Gentherapie am Auge – erstmals in Deutschland
In Deutschland leiden rund 3.000 Menschen an Achromatopsie – einer kompletten Farbenblindheit von Geburt an. Ursache für die Erkrankung ist ein Gendefekt, der dazu führt, dass die Zapfen-Fotorezeptoren der Netzhaut, die unser Auge für das Tages- und Farbensehen braucht, praktisch funktionslos sind. Eine Behandlungsmöglichkeit gab es bisher nicht. Nun haben Wissenschaftler des Universitätsklinikums Tübingen gemeinsam mit Kollegen aus München und New York eine Gentherapie für diese erbliche Augenerkrankung entwickelt. Die Behandlung, die zurzeit in einer klinischen Sicherheitsstudie Phase I/II durchgeführt wird, ist die erste Gentherapie einer Augenerkrankung in Deutschland und die weltweit erste Gentherapie für Patienten mit Achromatopsie.
Die Achromatopsie, auch als komplette Farbenblindheit bezeichnet, ist ein heterogenes Krankheitsbild, an dem alleine in Deutschland ca. 3.000 Patienten leiden. Die Betroffenen können von Geburt an nicht nur keine Farben unterscheiden, sondern besitzen auch noch eine stark reduzierte Sehschärfe von nur noch etwa zehn Prozent und sind extrem blendungsempfindlich, sodass sie sich tagsüber in ihrer Umwelt praktisch nur mit stark getönten Brillen bewegen können. Viele alltägliche Dinge wie das Autofahren sind für die Patienten undenkbar. Auch der Besuch einer Normalschule steht für betroffene Kinder immer wieder zur Diskussion und kann nur mit entsprechender Unterstützung stattfinden. Grund für die starke Sehbehinderung ist der komplette Funktionsverlust der Farbrezeptoren in der Netzhaut des Auges – der Zapfen, die für Sehschärfe und Farbensehen verantwortlich sind. Ursache hierfür ist ein angeborener Gendefekt, wobei jedoch bei identischem Krankheitsbild verschiedene Gene betroffen sein können.
Scharf und bunt. So nehmen Normalsichtige diesen Vogel wahr.
© Universitätsklinikum Tübingen
Grau und unscharf: So sieht ein Patient mit Achromatopsie denselben Vogel.
© Universitätsklinikum Tübingen
Gendefekt ist Ursache für schwere Augenerkrankung
Prof. Dr. Bernd Wissinger vom Forschungsinstitut für Augenheilkunde am Universitätsklinikum Tübingen erforscht mit seinem Team schon seit Jahren die molekulargenetischen Ursachen der Achromatopsie. Bereits in den 1990er Jahren gelang es der Arbeitsgruppe, eines der verantwortlichen Gene für die Erkrankung zu identifizieren: Das sogenannte CNGA3-Gen, das bei etwa einem Drittel der Achromatopsie-Patienten defekt und damit verantwortlich für die starke Sehbehinderung ist. In einer Kooperation mit der Universität München entwickelten die Wissenschaftler dann ein Mausmodell, bei dem das verantwortliche Gen durch Knockout ausgeschaltet wurde. „Dabei konnten wir feststellen, dass die Gegebenheiten bei der Maus genauso waren“, berichtet Wissinger. „Das Mausmodell hat die Humansituation sehr gut abgebildet, die Zapfen waren komplett ausgefallen.“ Damit war auch der letzte Nachweis erbracht, dass der Gendefekt die Ursache für die schwere Augenerkrankung ist. Und die Forscher kamen schnell auf die Idee, eine spezifische Gentherapie zu entwickeln.
Vor etwa fünf Jahren führten die Tübinger Wissenschaftler dann gemeinsam mit den Münchner Kollegen erstmals eine Gentherapie am Mausmodell durch – mit Erfolg: „Wir konnten zeigen, dass, wenn man virale Vektoren mit intakten CNGA3-Sequenzen ins Mausauge injiziert, die Funktion der Netzhaut wiederhergestellt werden kann“, sagt Wissinger. Nachgewiesen wurde der Therapieerfolg sowohl durch objektive Messungen als auch durch Verhaltensversuche: „Man konnte ein Farberkennungsvermögen zwischen behandelten und unbehandelten Tieren deutlich unterscheiden“, so der Tübinger Professor für Molekulargenetik sensorischer Systeme.
Vorbereitungen für die Gentherapie seit 2012
Zudem machten sich die Wissenschaftler mit Hilfe histologischer Methoden auf die Suche nach dem Genprodukt. Um die Gentherapie durchführen zu können, ist es nötig, ein Stück der Netzhaut anzuheben – ein invasiver Eingriff, den ein erfahrener retinaler Chirurg aber normalerweise problemlos vornehmen kann. Das heißt, die Therapie erreicht damit nicht die ganze Netzhaut, sondern nur den Bereich, der bei dem Eingriff abgelöst wird. Mit den histologischen Methoden konnten die Tübinger Forscher dort genau nachweisen, welche Zellen in Kontakt mit den Viren gekommen waren und wo das Gen exprimiert wurde – die Gentherapie also erfolgreich war. Darüber hinaus wurde der Behandlungserfolg auch in vivo mit bildgebenden Verfahren kontrolliert. Solche Verfahren werden auch während des operativen Eingriffs eingesetzt, um die richtige Stelle für die Vektorinjektion zu finden. „Außerdem können wir so auch sehr gut den Sicherheitsaspekt verfolgen – also eventuelle toxische oder entzündliche Reaktionen vor und nach der Operation“, fügt der Tübinger Biologe hinzu.
