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Jan Wehkamp – den Ursachen chronisch-entzündlicher Darmerkrankungen auf der Spur

Es braucht eine gehörige Portion Mut, um eine gängige Lehrmeinung infrage zu stellen – vor allem dann, wenn man erst am Anfang seiner wissenschaftlichen Laufbahn steht. Der Mediziner Dr. Jan Wehkamp hat es dennoch gewagt und zusammen mit seinem wissenschaftlichem Partner Professor Dr. Eduard Stange vor zehn Jahren ein neues Erklärungsmodell für die Entstehung chronisch-entzündlicher Darmerkrankungen geliefert. Von seiner Hartnäckigkeit könnten schon bald zahlreiche Morbus Crohn- und Colitis ulcerosa-Patienten profitieren, denn Wehkamps Forschung am Dr. Margarete Fischer-Bosch-Institut für klinische Pharmakologie des Stuttgarter Robert-Bosch-Krankenhauses weckt berechtigte Hoffnungen für neuartige Therapien.

PD Dr. med. Jan Wehkamp forscht über chronisch-entzündliche Darmerkrankungen © Robert-Bosch-Krankenhaus

Als Jan Wehkamp 1993 in Lübeck sein Medizinstudium begann, galten die chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen Morbus Crohn und Colitis ulcerosa noch als klassische Autoimmunerkrankungen. Beide Erkrankungen gehen mit immer wiederkehrenden, schmerzhaften, Durchfällen einher, worunter die Lebensqualität der Betroffenen erheblich leidet. Nicht selten müssen große Teile des Darms operativ entfernt werden. Als Ursache vermutete man eine überschießende Reaktion der spezifischen Immunabwehr, die zu einer schubweisen Entzündung der Darmschleimhaut führt. „Zahlreiche Forschungsgruppen konzentrierten sich damals ausschließlich auf die Rolle der T-Zellen bei der Krankheitsentstehung“, erinnert sich Wehkamp. Dass sich mit Medikamenten, die das Immunsystem unterdrücken, zum Teil erhebliche Behandlungserfolge erzielen ließen - wenn auch begleitet von gravierenden Nebenwirkungen - stützte die These zusätzlich.

Doch der junge Medizinstudent, der sich in seiner Doktorarbeit mit Hitze-Schock-Proteinen bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen (CED) beschäftigte, hatte mit der gängigen Lehrmeinung seine liebe Not. „In den wissenschaftlichen Publikationen kursierten sehr komplizierte und oftmals auch widersprüchliche Erklärungsmodelle für die immunologischen Prozesse in der Darmwand“, so Wehkamp, „ich habe mich immer gefragt, ob ich tatsächlich der Einzige bin, dem das nicht einleuchtet.“ Wehkamp berichtete seinem Doktorvater, dem Gastroenterologen Professor Dr. med. Eduard Stange, von seinen Zweifeln und fand in ihm einen Verbündeten. Monatelang überlegten und diskutierten sie - und kamen schließlich zu dem Schluss, dass die Ursache für die CED eher in einer beeinträchtigten Abwehr des Körpers gegen Bakterien als in einem Autoimmungeschehen zu suchen sei.

Ohne Bakterien keine Entzündung

Darmschleimhaut eines Morbus-Crohn-Patienten mit charakteristischen © wikipedia

Erste Hinweise, dass Keime in die Krankheitsentstehung involviert sein könnten, gab es bereits Mitte der 90er. Eine belgische Arbeitsgruppe hatte gezeigt, dass bei Morbus Crohn-Patienten mit einem künstlichen Darmausgang im hinteren „stillgelegten“ Darmabschnitt, der nicht mehr mit Stuhl in Berührung kommt, die Entzündung der Schleimhaut rasch abklingt. Näht man den Darm wieder zusammen, kehrt auch die Entzündung zurück.

