Buchrezension
Hannah Monyer und Martin Gessmann: Das geniale Gedächtnis. Wie das Gehirn aus der Vergangenheit unsere Zukunft macht.
Die Neurobiologin Prof. Dr. Hannah Monyer und der Philosoph Prof. Dr. Martin Gessmann geben einen faszinierenden Abriss der revolutionären neuen Erkenntnisse der Gedächtnisforschung. Erinnerungen werden im Gedächtnis nicht einfach abgespeichert, das Erlebte wird vielmehr bei jedem Abrufen verändert und neu aufbereitet. Unter verschiedenen Gesichtspunkten wird gezeigt, wie unser Gehirn mit den Erinnerungen umgeht und aus der Vergangenheit unsere Zukunft macht. So wird aus dem Gedächtnis ein dynamisches Navigationssystem, das uns ermöglicht, vorauszuschauen und unsere Zukunft zu planen.
Das menschliche Gedächtnis ist nicht einfach ein Speicher, in dem unsere Erinnerungen wie in einer Schublade aufbewahrt und bei Bedarf wieder herausgezogen werden. Seine Hauptaufgabe besteht darin, uns zukunftstauglich zu machen, indem das Erlebte ständig neu aufbereitet wird. Jedes Mal, wenn wir eine Erinnerung aus unserem Gedächtnis abrufen, wird sie verändert - vieles wird weggelassen, anderes hinzugefügt – und wenn sie wieder abgelegt wird, hat sie sich verändert. So lernen wir bei jeder Erinnerung dazu, und das Gedächtnis „wird zu einem großen Transformator, der aus Vergangenheit unsere Zukunft macht“ und uns hilft, dass wir im Leben besser vorankommen. In ihrem Buch „Das geniale Gedächtnis“ erklären die Hirnforscherin Hannah Monyer und der Philosoph Martin Gessmann die faszinierenden Erkenntnisse der modernen Neurobiologie und Kognitionswissenschaften, die zu grundlegend neuen Einsichten geführt haben, wie unser Gedächtnis als ein dynamisches Navigationssystem mit fließenden Erinnerungen funktioniert, das uns nicht nur zurückschauen lässt, sondern uns ermöglicht, vorauszuschauen und zu planen, wohin wir gelangen wollen.
Taktgeber und Superdirigenten für die Gedächtnisbildung
Cover des Buchs „Das geniale Gedächtnis“.
© Albrecht Knaus Verlag
Es ist den Autoren gelungen, in klarer, einfacher Sprache mit geringer Verwendung von Fachausdrücken, aber ohne Simplifizierungen, ein Buch für eine breite Leserschaft zu schreiben. An Tierexperimenten und Beispielen aus der Medizin und Neurophysiologie erläutern sie anschaulich, wie unser Gehirn arbeitet, wie Gedächtnisspuren – so genannte Engramme – gelegt, konsolidiert und reaktiviert werden. Sie gehen auch auf die Technologien ein, mit denen der heutige Wissensstand erarbeitet wurde – beispielsweise die Optogenetik Die Funktion der Interneurone wird beschrieben, die als Taktgeber das der Gedächtnisbildung zugrunde liegende Zusammenspiel der Pyramidenzellen im Hippocampus dirigieren. Hinzu kommen die von Hannah Monyer’s Forschungsgruppe in Heidelberg entdeckten Projektionsneurone, die als übergeordnete „Superdirigenten“ weit voneinander gelegene Hirnareale miteinander synchronisieren. Wie die renommierte Neurobiologin Monyer, Trägerin des hoch dotierten Leibnizpreises ausführt, könnten Fehlfunktionen bei diesen Superdirigenten eine Ursache für Autismus sein.
Verschiedene Formen des Gedächtnisses sind zu unterscheiden, nicht nur das Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis. Im Buch werden das Arbeitsgedächtnis, das autobiographische und episodische Gedächtnis behandelt, dazu das emotionale und das kognitive Gedächtnis und am Ende sogar noch das kollektive Gedächtnis. Einen Leser, der nicht vom Fach ist, mag das verwirren, und ein Glossar mit knappen Definitionen wäre hilfreich gewesen – zusätzlich zu den Anmerkungen für die Experten.
Träumen und im Schlafe lernen
Prof. Dr. Hannah Monyer, Ärztliche Direktorin der Abteilung Neurobiologie, Universitätsklinikum Heidelberg und Deutsches Krebsforschungszentrum.
