Innovative Zellstress-Messung zur Entwicklung neuer Krebsmedikamente
DNA-Schädigungen in unseren Zellen können zum Zelltod oder zu potenziell krebsauslösenden Mutationen führen. Um Langzeitfolgen zu verhindern, hat die Zelle Reparaturmechanismen entwickelt, die in Sekundenschnelle mit der Behebung dieser Schäden beginnen. Einer dieser Mechanismen ist die chemische Ankopplung von Poly(ADP-Ribose) (PAR), einem Nukleinsäure-ähnlichen Biopolymer, an eine Vielzahl zellulärer Proteine. Um diesen Prozess genauer untersuchen zu können, hat Dr. Aswin Mangerich von der Universität Konstanz gemeinsam mit Kollegen eine neue massenspektrometrische Messmethode entwickelt, die die vorhandene PAR-Menge in Zellen mit hoher Spezifität und Sensitivität quantitativ erfasst. So können neue Einsichten in den zellulären PAR-Metabolismus gewonnen werden, die beispielsweise für die Entwicklung von Krebsmedikamenten von Bedeutung sind.
Dr. Aswin Mangerich (Mitte) hat gemeinsam mit Dr. Rita Martello (links) und Prof. Dr. Alexander Bürkle (rechts) von der Universität Konstanz in Kooperation mit dem Massachusetts Institute of Technology (Cambridge, USA) eine neue Messmethode zur exakten Quantifizierung von Poly(ADP-Ribose) entwickelt.
© Universität Konstanz
Die Poly(ADP-ribosyl)ierungs-Reaktion stellt eine posttranslationale Modifikation von Proteinen dar, ähnlich wie Phosphorylierung, Acetylierung etc. Verantwortlich für diesen Prozess sind Poly(ADP-Ribose)-Polymerasen (PARPs), die die PAR an Proteine anknüpfen.
Das geschieht in der Zelle beispielsweise, wenn DNA-Schäden durch natürliche Stoffwechselvorgänge oder externe Einwirkung in Form von Strahlung, Hitze oder chemischen Substanzen auftreten. „Es wird angenommen, dass bei DNA-Schäden hierdurch zelleigene „DNA-Reparaturwerkzeuge“ gezielt an die Schadensstelle herangeführt werden und somit verschiedene Reparaturmechanismen in der Zelle unterstützt und koordiniert werden“, erläutert Dr. Aswin Mangerich von der Universität Konstanz, der sich als Molekular-Toxikologe mit dem PAR-Metabolismus beschäftigt. Durch die Poly(ADP-Ribosyl)ierung von Proteinen kann beispielsweise deren enzymatische Aktivität, ihre zelluläre Lokalisation und ihre Interaktion mit anderen Proteinen beeinflusst werden.
Neben der DNA-Reparatur ist die Poly(ADP-ribosyl)ierungs-Reaktion an weiteren physiologischen und pathophysiologischen Vorgängen in der Zelle beteiligt, wie beispielsweise der Gentranskription, der Regulation der zellulären Entzündungsantwort und der Steuerung von Zelltodmechanismen. Derzeit sind außerdem etliche pharmakologische Hemmstoffe der Poly(ADP-Ribosyl)ierungs-Reaktion (sogenannte PARP-Inhibitoren) als Tumortherapeutika in der klinischen Entwicklung, da sie die DNA-schädigende Wirkung etablierter Tumortherapien verstärken.
Die dabei durch bestimmte Krebsmedikamente absichtlich herbeigeführten DNA-Schäden sollen die Tumorzellen in den Zelltod treiben. „Bei einigen Tumoren mit spezieller genetischer Konstellation, wie zum Beispiel erblichem Brustkrebs (bedingt durch Mutationen in den BRCA-Genen), können PARP-Inhibitoren sogar direkt tumorhemmend wirken (dem Prinzip der synthetischen Letalität folgend)“, ergänzt Dr. Mangerich.
Nicht nur die Spitze des Eisbergs
Der zelluläre Poly(ADP-Ribose)-Metabolismus ist ein hoch dynamischer Prozess, da die Menge an PAR in einer Zelle nach DNA-Schädigung um das Hundertfache ansteigen, aber auch durch zelleigene Enzyme sehr schnell degradiert werden kann. Diese Dynamik und Variabilität stellt auch ein Problem für Messungen der PAR-Menge dar. Bei bisherigen Messmethoden wurde PAR hauptsächlich indirekt mithilfe von daran bindenden Antikörpern detektiert. Diese Messung besitzt allerdings nur eine eingeschränkte Sensitivität und einen limitierten linearen Messbereich, was die Detektion des physiologischen Levels und die Quantifizierung sehr schwierig oder gar unmöglich macht. „Wir wollten eine neue Methode entwickeln für die exakte Bestimmung von Poly(ADP-Ribose) in Zellen und Geweben, um die physiologische und pathophysiologische Rolle dieser posttranslationalen Modifikation weiter grundlagenwissenschaftlich aufzuklären“, schildert Dr. Mangerich.
