HepaChip: ein organähnliches Testsystem für Pharma-Nebenwirkungen
Leberschäden stehen auf der Rangliste möglicher Nebenwirkungen von Pharmaka mit an der Spitze. Da Ergebnisse aus dem Tiermodell nur bedingt auf den Menschen übertragbar sind, sind zellbasierte Testsysteme gefragt, die die Organfunktion beim Menschen möglichst gut nachempfinden. Das leistet der neue HepaChip auf der Basis von humanen Leber- und Endothelzellen.
Der HepaChip hat in etwa die Größe eines Objektträgers. Je acht Zellkammern sind hier parallel angeordnet.
© NMI Reutlingen
Immer wieder fallen Medikamente erst in späten Phasen aus der Entwicklungs-Pipeline oder sie müssen wieder vom Markt genommen werden, weil sie bei der Anwendung am Menschen signifikante Leberschäden verursachen. Das bringt nicht nur Gesundheitsprobleme mit sich, sondern auch erhebliche Kostensteigerungen bei der Medikamentenentwicklung und damit höhere Produktpreise. „Rund 25 Prozent der aus Toxizitätsgründen vom Markt genommenen Medikamente werden wegen Leberschäden gestoppt“, weiß Dr. Martin Stelzle, Leiter BioMEMS und Sensorik am NMI Reutlingen. Seine Abteilung widmet sich seit Jahren der Entwicklung zellbasierter Systeme für die Wirkstoff-Testung. Mit dem HepaChip sollen mögliche Leberschäden in Zukunft frühzeitig detektiert werden.
Tiermodelle helfen leider nur begrenzt, denn sie sind nicht zutreffend genug, wie Julia Schütte, Mitentwicklerin des HepaChip, erklärt: „Es gibt zum Beispiel Medikamente, die im menschlichen Organismus viel schneller oder langsamer abgebaut werden als im Tier.“ Hinzu kommen artspezifische Unterschiede im Stoffwechsel. „Häufig ist nicht der Wirkstoff selbst toxisch, sondern ein oder mehrere seiner Metabolite, die im menschlichen Stoffwechsel und manchmal nur in diesem entstehen“, so Simon Werner, der zusammen mit Schütte den HepaChip entwickelt hat.
Das Besondere an dem BioChip ist nicht nur die Verwendung von humanen Leberzellen, sondern die spezielle Art ihrer Kultivierung, wie Schütte erklärt: „In herkömmlichen Kulturgefäßen kann man Substanzen für mehrere Stunden bis hin zu wenigen Tagen auf ihre zelluläre Wirkung testen. Mit unserem System sind wir heute schon so weit, dass die Zellen über mehrere Tage vital bleiben können, wobei es unser Ziel ist, Wirkstoffe bis zu mehrere Wochen hinweg zu inkubieren. Das erlaubt uns realistische Tests des Metabolismus.“ Dafür musste ein spezielles Design entwickelt werden, das sich zudem in minimalistischem Stil präsentiert, um den BioChip einfach, schnell und günstig zu machen – natürlich ohne Einbußen bei der Zuverlässigkeit und Reproduzierbarkeit.
Organähnliche Bedingungen sorgen für realistische Testergebnisse
Großansicht:
Im HepaChip wird die Funktionseinheit eines Lebersinusoids nachempfunden.
© NMI Reutlingen
Hinzu kommt das besondere Plus des Biochips: Durch den „Einbau“ von Endothelzellen als zweitem Zelltyp im System kommt der Chip der echten Stoffwechselsituation in der Leber sehr nahe. „Zellen in dreidimensionaler Kultur zu halten und Substanzen einwirken zu lassen, ist das eine. Aber zu einer Leberstruktur gehören mehrere Zelltypen, und mit unserem HepaChip empfinden wir die Funktionseinheit des Lebersinusoids nach“, erklärt Schütte. In einem echten Lebersinusoid, einem Kapillargefäß, das mit einem Durchmesser von rund 80 Mikrometern etwa so dick ist wie ein menschliches Haar, sind die Leberzellen umgeben von Endothelzellen. Sie vermitteln den Transport von Nährstoffen sowie Stoffwechselprodukten zwischen Blutgefäß und Leberzelle.
Sowohl in der Dimension als auch in der Anzahl der Zellen im Sinusoid ist der HepaChip der In-vivo-Situation nachempfunden. Ausgangsmaterial für seine Konstruktion sind Polymerträger, ähnlich den Objektträgern, die für mikroskopische Zwecke verwendet werden. Die Polymeroberfläche wird an den Stellen, wo später Zellen binden sollen, durch Bestrahlung mit UV-Licht funktionalisiert. Dadurch können hier ortsaufgelöst Kollagen-Proteine binden, an die wiederum Zellen binden können. Praktischerweise sind die so funktionalisierten Chips über Monate hinweg lagerfähig, um erst bei Bedarf mit Proteinlösung überspült zu werden. Die Zellen werden dann mittels Dielektrophorese aufgebracht.