© Hannah Monyer, Universitätsklinikum Heidelberg
Ein langes Kapitel widmen die Autoren dem Schlafen und Träumen als wesentlichen Elementen für unser Lernen und Erinnern. In einem ersten Schritt, dem Tiefschlaf, der – entgegen früherer Ansichten – keineswegs frei von Bildern und Gedanken ist, werden Abläufe und Daten gesichtet und bewertet und die Anteile, die erhalten werden sollen, werden konsolidiert. In der zweiten Phase, dem durch bewegte Bildszenen ausgezeichneten klassischen Traumschlaf oder REM-Schlaf (Abkürzung für „rapid eye movement“) geht es – unter Umständen durch das Durchspielen extremer und unwahrscheinlicher Szenarien - um die Bewertung und Deutung des Tagerlebens. Sie „muss dementsprechend deutlich ausfallen und darf vor Übertreibung und Zuspitzung nicht zurückschrecken.“ Über luzide Träume, bei denen der Träumer sich bewusst ist, dass er träumt, kann man sogar planvoll in das Traumgeschehen eingreifen und im Schlaf trainieren, „ohne auch nur einen Finger krumm zu machen.“
Auch auf Einbildungen, falsche Erinnerungen und das Versagen des Gedächtnisses wird eingegangen. Sie können bei der Arbeitsweise unseres Gedächtnisses nicht ausbleiben, führen aber auch zu Selbstbetrug, zu Manipulationen und absichtlichen Verfälschungen. Zum Erinnern gehört als Kehrseite das Vergessen. Es ist, wie die Autoren schreiben, nicht nur menschlich, sondern bringt uns auch weiter. Die Selektivität unseres Erinnerns ist danach „eine wohldosierte Maßnahme, und das Altern hätte insgesamt eher mit einem Umbau unseres Gedächtnisses zu tun als mit einem Abbau. Das Gedächtnis, wenn es altert, ist nichts, was unser Leben einschränkt, sondern umgekehrt etwas, das uns hilft, mit den anstehenden Aufgaben angemessen umzugehen und fertigzuwerden. Gedächtnis erweist sich einmal mehr als ein Agent unserer Zukunft.“ Doch natürlich gibt es auch Altersdemenz wie die Alzheimer-Krankheit, bei der mit dem fortschreitenden Gedächtnisschwund und dem Rückbau aller Fähigkeiten und Hirnfunktionen, die wir uns in einem langen Leben angeeignet haben, auch die Persönlichkeit verloren geht.
Das Gedächtnis der Gefühle
Das Buch gewinnt seinen besonderen Charme aus der Verbindung von naturwissenschaftlich-medizinischer und philosophisch-geisteswissenschaftlicher Betrachtung und Analyse sowie der Fähigkeit der Autoren, über die eigenen Fachgrenzen hinaus zu schauen. Beide, Hannah Monyer und Martin Gessmann, waren Fellows am Marsilius-Kolleg, einem „Centre for Advanced Study“ der Universität Heidelberg, „an dem interdisziplinär, aber mit disziplinärer Kompetenz Probleme bearbeitet werden, die von einer Disziplin allein nicht gelöst werden können“, so der ehemalige Direktor des Kollegs, Prof. Dr. Dr. Professor Wolfgang Schluchter. Bei allen abgehandelten Themen wird versucht, in vereinfachter Form den neurobiologischen Hintergrund zu erklären - soweit er bekannt ist. Manchmal muss man sich mit Spekulationen begnügen. Auf der anderen Seite nähert man sich mit philosophischen oder psychologischen Analysen dem Problem, wie das Gedächtnis arbeitet, und gibt dazu manche überraschenden Beispiele aus der Literatur und Geistesgeschichte.
Im Kapitel über das Gedächtnis der Gefühle wird geschildert, wie intensive alte Erinnerungen, die bis in die frühe Kindheit zurückreichen können, durch Geschmacks- und Geruchswahrnehmungen hervorgerufen werden: Blitzlichter aus der Vergangenheit („flashbacks), die mit vertrauten Gefühlen besetzt sind, wie sie Marcel Proust in seinem epochalen Werk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ beschrieben hat. Diese Form der Erinnerung geht zurück auf phylogenetisch alte Hirnstrukturen, die schon bei Reptilien und primitiven Säugetieren vorkommen. Im Gegensatz zu Sinnesorganen wie Auge und Ohr sind die Riechzellen auf direkte Weise im Gehirn mit der Amygdala verbunden und können unmittelbar - ohne Einschaltung bewusster Prozesse - zentrale Schaltstellen für die Verarbeitung von Emotionen wie den Hippocampus aktivieren. So werden Gefühle in uns ausgelöst, schreiben Monyer und Gessmann, „noch bevor wir in der Lage sind, dazu eine bewusste Haltung einzunehmen oder es erscheinen Bilder vor unserem geistigen Auge, mit denen wir so nicht hatten rechnen können.“