Humangenomforschung und Verantwortung
Auf einem Symposium im BioQuant der Universität Heidelberg diskutierten namhafte Wissenschaftler aus unterschiedlichen Blickwinkeln normative Fragen und gesellschaftliche Probleme, die aus der - in naher Zukunft routinemäßig möglichen - vollständigen Sequenzierung menschlicher Genome resultieren. Veranstalter war das Heidelberger Marsilius-Kolleg, an dem das interdisziplinäre Forschungsprojekt EURAT („Ethische und rechtliche Aspekte der Totalsequenzierung des menschlichen Genoms“) angesiedelt ist.
Seit das Humangenomprojekt Anfang dieses Jahrtausends zum offiziellen Abschluss gebracht worden war, hat es in den Sequenziertechnologien so gewaltige Fortschritte gegeben, dass inzwischen komplette Genomanalysen von mindestens tausend menschlichen Individuen durchgeführt worden sind. Spätestens in wenigen Jahren wird die Totalsequenzierung menschlicher Genome mit ihren jeweils drei Milliarden Basenpaaren technisch eine Routineangelegenheit sein, die schnell und zu relativ geringen Kosten durchgeführt werden kann. Die Kenntnis individueller Genomvariabilitäten lässt Schlüsse auf genetisch bedingte Krankheiten und Krankheitsdispositionen zu, und viele Wissenschaftler erhoffen sich neue Wege zur Therapie bisher unheilbarer Krankheiten wie Krebs.
Auf die weitreichenden ethischen, rechtlichen und ökonomischen Fragen, die sich aus der Sequenzierung der Genome ergeben, sind wir aber unzureichend vorbereitet, betonte Prof. Dr. Klaus Tanner in seiner Einführung zum Symposium „Forschung und Verantwortung im Konflikt?“, das am 15. und 16. März 2012 am BioQuant der Universität Heidelberg durchgeführt wurde. Zusammen mit dem Humangenetiker und Dekan der Medizinischen Fakultät Heidelberg, Prof. Dr. Claus R. Bartram, hatte Tanner das Symposium wissenschaftlich vorbereitet.
Prof. Dr. Klaus Tanner
© Marsilius-Kolleg der Universität Heidelberg
Tanner, Lehrstuhlinhaber für Systematische Theologie/Ethik am Wissenschaftlich-Theologischen Seminar der Universität Heidelberg, ist Mitglied der Zentralen Ethikkommission der Bundesregierung für Stammzellenforschung. Er wurde als Fellow an das Marsilius-Kolleg der Universität Heidelberg berufen und ist Sprecher des am Marsilius-Kollegs angesiedelten interdisziplinären Forschungsprojekts „EURAT - Ethische und rechtliche Aspekte der Totalsequenzierung des menschlichen Genoms" (BIOPRO-Artikel Das EURAT-Projekt am Marsilius-Kolleg Heidelberg). EURAT ist ein Gemeinschaftsprojekt von Wissenschaftlern der Universität und des Universitätsklinikums Heidelberg, des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), des Europäischen Molekularbiologischen Laboratoriums (EMBL), des Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht sowie, als externem Partner, der Forschungsstelle für Gesundheitsökonomie der Universität Hannover.
Der Leiter der Forschungsstelle, Prof. Dr. J.-Matthias Graf von der Schulenburg, referierte über die gesundheitsökonomischen Implikationen der Totalsequenzierung des menschlichen Genoms, während der Humangenetiker Prof. Dr. Peter Propping auf das durch eine genomweite Sequenzierung veränderte Verhältnis von Arzt und Patient einging. Propping ist Seniorprofessor an der Universität Bonn und Sprecher des Verbundprojektes „Erblicher Darmkrebs" der Deutschen Krebshilfe. Als Vorsitzender der Akademiengruppe (i.e. Leopoldina, acatech und Union der deutschen Akademien der Wissenschaften) war er für die Stellungnahme zur prädiktiven genetischen Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention verantwortlich.