Ein weiteres Indiz fand sich zudem in Darmbiopsien. Bei Morbus Crohn-Patienten sitzt ein dichter Film intakter Bakterien direkt auf dem Epithel. Bei Gesunden hingegen ist die Darmschleimhaut mehr oder weniger steril. „Obwohl sich im Verdauungstrakt Millionen von Bakterien tummeln, können sich diese normalerweise nicht direkt an die Oberfläche der Darmepithelzellen anlagern“, so Wehkamp. Die einzige Erklärung, die Stange und er dafür hatten, war, dass im Darm von Gesunden ein effektiver Mechanismus vorhanden ist, der die Keime lokal unter Kontrolle hält. Ist diese Abwehr beeinträchtigt, dringen die Bakterien in die Darmschleimhaut ein – mit den bekannten schwerwiegenden Folgen. „Die Ursache für die Entzündung ist in diesem Fall aber nicht eine fehlgeleitete Immunreaktion, sondern ein Barrieredefekt der Darmschleimhaut“, so der Mediziner.

Defensine eröffnen neues Forschungsfeld

Mutationen im NOD2-Gen sind mit Morbus Crohn assoziiert. © Wikipedia
Die Idee, dass dieser Barrieredefekt durch einen Mangel an körpereigenen Antibiotika bedingt sein könnte, kam Stange während eines Skiurlaubs. Auch Wehkamp begeisterte sich sofort für diese Idee. Dafür war jedoch ein Blick über den medizinischen Tellerrand nötig. Die Existenz solcher Substanzen war nämlich bereits aus dem Tier- und Pflanzenreich bekannt. „Egal ob Bienen, Läuse oder Äpfel - sämtliche bisher untersuchten Eukaryonten produzieren sogenannte Defensine“, berichtet Wehkamp. Dabei handelt es sich um kleine, aus etwa 35 Aminosäuren bestehende Eiweiße, die im jeweiligen Organismus eine enorme antibakterielle Wirkung entfalten. Sie schützen Pflanzen vor dem Verfaulen und Tiere vor Entzündungen. Als Defensine Mitte der 90er Jahre erstmals auch im Darm und den Nieren von Menschen nachgewiesen wurden, ahnten Wehkamp und Stange sofort, dass sich hier das Tor zu einem spannenden neuen Forschungsfeld eröffnete. „99,9 Prozent aller Lebewesen auf der Erde besitzen keine immunologisch aktiven T-Zellen und kommen sehr gut damit klar“, berichtet der Mediziner, „die körpereigene Bakterienabwehr mittels Defensinen hingegen ist ein hochkonserviertes System, das in der Evolution weitgehend unverändert blieb.“ Die beiden Wissenschaftler hatten nicht den geringsten Zweifel, dass diese körpereigenen Antibiotika auch beim Menschen eine wichtige Funktion besitzen.

Vom Außenseiter zum Hoffnungsträger

Wehkamp und seine Kollegen konnten kurz darauf tatsächlich nachweisen, dass bestimmte Defensine bei Crohn-Patienten im Darm nur in reduzierter Menge gebildet werden. Die Mediziner zogen daraus den Schluss, dass es sich bei Morbus Crohn nicht um eine Autoimmunerkrankung handelt, sondern um ein Defensinmangel-Syndrom. „Das war damals natürlich eine sehr gewagte These“, erinnert sich Wehkamp mit einem Schmunzeln. Postuliert haben sie diese These 1998 - geglaubt hat sie ihnen keiner. Vier Jahre dauerte es bis Stange und er die Ergebnisse in einem relativ unbedeutenden Fachmagazin publizieren konnten. „Anfangs hat uns niemand ernst genommen“, so der Wissenschaftler. Auch Drittmittelanträge wurden in schöner Regelmäßigkeit abgelehnt, zu abwegig erschien den Gutachtern die These des Newcomers. Ein renommierter Forscherkollege riet Wehkamp scherzhaft sogar zum Namenswechsel, falls sich seine Theorie als falsch herausstellen sollte.

„Richtig gute Ideen sind in der Medizin zu Beginn immer Außenseiter“, bemerkt Wehkamp rückblickend. Beispiele dafür gab es in der Vergangenheit genügend: Auch bei der Entstehung des Magengeschwürs glaubte die Fachwelt lange nicht, dass ein Bakterium namens Helicobacter pylori der Auslöser sein könnte. Am Ende wurden die beiden Entdecker Barry Marshall und Robin Warren mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.