Die Technologie dafür wurde am NMI entwickelt. „Der Effekt basiert darauf, dass Partikel in einem elektrischen Feld eine Kraft erfahren. Wir können das Hochfrequenzfeld so steuern, dass die Zellen sich in der gewünschten Sinusoidstruktur anordnen“, sagt Schütte, und Stelzle ergänzt: „Die aktive und selektive Anordnung der Zellen ist tatsächlich das Alleinstellungsmerkmal unserer Technologie.“
Der HepaChip im Detail: Auf den funktionalisierten Oberflächen der Stege werden die Zellen mithilfe einer am NMI entwickelten Dielektrophorese-Technologie aufgebracht.
© NMI Reutlingen
Von hier bis zu einem funktionierenden BioChip galt es noch ein gutes Stück Weges zurückzulegen. „Der Knackpunkt war die Verwendung von humanen Hepatozyten. Die Zellen können zwar kryokonserviert gekauft werden, die Medien und Auftauprozesse mussten wir dann jedoch optimieren, um möglichst viele vitale Zellen zu erhalten. Unser Vorteil war, dass die Dielektrophorese nur mit lebenden Zellen funktioniert, sodass wir bei der Chipherstellung automatisch auf vitale Zellen selektionieren“, so Schütte. Insgesamt befinden sich etwa 3.000 bis 4.000 Zellen auf einem Chip, wobei mehrere Hundert jeweils eine sinusoidähnliche Struktur bilden. Derartig wenige Zellen bilden entsprechend wenig Stoffwechselprodukte, was die Entwickler vor neue Herausforderungen stellte, wie Werner erklärt: „So wenig Metaboliten muss man erst einmal messen können. Inzwischen haben wir Tests mit Markerproteinen etabliert, um zu gewährleisten, dass sich die Zellen auf dem Chip tatsächlich noch wie Leberzellen verhalten.“
Aktuell sind die Forscher dabei, das HepaChip-System zu parallelisieren und zu automatisieren, um Anwendungen im großen Stil zu ermöglichen. Ein wichtiger Meilenstein dabei war die Entwicklung begasbarer und beheizbarer Chip-Varianten, die außerhalb eines Inkubators kultiviert werden können. Zurzeit handelt es sich noch um ein Einkanalsystem, das später auch zur Mehrkanaltestung im Mikrotiterplatten-Format Anwendung finden soll. Außerdem ist das Prinzip nicht nur für Lebertests geeignet, wie Schütte verrät: „Wir haben inzwischen auch ein Projekt gestartet, um auf der gleichen Basis ein Modell für die Blut-Hirn-Schranke zu entwickeln.“ Als „Nebeneffekt“ will das Team die Dielektrophorese-Technologie zur organähnlichen Ansammlung von Zellen für Forschungsanwendungen weiterentwickeln.
Gute Marktchancen
Dass der HepaChip nicht nur ein überzeugendes Forschungsprodukt ist, sondern großes wirtschaftliches Potenzial bietet, wurde dem Entwicklerduo beim Science2Start-Wettbewerb 2011 bescheinigt. Das Konzept für ein marktreifes HepaChip-System war so überzeugend, dass die Jury dafür den dritten Preis vergab. „Unabhängig von unserem guten Abschneiden hat uns das Feedback sehr geholfen, das jeder Science2Start-Teilnehmer erhält“, sagt Schütte. Die Preisträger wurden dadurch noch mehr angespornt, ihr Testsystem weiter zu optimieren. Dabei können sie auf kompetente Unterstützung auch außerhalb des NMI zählen. „Professor Dr. Rolf Gebhardt ist ein Leberspezialist an der Universität Leipzig, den wir schon in der Startphase vor etwa fünf Jahren als ‚Indikator’ für unser Projekt heranzogen. Seine Begeisterung gab uns damals den Mut, weiterzumachen. Er hat sich dann auch an dem Projekt beteiligt“, sagt Schütte.
Während in einer ersten BMBF-geförderten Phase ab 2007 die Grundlagen erarbeitet wurden, werden diese nun in einem zweiten, ebenfalls BMBF-geförderten Projekt verfeinert, so dass die Markteinführung in greifbare Nähe rückt. „Die Datenlage wurde immer besser, das Leipziger Team hat uns eine hohe Aktivität der Zellen bestätigt im Vergleich zur In-vivo-Situation“, freut sich Werner. Das Team schließt inzwischen nicht aus, noch vor Ablauf der derzeitigen Förderphase mit der HepaChip-Technologie ein Unternehmen zu gründen. „Ein Finanzierungsplan über fünf Jahre ist bereits erstellt und die Patentstrategie steht, wobei die Hauptpatente bereits erteilt sind und sich weitere drei im Prozess befinden“, so Schütte. Das neue HepaChip-Unternehmen wäre das vierzehnte in der Reihe erfolgreicher Ausgründungen aus dem NMI, das hervorragende Schützenhilfe geleistet hat, wie das Team unisono bekräftigt.