Gilbert Gorr - Großer Fan des Kleinen Blasenmützenmooses
Das "Kleine Blasenmützenmoos" fasziniert Dr. Gilbert Gorr - schon seit vielen Jahren - jeden Tag wieder aufs Neue. Die Begeisterung, mit welcher der Chefwissenschaftler der greenovation Biotech GmbH über das zentrale Objekt seiner Arbeit spricht, reißt mit und ansteckend ist sie auch. Allerspätestens am Ende des Gesprächs blickt man selbst respektvoll auf Physcomitrella patens und die Großtaten, zu der die kleine Pflanze dank der intensiven Forschung des greenovation-Teams fähig ist. Der jüngste Clou: Das Moos produziert einen therapeutischen Antikörper, der weitaus wirkungsvoller ist als seine Vorläufer, die in tierischen Zellkulturen gewonnen werden.
Dr. Gilbert Gorr kann jeden für das "Kleine Blasenmützenmoos" begeistern. (Foto: greenovation)
Eine erste enge Bekanntschaft mit Physcomitrella machte Gorr, der Biologie und Chemie studiert hatte, während seiner Promotion. Im Labor von Ralf Reski, der sich damals an der Universität Hamburg habilitierte, untersuchte er im Rahmen seiner Doktorarbeit, inwieweit das Moos als Expressionssystem für humane Eiweiße dienen könnte. Wie man inzwischen weiß, kann es das auf vielfache Weise: Gerinnungsfaktoren, Wachstumsfaktoren, Antikörper und andere Proteine lassen sich im Moos herstellen. Nach dieser ersten Zeit mit dem Moos wollte sich Gorr auch auf anderen Feldern bewähren und wechselte ans Institut für Pharmakologie, Toxikologie und Pharmazie der Tierärztlichen Hochschule in Hannover. Trotz der erfolgreichen Arbeit dort zeigte sich schnell, wie verbunden der Biologe mit dem „Kleinen Blasenmützenmoos“ war.
Ein durchaus mutiger SchrittAls greenovation im Jahr 2000 bei ihm anfragte, ob er nicht die "Moostechnologie" (heute Bryotechnologie) in dem Unternehmen etablieren möchte, sagte er spontan zu. „Es macht einfach unglaublich viel Spaß mit dem Moos zu arbeiten“, erklärt Gorr den zu jener Zeit durchaus mutigen Schritt von Hannover nach Freiburg. Die wirtschaftliche Zukunft des damals noch sehr jungen Unternehmens war keineswegs sicher. Sein früherer Doktorvater Reski hatte die Firma im Jahr zuvor gemeinsam mit Prof. Gunter Neuhaus gegründet. Ursprünglich hatten sie geplant, auf verschiedenen biotechnologisch interessanten Feldern zu agieren. Wie sich zeigen sollte, eine Strategie mit Tücken. Um nicht zu straucheln, konzentrierte man sich recht schnell allein auf das innovative Expressionssystem Physcomitrella und die Gewinnung hochwertiger Proteine. Zu diesem Zeitpunkt wurde Gorr die wissenschaftliche Leitung des Unternehmens angetragen.
Gorr und sein Team nutzen das haploide, also das mit dem einfachen Chromosomensatz ausgestattete Protonema des Mooses. Aus Knospen dieses fädigen, sich verzweigenden Vorkeims entwickeln sich die eigentlichen Moospflänzchen. Dank des haploiden Genoms ist Physcomitrella gentechnisch leicht zu verändern. Das Erbgut für Fremdproteine, die in der Pflanze produziert werden sollen, lässt sich gezielt ins Moosgenom einfügen und verbleibt auch an dieser Stelle. Die Bedingungen während der Kultivierung können sehr variabel und produktorientiert eingestellt werden. Das Moosgewebe braucht im Gegensatz zu tierischen Zellen keine komplexen Medien, sondern gibt sich mit Licht, einigen Salzkomponenten und Kohlendioxid zufrieden. Außerdem wächst es in geschlossenen Bioreaktoren in keimfreier Umgebung heran. Die Zielproteine werden - dank geschickt gewählter Signalsequenzen - aktiv ins umgebende Kulturmedium abgegeben und können ohne Probleme geerntet und aufgereinigt werden. Außerdem sind Moose als Expressionssysteme sehr sicher, da sie keine für den Menschen gefährlichen Viren übertragen können.
