen Vektor

Ulmer Gentherapie-Experte, der Biochemiker Dr. Florian Kreppel. © Uni Ulm

Der adenoassoziierte Vektor der jetzt zugelassenen Gentherapie hat für Kreppel den Vorteil, dass er nicht humanpathogen ist, weswegen er ziemlich sicher sei. Die erste Zulassung bedeute aber noch lange nicht den Durchbruch für „die Gentherapie“; es handele sich vielmehr um einen Vektor für eine bestimmte Krankheit und lasse sich nicht auf alle möglichen Krankheiten und Behandlungsformen übertragen. Dennoch hält Kreppel die erste Marktzulassung für „einen sehr großen Erfolg, weil es ein Nachweis des Konzeptes ist, dass man Krankheiten ursächlich behandeln kann durch Gentransfer“.

Wer in das Register der weltweiten klinischen Gentherapiestudien (www.abedia.com/wiley/vectors.php) blickt, versteht schnell, dass diese kommerzielle Premiere nicht repräsentativ ist. Eines indes wird klar: Die Gentherapie durchläuft gerade eine dynamische Entwicklung. Zwischen 1990 und 1995 betrug die Zahl der klinischen Studien 166, bis 2000 stieg sie auf 413, bis 2011 schließlich auf 1.700 an. Und allein 2012 (Abfrage: 03.12.2012) belief sie sich schon auf 1.843. Fast zwei Drittel (63,7 Prozent) aller klinischen Studien fanden bzw. finden in den USA statt, in Großbritannien wurde jede zehnte Studie (elf Prozent) durchgeführt. Es folgen laut Register Deutschland mit 4,4 Prozent (81 Studien) und Frankreich (2,9 Prozent).

Ein ebenso deutliches Bild ergibt die Verteilung der Indikationen. Danach stehen mit rund 64 Prozent Tumorerkrankungen mit großem Abstand an der Spitze der klinischen Studien, es folgen monogenetische (8,7 Prozent), kardiovaskuläre (8,4 Prozent) und Infektionskrankheiten (acht Prozent). Am meisten werden Antigene (20,5 Prozent), Zytokine (18,4 Prozent) sowie Tumorsuppressorgene (8,3 Prozent), Selbstmordgene (8,1 Prozent) sowie fehlende Gene (acht Prozent) in die Zielzellen eingebracht. 42 unterschiedliche Vektoren umfasst das Register. Zu den am häufigsten verwendeten zählen Adenoviren (23 Prozent), Retroviren (20 Prozent), nackte DNA (18 Prozent), Kuhpockenviren (acht Prozent), Liposomentransfektion (sechs Prozent), Poxviren (fünf Prozent) und adenoassoziierte Viren (fünf Prozent).

Marktzulassung zeichnete sich ab

Für Boris Fehse hat sich diese erste gentherapeutische Marktzulassung abgezeichnet. Der Biomediziner und Mitherausgeber des BBAW-Bandes überblickt das Feld der Gentherapie. Fehse leitet die Forschungsabteilung Zell- und Gentherapie an der Klink für Stammzelltransplantation des Uniklinikums Hamburg-Eppendorf und beschäftigt sich seit 20 Jahren mit dem Thema. Im Bereich der Orphan Drugs werde schneller zugelassen, weil die Studien an viel weniger Patienten (im Fall von Glybera® 27) durchgeführt werden als bei häufigeren Krankheiten, sagt Fehse mit Blick auf die erste kommerzielle Therapie.