Die neue Methode basiert auf dem direkten Nachweis von Poly(ADP-Ribose) mittels Massenspektrometrie. Hierzu wird die Poly(ADP-Ribose) über biochemische Verfahren aus Zellen oder Gewebe extrahiert und enzymatisch in kleinere Einheiten mit einer charakteristischen Masse verdaut. Anschließend werden diese mittels HPLC separiert und im Massenspektrometer detektiert. Zur Quantifizierung wird den Proben bereits während der Extraktion ein „interner Standard“ zugesetzt. Es handelt sich dabei um Isotopen-markierte Poly(ADP-Ribose), deren chemisch-enzymatische Synthese eigens für die Anwendung dieser Methode entwickelt wurde.
Dieser interne Standard hat identische biochemische Eigenschaften wie die zelluläre zu messende Poly(ADP-Ribose), hat aber durch die eingebauten Isotope eine veränderte Masse, so dass er sich zweifelsfrei als zugesetzte Referenz-Substanz im Massenspektrometer identifizieren lässt. „Hierdurch können technische Variationen während der Probenaufarbeitung ausgeglichen werden“, erklärt Aswin Mangerich.
Weiterhin lässt sich auf diese Art und Weise die Anzahl der Poly(ADP-Ribose)-Moleküle direkt abschätzen. Wie groß die Vorteile der neuen Methode sind, veranschaulicht Dr. Mangerich in einem Vergleich: „Die Situation ähnelt einem Eisberg: Durch die Detektion mittels Antikörpern „sieht“ man nur die Spitze des Eisbergs, während die massenspektrometrische Methode auch den Teil erfassen kann, der „unter Wasser“ liegt.“ Weiterhin erlaubt die Massenspektrometrie eine strukturelle Charakterisierung der Poly(ADP-Ribose)-Moleküle. Außer der Menge können dadurch auch die Kettenlänge und der Verzweigungsgrad des Biopolymers untersucht werden, was für bestimmte molekularbiologische Fragestellungen entscheidend ist.
Entwicklung neuer Chemotherapeutika durch PAR-Messung
Ablauf der neu entwickelten Messung von Poly(ADP-Ribose) (PAR) Links: Schema der Arbeitsschritte zur quantitativen Messung von PAR in menschlichen Blutzellen (PBMC= Peripheral Blood Mononuclear Cell, z.B. Lymphozyten und Monozyten). Rechts: Biochemisches und bioanalytisches Prinzip zur Detektion der PAR mittels Massenspektrometrie. Nach der quantitativen zellulären Extraktion und des enzymatischen Verdaus der PAR entstehen Moleküle, die spezifisch für verschiedene Strukturen des PAR-Moleküls sind und die sich massenspektrometrisch analysieren lassen.
© Martello, R., Mangerich, A., Sass, S., Dedon, P.C., Bürkle, A., 2013. Quantification of cellular poly(ADP-ribosyl)ation by stable isotope dilution mass spectrometry reveals tissue- and drug-dependent stress response dynamics. ACS Chemical Biology
Mit Hilfe der entwickelten Methode konnten die Forscher bereits neue Erkenntnisse erlangen. „Wir konnten zeigen, dass die Poly(ADP-Ribosyl)ierungs-Reaktion in unterschiedlichen Zelltypen und bei verschiedenen Individuen teilweise sehr unterschiedlich ausfällt, was sowohl in der Krebsentstehung als auch in der Krebsbehandlung von Bedeutung sein kann“, beschreibt Dr. Mangerich die Erfolge.
Die Methode eröffnet ganz neue Möglichkeiten zur Erforschung der Poly(ADP-Ribosyl)ierungs-Reaktion. „Insbesondere die physiologischen Poly(ADP-Ribosyl)ierungs-Reaktionen sind noch ein weitgehend unerforschtes Gebiet“, erklärt Dr. Mangerich. Auch für die Medikamentenentwicklung kann die Methode eine große Rolle spielen. Chemische PARP-Inhibitoren, die sich zurzeit in der klinischen Entwicklung zur Tumortherapie befinden, können mit Hilfe der Messung hinsichtlich ihrer Wirkungsweise und Effizienz pharmakologisch genau charakterisiert werden. So kann beispielsweise überprüft werden, inwieweit diese Inhibitoren im Zielgewebe tatsächlich hemmend wirken.
„Darüber hinaus wurde bei verschiedenen Tumoren gezeigt, dass die Poly(ADP-Ribosyl)ierungs-Aktivität als Marker für die Ansprechrate des Tumors auf bestimmte chemotherapeutische Maßnahmen dienen kann“, erklärt Aswin Mangerich. Eine genaue Charakterisierung des Poly(ADP-Ribose)-Metabolismus in Tumorgewebe kann daher Informationen über die Erfolgsaussichten einer bestimmten Therapieform liefern.