Ein widersprüchliches Gendiagnostikgesetz
Gegenwärtig ist der Nutzen der Genomsequenzierung für die Krankenversorgung unbestimmt und ihr Potenzial für die Früherkennung oder gar Prävention von Krankheiten nicht vorhersehbar. Die auf das Gesundheitswesen zukommenden Kosten sind nicht berechenbar; sicher ist, dass die Sequenzierung selbst nur einen Bruchteil der Folgekosten ausmacht. Entscheidungskriterium für die ärztlichen Maßnahmen muss der voraussichtliche Nutzen für den Patienten sein, was gegebenenfalls auch mit erhöhten Kosten erkauft werden muss. Um aber dazu einigermaßen verlässliche Aussagen zu bekommen, muss noch erhebliche Forschungsarbeit geleistet werden. Die oft befürchtete Verwendung der Informationen aus genetischen Untersuchungen durch Versicherungen oder Arbeitgeber ist durch das Deutsche Gendiagnostikgesetz (GenDG) bereits geregelt, und zwar restriktiv zum Schutze des Versicherungsnehmers bzw. Beschäftigten. Danach dürfen weder Versicherer noch Arbeitgeber die Vornahme genetischer Untersuchungen oder Analysen verlangen noch derartige Ergebnisse entgegennehmen oder verwenden.
Prof. Dr. Claus R. Bartram, Dekan der Medizinischen Fakultät Heidelberg.
© Universitätsklinikum Heidelberg
In anderen Aspekten, etwa beim Neugeborenen-Screening, bei der Datenspeicherung und bei der Beratungsqualifikation der Ärzte, wird das am 1. Februar 2010 in Kraft getretene GenDG von den Experten aber als problematisch und widersprüchlich kritisiert und eine Novellierung dringend gefordert. So bewertet das Gesetz die Schweigepflicht des Arztes höher als seine Fürsorgepflicht gegenüber dem Patienten, was zu schwerwiegenden Konflikten führen kann. Wenn beispielsweise bei einem Patienten eine autosomal dominant vererbte Krankheit wie etwa erbliche Formen von Brustkrebs oder Darmkrebs erkannt worden ist, hat der Arzt keine Handhabe, die Verwandten des Patienten darüber zu informieren, dass sie betroffen sein könnten. Dabei wäre eine frühe Diagnose gerade bei diesen Krankheiten für die Therapie von größtem Nutzen. Die Information kann nur vom Patienten weitergegeben werden, aber der Arzt hat keine Möglichkeiten zu prüfen, ob das auch geschieht.
Informierter Konsens
Derartige Probleme treten auch bei den heute schon verfügbaren genetischen Tests auf. Die Problematik verschärft sich aber mit den Totalsequenzierungen massiv, sodass die bisherigen Antworten nicht mehr ausreichen. Wie die neuen Antworten aussehen können, ist bislang jedoch unklar.
Ein zentrales Element unserer Medizinethik ist eine adäquat informierte Zustimmung des Patienten zu jeder diagnostischen Maßnahme und jeder vom Arzt vorgeschlagenen Behandlung („informed consent“). Um diese Aufklärung leisten zu können, muss der Arzt entsprechend qualifiziert sein. Für die zu erwartende Flut von erforderlichen genetischen Beratungen reicht die Zahl der Humangenetiker in Deutschland bei Weitem nicht aus. Die nach einer neuen Richtlinie zur genetischen Beratung, nach der Fachärzte anderer Disziplinen die erforderliche Zusatzqualifikation erwerben können, macht jedoch nach Meinung von Professor Bartram die genetische Beratung zu einem „Etikettenschwindel“.
Ein grundsätzliches Problem liegt aber bereits darin, dass eine Aufklärung über alle möglichen relevanten Befunde, die sich für den Betroffenen aus einer Totalsequenzierung des menschlichen Genoms ergeben, bei bester Fachkenntnis unmöglich ist: Gegenwärtig sind über 2.000 Erbkrankheiten bekannt, was die eigentlich geforderte Aufklärung im Vorhinein völlig ausschließt. Aber auch eine Aufklärung nach der Analyse über alle identifizierbaren genetischen Risiken (voraussichtlich über hundert bei jedem Menschen) würde ein tagelanges „privatissime“ mit dem Facharzt erfordern.