Prof. Dr. rer. nat. Boris Fehse, Gentherapie-Experte am Uniklinikum Hamburg-Eppendorf © UKE

Ähnlich vielversprechend sind Fehse zufolge gentherapeutische Ansätze bei seltenen ererbten degenerativen Erkrankungen der Netzhaut, wo es seit mehr als zehn Jahren ein gutes Sicherheitsprofil und gute klinischen Daten gebe. Das gelte auch für Hämophilie. Diese Entwicklungen werden in den nächsten Jahren relativ schnell zu Zulassungen führen, glaubt Fehse. Weitere Marktzulassungen erwartet der Experte bei monogenen Erkrankungen des Immunsystems, dann aber am ehesten in Italien, wo eine Mailänder Forschungsstätte mit Big Pharma (GlaxoSmithKline) den Schritt vom Labor in die Klinik vorantreibt. In Deutschland, so Fehses Beobachtung, ist das Feld der Gentherapie noch akademisch geprägt. Zwar gebe es hierzulande auch Forschung zur Nutzung onkolytischer Viren, aber die späten klinischen Studien finden in den USA statt.

Fehse weiß nur von einer Phase-III-Studie mit Vaccinia-Viren, die von der US-Firma Generex auch in Deutschland durchgeführt wird. Diese Viren sollen bei fortgeschrittenen Tumoren deren Zellen zerstören. Der Ansatz sei hochexperimentell, werde nur deshalb eingesetzt, weil diesen Krebspatienten keine andere Therapie mehr hilft. Das sei in den meisten Fachgesellschaften und Zulassungsstellen forschungsethischer Konsens: Eine hochexperimentelle und relativ gefährliche Therapie wie die Gentherapie sei ethisch nur bei lebensbedrohlichen Erkrankungen oder stark einschränkenden Erkrankungen wie Blindheit akzeptabel, wenn andere Therapieoptionen wie Transplantationen (bei Immundefizienzen) mit hohen Sterberaten verknüpft sind.

Viele klinische Studien in der Onkologie

In der Onkologie beobachtet der Hamburger Experte gerade in jüngster Zeit in den USA viel Bewegung, wo ein Dutzend neuer Studien gestartet wurden. In einzelnen Feldern, wie bei Leukämie, wo es mit CD19 ein klares Ziel für adaptive Immuntherapie-Ansätze gebe, erwartet Fehse Erfolge. Auch in Europa engagierten sich in diesem Feld große Forschungsverbünde mit deutscher Beteiligung. Bei komplexeren Erkrankungen wie Krebs kann die Gentherapie mit anderen Therapien (Bestrahlung, Chemo, Immuntherapie) den Behandlungsreigen erweitern, glaubt Fehse. Hier erhofft sich die Forschergemeinde viel von den Ergebnissen laufender Krebsgenomprojekte (u. a. des International Cancer Genome Consortiums). Ohne verbesserte Kenntnis der Krankheitsrelevanz einzelner Gene lasse sich Gentherapie nicht zielgenauer einsetzen.

An den Vektoren muss am meisten gearbeitet werden

Es beschleunigt die Entwicklung nicht gerade, wenn für jede Krankheit die ideale Genfähre gefunden werden muss, gibt Fehse zu bedenken. So funktioniere ein nicht integrierender AAV-Vektor wie bei dem zugelassenen Produkt, das in Muskelzellen injiziert wird, bei teilungsfreudigen Blutstammzellen nicht. „Ideal wäre, wenn man wüsste, dass ein integrierender Vektor immer an derselben Stelle seine therapeutische Fracht, seine Nukleinsäure einbaut – das wäre der Heilige Gral für Erbkrankheiten“. Für Fehse ist klar: "An den Vektoren muss am meisten gearbeitet werden." Jeder Vektor habe sein eigenes Sicherheitsprofil, manches hängt vom Alter, vom Immunsystem und von der Krankheit ab. Dieses Verständnis werde wahrscheinlich mit zunehmender Zahl an therapierten Patienten wachsen.

Noch ist die Gentherapie extrem teuer und wird meist über Stiftungs- und Steuergelder finanziert. Noch vor ein, zwei Jahren war das Interesse von Big Pharma „marginal“. Heute jedoch beobachten Fehse wie auch Kreppel ein wachsendes Interesse der Industrie, das jüngst in einem 20-Mio-Dollar-Engagement der Firma Novartis kulminierte (New York Times, 09.12.2012). Es ist wohl auch kein Zufall, dass sich der Verband der forschenden Arzneimittelhersteller „nachdrücklich“ für die „Weiterentwicklung und Anwendung der somatischen Gentherapie“ ausspricht (Positionspapier vom November 2012), ohne allerdings konkrete Zahlen zu nennen.

