Interpretation beeinflusst Sehprozess
Wie visuell Wahrgenommenes im Gehirn verarbeitet wird, erforscht Dr. Hendrikje Nienborg. Ihre wichtigste Erkenntnis ist: Unsere Vorstellung, unsere Interpretation beeinflusst den Sehprozess. Welche Mechanismen in der Sehrinde dafür verantwortlich sind, untersucht die Neurowissenschaftlerin an wachen Säugetieren. Und: Für die Grundlagenforschung erhielt Nienborg einen ERC Starting Grant in Höhe von 1,9 Millionen Euro.
Dr. Hendrikje Nienborg erhält den „Starting Grant“ für ihre Forschung zu neuronalen Grundlagen visueller Wahrnehmung.
© Vey/BioRegioSTERN
„Was wir glauben zu sehen oder unsere Erwartung verändert, was wir tatsächlich sehen“, meint Nienborg. Als Beispiel nennt sie einen Menschen, der im Nebel auf einen Bekannten wartet und weiß, dass der Kommende eine rote Jacke trägt. Der Mensch befindet sich in einer unscharfen, ungenauen Situation: Er kann kaum etwas sehen. Deshalb wird er gezielt nach der roten Farbe suchen, und taucht in der Ferne etwas auf, tendiert der Wartende dazu, darin einen rötlichen Ton zu erkennen. Seine Erwartung floss in den Sehprozess ein.
Um herauszufinden, welche Signale und neuronalen Verbindungen im Gehirn für diese Beeinflussung verantwortlich sind, macht Nienborg Versuche mit Säugetieren. Den Tieren wurden verschiedene einfache Bildobjekte, eine Scheibe, die entweder vor oder hinter einem Ring zu sehen ist, auf einem Monitor gezeigt. Die Tiere mussten nun auswählen, wo der Ring liegt. Anfangs war die Testanordnung so angelegt, dass es leicht und eindeutig war, diese Unterscheidung zu treffen. Aber durch geschickte grafische 3-D-Manipulation wurden die Bilder zweideutig gemacht, so dass die Tiere keine klare Zuordnung treffen konnten. Sie wurden damit in eine Situation versetzt, die der wartenden Person im Nebel ähnelt: eine unklare und mehrdeutige Lage. Nun mussten die Tiere einfach raten, was die richtige Antwort ist. Das heißt, manchmal deuten sie, die Scheibe stehe vorne, manchmal sie stehe hinter dem Ring. Und das bot Nienborg neue Erkenntnisse. Denn das Bild, das die Tiere sahen, war identisch, aber nicht ihre Entscheidung. Der Unterschied in dem, was die Tiere denken zu sehen, muss im Gehirn ablaufen, da ja das Bild immer das gleiche ist.
Welche Rolle spielt die Hirnrinde?
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Dr. Hendrikje Nienborg wird in ihrem Forschungsprojekt die Rolle von top-down Einflüssen auf die Signalverarbeitung visueller Information bei Entscheidungsprozessen an wachen Säugetieren untersuchen. Es wird erwartet, dass grundlegende Erkenntnisse gewonnen werden, die auf Wahrnehmungs- und Entscheidungsprozesse des Menschen übertragbar sind.
© Nienborg
Nienborg konzentrierte sich nun darauf, was in der sekundären Hirnrinde passiert. Sie konnte anhand von Hirnmessungen nachweisen, dass Nervenzellen, die auf die 3-D-Tiefenwahrnehmung spezialisiert sind, an dem Wahrnehmungsprozess beteiligt sind.
Mit dieser Erkenntnis entwickelte Nienborg ein anderes als das bislang gedachte Modell. Es galt die Vorstellung, die frühen Stationen der Sehverarbeitung seien objektive Nervenleitungen; diese Sinnesleitung wird als „Bottom-up“ (von unten nach oben) bezeichnet. Doch Nienborg zeigt mit ihren Versuchen, dass nicht nur das vom Auge Wahrgenommene eine Rolle beim Sehen spielt, sondern auch die Verarbeitung in der Hirnrinde: Diese Signale in den höheren Verarbeitungszentren in der Hirnrinde werden „Feed-back-Signale“ genannt.
Nienborgs Ergebnisse sprechen nun dafür, dass selbst bei einfachen visuellen Aufgaben - der Entscheidung, wo die Scheibe liegt - in der Hirnrinde eine Interpretation des Wahrgenommen geschieht. Diese Interpretation wird vom Hirn weitergegeben: „Top-Down“ (von oben nach unten) heißt dieser Vorgang.
Ein faszinierendes Forschungsgebiet sei es, denn „ich kann gewissermaßen die Gedanken der Tiere lesen. Von der Aktivität einer einzigen Nervenzelle lässt sich mit teilweise sehr hoher Wahrscheinlichkeit vorhersagen, welche Entscheidungen die Tiere treffen werden“. Nienborg geht zudem davon aus, dass bei der Wahrnehmungsverarbeitung Erinnerungen und Erfahrungen einfließen.
Rückkehr nach Baden-Würrtemberg
Mit den Mitteln aus dem ERC Starting Grant in Höhe von 1,9 Millionen Euro baut Hendrikje Nienborg ihre Forschung weiter aus. Promovierte Wissenschaftler mit mindestens zwei Jahren Forschungserfahrung können sich beim Europäischen Forschungsrat (ERC) um eine solche Förderung bewerben. Seit 2007 werden dafür europaweite Projekte aus der Grundlagen- und Pionierforschung ausgesucht und unterstützt.
Per E-Mail erhielt Nienborg die Nachricht, dass sie zu den Ausgewählten gehört. „Sehr gefreut“, habe sie sich, obwohl die Botschaft sie zunächst vor eine schwierige Entscheidung stellte. Denn die Promotion am National Eye Institute of Health (NIH), Bethesda, war abgeschlossen und die Weiterarbeit am Salk Institute for Biological Studies in San Diego sollte bald auslaufen. Eigentlich hatte sie vor gehabt, in den USA zu bleiben, weil ihr dort eine Professur angeboten worden war. Nun bot der Preis aber die Möglichkeit nach Europa zu gehen. Nach neun Jahren USA-Aufenthalt kehrte Nienborg wieder nach Deutschland zurück. In Freiburg geboren, wuchs sie bei Lörrach auf und begann 1996 in Göttingen das Medizinstudium. Seit Juli leitet die Forscherin im Tübinger Zentrum für Integrative Neurowissenschaften ihre eigene Forschungsgruppe „Neurophysiology of visual and decision processes“.
„Noch ist es zu früh zu sagen, wo sich meine Forschungsergebnisse anwenden lassen“, erklärt Nienborg. Doch in die Zukunft gedacht, kann sich die junge Wissenschaftlerin vorstellen, dass ihre Grundlagenforschung zum besseren Verständnis von Demenz und Schizophrenie führen könnte. Bei diesen Krankheiten gibt es Aufmerksamkeitsdefizite. Dass dabei auch die neuronale Verarbeitung von visuellen Wahrnehmungen gestört sein könnte, wäre denkbar und damit ein neuer Baustein bei diesen Krankheitsbildern. Als weitere Anwendungsmöglichkeit sieht Nienborg, dass ihre Erkenntnisse helfen, von menschlichen Informationsverarbeitungs-Prozessen inspirierte Roboter zu entwickeln.