Krebs, die genomische Krankheit
Befürworter einer umfassenden, individuellen Sequenzierung finden sich vor allem unter den Krebsforschern, die sich davon, unter Einsatz aller Möglichkeiten der Systembiologie und der Datenverarbeitung, Fortschritte in der Behandlung versprechen. Es hat sich gezeigt, dass bei vielen Krebsformen zahlreiche - manchmal viele tausende - Mutationen auftreten, und zwar mit unterschiedlichem Muster oft bei ein- und derselben Krebsart. Als Konsequenz aus der Erkenntnis, dass Krebs eine genomische Krankheit mit individuell unterschiedlicher Ausprägung ist, wurde das - inzwischen begonnene - Internationale Krebsgenomprojekt ins Leben gerufen, das größte biomedizinische Forschungsvorhaben seit dem Humangenomprojekt. Forscher vom DKFZ, wie Prof. Dr. Peter Lichter und Prof. Dr. Roland Eils, und vom EMBL, wie Dr. Jan Korbel, die auch in der EURAT-Projektgruppe mitarbeiten, sind von deutscher Seite her maßgeblich am Internationalen Krebsgenomprojekt beteiligt.
Neben der Bewältigung und Kontrolle der ungeheuren Datenmengen, die aus den genomweiten Sequenzierungen resultieren, stellt die Frage der medizinischen Signifikanz eine der größten Herausforderungen für die Forschung dar. Wie können beispielsweise Sequenzveränderungen in der DNA mit Krankheitswert von unbedeutenden Veränderungen unterschieden werden? Die Frage führt zu grundsätzlichen Problemen, denen der Vortrag von Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Jörg Rheinberger gewidmet war.
Der Begriff „Gen“ in Auflösung
Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Jörg Rheinberger
© Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte
Der Molekularbiologe und Philosoph Rheinberger, bis 2011 Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, befasste sich mit epistemologischen, das heißt erkenntnistheoretischen Fragen der Genomanalyse. Dazu stellte er das Konzept der Vererbung und die Definition des Begriffs Gen selbst in den Mittelpunkt, eines Begriffs, der seit seiner Einführung anno 1909 durch den Dänen Wilhelm Johannsen vielfache Wandlungen durchgemacht hat. Die „klassischen" Konzepte von Beadle und Tatum („Ein Gen - ein Protein") und von Jacob und Monod („Operon") haben sich längst als viel zu einfach erwiesen. Nicht nur, dass DNA-Abschnitte manchmal vor- und rückwärts abgelesen werden und für mehrere Genprodukte kodieren können, dass Gene nicht-kodierende Sequenzen haben, editiert und gespleißt werden - heute glauben wir, dass sich die meisten Merkmale nicht in einzelnen DNA-Abschnitten, sondern in Regulationsnetzwerken manifestieren. Krankheiten wiederum sind Störungen solcher sich selbst regulierender Netzwerke.
Unter den ca. 23.000 Protein-codierenden Genen des Menschen hat man 2.000 bis 3.000 als „krankheitsverursachend" identifiziert - aber diese Bezeichnung ist zweifelhaft, besagt sie doch nur, dass man eine Assoziation zwischen der Expression oder Nicht-Expression eines Gens und einem Krankheitsbild gefunden hat. Die Beobachtungen beruhen meist auf Analysen von Genmutationen oder Knockout-Experimenten an Tieren. Sehr häufig findet man aber, dass das gleiche Krankheitsbild auch durch Mutationen verschiedener Gene bedingt ist. Andererseits können durch die Mutationen Veränderungen des genetischen Netzwerks mit komplexen, unter Umständen genomweiten Auswirkungen verursacht werden.
So verschwimmt der Genbegriff heute immer mehr. Seine strenge Definition fiel dem Fortschritt der Genetik zum Opfer; das Objekt „Gen“ löst sich in einen neuen, durch die Systembiologie abgesteckten Raum auf. So wird auch die Genomsequenzierung zu einem Objekt der am individuellen Organismus ansetzenden Systembiologie. Damit ist der Wandel der Begriffe und Konzepte aber sicher nicht beendet. Der inzwischen oft verwendete Begriff „Postgenomik“, in deren Ära wir uns angeblich befinden, drückt diesen Wandel bereits aus.
Literatur: Staffan Müller-Wille, Hans-Jörg Rheinberger: Das Gen im Zeitalter der Postgenomik. Eine wissenschaftliche Bestandsaufnahme. Edition Unseld 25, Suhrkamp, 2009