Nicht den Anschluss verlieren

Natürlich weiß auch ein Forscher wie Boris Fehse, dass die 20 Mio. US-Dollar von Novartis ein Tropfen auf den heißen Stein sind. Der Hamburger hofft bis auf Weiteres auf eine Förderung von DFG und BMBF, denn noch „sind wir weit davon entfernt, ein selbsttragendes System zu sein.“ Bleibt die Förderung für deutsche Forscher aus, die sich in den Bereichen Vektorentwicklung, Sicherheit des Gentransfers und molekularer Analyse genetisch modifizierter Zellen international führende Positionen erarbeitet haben (Fehse/Domasch, S. 103f.), warnt Fehse: „Wir müssen aufpassen, dass der Zug nicht abfährt und wir noch auf dem Bahnsteig stehen“.

In der EU werde experimentelle Gentherapie gefördert. In Ländern wie Großbritannien und den Niederlanden, so Fehses Eindruck, werde der Weg aus dem Labor in die Klinik deutlicher gefördert als hierzulande, wo DFG und BMBF ein klinisches Studienprogramm zu innovativen Therapien aufgelegt haben, innerhalb dessen sich die Gentherapie behaupten muss. „Da die Entwicklung momentan wirklich rasant ist, wäre es gut, wenn DFG und BMBF weiter dranbleiben würden“, so Fehses Rat.

Vielleicht ist es nur eine Randerscheinung, möglicherweise aber ein Hinweis, dass Bereiche der Biomedizin zusammenwachsen. In USA und Europa, hat Boris Fehse beobachtet, haben sich vormals getrennte Zeitschriften und Fachgesellschaften für Gentherapie und Zelltherapie zusammengetan.

Zum Weiterlesen:

Akst, J.: Targeting DNA, in: The Scientist, 1.6.2012

Anliker, B., Renner, M., Schweizer, M.: Insertionsonkogenese bei der Gentherapie monogenetischer Erbkrankheiten, in: Bulletin zur Arzneimittelsicherheit. Informationen aus BfArM und PEI, Ausgabe 2. Juni 2012.

Dolgin, E.: Gene therapies advance, but some see manufacturing challenges, in: Nature Medicine Vol. 18, Nr. 12, Dec. 2012

Fehse, B./Domasch, S. (Hrsg.): Gentherapie in Deutschland. Eine interdisziplinäre Bestandsaufnahme. Themenband der interdisziplinären Arbeitsgruppe „Gentechnologiebericht“ Forum W – Wissenschaftlicher Verlag, Dornburg, 2011

Grady, D.: In girl’s last hope, altered immune cells beat leukemia, New York Times, 9.12.2012 (https://www.gesundheitsindustrie-bw.dewww.nytimes.com/2012/12/10/health/a-breakthrough-against-leukemia-using-altered-t-cells.html?pagewanted=all)

Szentpetery, V.: Bemerkenswert erfolgreiche Gentherapie, in Technology Review, 29.10.2012 (Interview mit dem Präsidenten des Paul-Ehrlich-Instituts)

VfA (Hrsg.): Positionspapier “Somatische Gentherapie” (Stand 21.11.2012)
https://www.gesundheitsindustrie-bw.dewww.vfa.de/de/wirtschaft-politik/positionen/pos-somatische-gentherapie.html

Young, S.: Company aims to cure blindness with optogenetics, in: Technology Review, 28.8.2012

Wildermuth, V.: Niederländischer Hersteller entwickelte Medikament für Stoffwechselkrankheit, Deutschlandradio, 1.8.2012, 16.35 (www.dradio.de/dlf/sendungen/forschak/1828173)

Will the floodgates open for gene therapy? Nature Biotechnology, Editorial, V. 30., Nr. 9, Sept. 2012. (Dort wird die Entwicklung mit der von monoklonalen Antikörpern verglichen)

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