Nach den positiven Ergebnissen mit den Mausmodellen begannen die Vorbereitungen für die Gentherapie beim Menschen: Zunächst wurden die Maus-Vektoren dem anderen Organismus entsprechend angepasst, also humanisiert, und dann unter GMP-Bedingungen hergestellt. Auch diese Vektoren wurden anschließend nochmals aufwendigen Tests unterzogen: „Man muss die Viren nochmals am Tiermodell testen – also etwa untersuchen, wie sie im Körper verteilt oder wieviel von ihnen ausgeschieden werden, wie bei jedem anderen Pharmazeutikum auch", so Wissinger. Parallel zur Bereitstellung des Therapeutikums begannen die Wissenschaftler mit der Suche nach den richtigen Patienten für die klinische Studie. „Diese sind nicht gerade einfach zu identifizieren, aber wir sind in Tübingen als spezialisiertes Zentrum für diese Erkrankung in der glücklichen Lage, dass wir über Jahre mehrere hundert Blutproben von Patienten mit Achromatopsie sammeln konnten“, sagt er. „Daraus haben wir einige Dutzend identifiziert, die sich genetisch eignen, und die Kandidaten vor der Auswahl zu mehreren Zeitpunkten nochmals mit den modernsten Verfahren getestet und auch noch ein weiteres Mal genetisch bestätigt.“
Patientensuche bringt ganz neue Erkenntnisse
Aus den aufwendigen Patiententests ergaben sich für die Forscher zusätzlich noch ganz neue Erkenntnisse, wie der Professor berichtet: „Wir konnten feststellen, dass das Krankheitsbild gar nicht statisch ist, wie früher immer in der Literatur beschrieben, sondern sich Veränderungen ergeben, vor allem mit zunehmendem Alter ein Absterben der Zellen zu beobachten ist.“ Dieser Befund war für Wissinger und sein Team insofern von Bedeutung, als man die Gentherapie naturgemäß nur durchführen kann, wenn auch noch Zellen vorhanden sind, die therapiert werden können: „Das hat uns sehr überrascht und auch Sorge bereitet“, sagt er. „Denn je jünger die Patienten sind, desto größer sind auch die Chancen auf Erfolg – auch, wenn das natürlich auch vom jeweiligen Patienten abhängt. Damit ist aber klar, dass man zukünftig mit der Gentherapie nur einen therapeutischen Effekt erzielen kann, wenn man die Erkrankung möglichst frühzeitig identifiziert. Und genau hier liegt das Problem, wie bei den meisten seltenen Erkrankungen: Bis die Patienten zu Spezialzentren überwiesen werden und die Diagnose gestellt wird, vergehen oft einige Jahre.“
Klinische Studie läuft – mit vielversprechenden Zwischenergebnissen
Im Herbst 2015 bekamen die Wissenschaftler dann grünes Licht von der Bundesoberbehörde und der Ethikkommission, dass die klinische Studie starten könne. Nur wenige Wochen später wurde schon der erste Patient mit Achromatopsie an der Universitäts-Augenklinik in Tübingen gentherapeutisch behandelt. Die Studie ist als Dosiseskalation angelegt, das heißt, die Mediziner beginnen mit der Injektion einer sehr niedrigen Dosis an therapeutischen Viren und steigern diese Stück für Stück mit immer je drei Patienten pro Dosis. Dazwischen ist eine angemessene Wartezeit vorgesehen, um auf Nebenwirkungen reagieren zu können, wie Wissinger erklärt. Zudem wurde eine externe Evaluationsgruppe hinzugezogen, die die Patientendaten aus Gründen der Ethik und der Sicherheit untersucht. „Deshalb zieht sich die Studie natürlich etwas in die Länge“, fügt er hinzu. „Mit der Behandlung der letzten drei Patienten – also der höchsten Dosisgruppe rechnen wir bis Ende des Jahres.“ Und er betont nochmals: „Die Sicherheit der Anwendung ist momentan neben dem therapeutischen Benefit unser vordringlichstes Studienziel.“
Was die Ergebnisse angeht, so erwarten die Wissenschaftler in der niedrigsten Dosisgruppe noch keinen nennenswerten Effekt: „Wir müssen uns erst einmal an die therapeutische Erfolgsschwelle herantasten“, sagt Wissinger. Dennoch berichteten Patienten, dass die Blendungsempfindlichkeit zurückgehe, was sich auch bei objektiven Tests der Mediziner erwies. „Wir konnten dieses Phänomen klar beobachten und sind damit sicher, dass es Veränderungen gibt“, berichtet er. „Und was die Nebenwirkungen bei der Verabreichung des viralen Vektors angeht, so kann man bisher sicher sagen, dass die Behandlung nach sechs behandelten Patienten völlig unproblematisch ist: Bisher beklagten sie lediglich Nebenwirkungen des Cortisons, das sie zur Vorbeugung von Entzündungen nehmen müssen.“ Ob die weltweit erste Gentherapie für Achromatopsie und die erste Gentherapie am Auge in Deutschland ein Erfolg wird, lässt sich natürlich erst nach Beendigung der gesamten Studie sagen. So wie man derzeit aber abschätzen kann, gebe es durchaus Anzeichen, die Wissenschaftler und Patienten sehr positiv stimmen können, so Wissinger.