Schematische Darstellung der Herstellung und Gewinnung wertvoller Fremdproteine in Physcomitrella patens (Abbildung: greenovation)
In den vergangenen Jahren ist es in den Labors von greenovation - teilweise in enger Kooperation mit der Abteilung für Pflanzenbiotechnologie an der Freiburger Universität - gelungen, eine Reihe verschiedener Produktionsstämme mit unterschiedlichen Eigenschaften zu etablieren. Ein wichtiger Schritt hin zur Herstellung pharmazeutisch wirksamer Proteine war, die Gene im Moos auszuschalten, die die pflanzentypischen Zuckerreste an Glykoproteine anhängen. Denn trügen die kostbaren Fremdproteine pflanzliche Kohlenhydratreste anstelle von menschentypischen Zuckerresten, könnten sie immunogene Unverträglichkeiten hervorrufen und den Patienten gefährlich werden. Erstaunlicher- und glücklicherweise gedeiht das Moos trotz dieser Veränderungen sehr gut.
Optimierung im Moos drängt sich geradezu auf
Auch für die im Auftrag eines Kunden durchgeführte Optimierung des therapeutischen Antikörpers mit dem Kürzel 311 war die Erfahrung, die greenovation in der Zuckerbiotechnologie besitzt, entscheidend. 311 ist ein komplett humanisierter, monoklonaler Antikörper, der bisher in tierischen Zelllinien produziert wurde. Er ist gegen das auf vielen Tumoren vorkommende Antigen Lewis Y gerichtet. Dieses Oberflächenmolekül kommt unter anderem auf Brust-, Darm-, Magen, Eierstock- und Lungenkrebszellen vor. Erkennt und bindet 311 an diese Struktur, werden die Tumorzellen zerstört. Es kommt zur Rekrutierung von Immunzellen und zytotoxische Effektorzellen werden auf den Plan gerufen. Vor allem die ADCC (antikörperabhängige zelluläre Zelltoxizität), wie die Mediziner diese tumorvernichtende Immunreaktion nennen, wird in Gang gebracht. Im Reagenzglas konnte mit 311 außerdem das Wachstum der Krebszellen gebremst werden.
Trotz der für die Tumortherapie günstigen Effekte des 311 wurde frühzeitig über Verbesserungsmöglichkeiten nachgedacht. Der Antikörper trägt auf seiner Oberfläche nämlich Zuckerstrukturen, vor allem Fucosereste, welche die Wirkung des Antikörpers beeinträchtigen. Vermutlich beeinflussen sie die ADCC negativ. Eine gezielte Veränderung der Zuckeranhänge drängte sich da geradezu auf, ebenso wie die Idee, das im Moos zu versuchen.
Lyse der Krebszellen erheblich verbessert
Das Team um Gorr hatte bereits eine Mooslinie etabliert, die Proteine bilden konnte, ohne dass diese mit Fucoseresten verknüpft wurden. „Trotzdem war es spannend, ob es uns gelingen würde, den Antikörper 311 zu verbessern“, erzählt der Chefwissenschaftler. Und es ist geglückt – zumindest zeigen das Untersuchungen im Reagenzglas. „Fehlen die Fucosereste, dann ändert sich die Faltung des Antikörpers“, erläutert Gorr. Der Unterschied in der Struktur ist nur minimal, trotzdem ändert sich die Bindung zwischen dem Antikörper und den zytotoxischen Immunzellen dramatisch. Dass die Krebszellen viel besser lysiert werden, zeigen die umfangreichen Analysen, die der österreichische Partner Vela Laboratories vorgenommen hat.
Demnächst nun soll der optimierte Antikörper in die klinische Prüfung gehen. Hergestellt wird das Therapeutikum auch in Zukunft von der greenovation, dann in Heilbronn, wo das Unternehmen mittlerweile den Firmensitz hat. Die Planung der Produktionsanlage am Standort Heilbronn ist in vollem Gange. Dort können dann verschiedenene therapeutische Proteine unter GMP-Bedingungen, also gemäß der Good-Manufacturing-Practice, hergestellt werden. „Mit einem Verfahren, das einfach elegant ist. Das macht den Charme der Arbeit mit Physcomitrella aus“, urteilt Gorr.