Auch Wehkamps Beharrlichkeit wurde mittlerweile belohnt. Nachdem seine Forschungsergebnisse schließlich von zahlreichen anderen Arbeitsgruppen bestätigt wurden, erhielt er 2006 den Ernst-Jung-Karriere-Förderpreis für Medizin. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) ermöglichte ihm zudem im Rahmen des Emmy-Noether-Programms den Aufbau einer eigenen Forschungsgruppe am Stuttgarter Robert-Bosch-Krankenhaus, wohin Wehkamp seinem Mentor Stange nach einem Forschungsaufenthalt in den USA gefolgt war. Letztes Glied in einer inzwischen eindrucksvollen Kette an wissenschaftlichen Auszeichnungen ist der in diesem Jahr verliehene Paul-Martini-Preis. Wehkamp verspürt jedoch keine Genugtuung: „Es war stets die pure Lust an der Forschung, die mich angetrieben hat, und nicht die Suche nach Anerkennung.“

Richtige Spur

Dass Stange und er der richtigen Spur folgten, wussten die beiden Forscher spätestens seit 2001. Damals konnte eine französische Arbeitsgruppe zeigen, dass Mutationen im sogenannten NOD2-Gen mit Morbus Crohn assoziiert sind. Dieses Gen kodiert für einen intrazellulären Rezeptor, der bei der Erkennung von Bakterien eine wichtige Rolle spielt. Wehkamp erinnert sich: „Diese Entdeckung brachte ein komplettes Forschungsfeld in Erklärungsnot, weil sie mit der gängigen Lehrmeinung, dass bei Morbus Crohn eine immunologische Dysregulation die Ursache ist, nicht in Einklang zu bringen war.“

Nicht so Wehkamp, der seine Theorie endlich bestätigt sah – zumal er und Stange schnell nachweisen konnten, dass bei Vorliegen einer NOD2-Mutation bestimmte Defensine im Darm nicht ausreichend gebildet werden. Zu seiner eigenen Überraschung waren aber nur die Defensine, die von den sogenannten Panethzellen im Dünndarm gebildet werden, betroffen. Die Defensin-Produktion im Dickdarm hingegen blieb unbeeinträchtigt. Damit wurde erstmals eine Erklärung geliefert, warum sich die Entzündung bei vielen Patienten bevorzugt in bestimmten Darmabschnitten abspielt. „Dass der Morbus Crohn keine homogene Erkrankung ist, sondern ein auf den Dünndarm beschränkter Crohn eine gänzlich andere Erkrankung ist als ein Dickdarm-Crohn, ist wahrscheinlich eine der wichtigsten Erkenntnisse der letzten zehn Jahre in der Gastroenterologie“, so Wehkamp.

Neue Therapiekonzepte

Mit diesem Wissen wurden jetzt auch die Grundlagen für ein komplett neues Therapiekonzept gelegt. Denn die bisher übliche immunsuppressive Behandlung bekämpft nur die sekundären Entzündungsreaktionen. „Ein langfristiger Erfolg lässt sich so oft nicht erzielen“, weiß Wehkamp. Stattdessen verschlimmern die Nebenwirkungen dieser Therapie manchmal sogar die Gesamtsituation. Gleiches gilt für den Einsatz von Antibiotika, die lokal nicht spezifisch genug agieren. „Wir wollen ja keinen keimfreien Darm, sondern nur eine keimfreie Epithelschicht“, erklärt der Mediziner. Wenn es gelänge, Defensine in Zukunft direkt zu verabreichen oder die Panethzellen gezielt zu stimulieren, hätte man zumindest für den Dünndarm-Crohn ein vielversprechendes Verfahren, das die Erkrankung kausal behandelt. Erste Strategien – unter anderem mit gentechnisch hergestellten Defensinen - verfolgt Wehkamp derzeit schon in seinem Stuttgarter Forschungslabor.

Und auch für die Colitis ulcerosa zeichnen sich neue Therapien ab. Bei dieser Erkrankung liegt im Gegensatz zum Morbus Crohn keine gestörte Defensin-Produktion vor. Stattdessen ist die von den Becherzellen der Darmschleimhaut als Pufferzone zwischen der Zelloberfläche und dem Darmlumen produzierte Schleimschicht deutlich verschmälert. Diese Schicht sorgt dafür, dass die im Darm gebildeten Defensine im Bereich der Schleimhaut gehalten werden und dort ihre antimikrobielle Wirkung entfalten. „Ist diese Pufferzone geschädigt, gehen die Defensine ins Darmlumen verloren, was die Barrierefunktion des Darmepithels beeinträchtigt und die Keiminvasion ermöglicht“, so Wehkamp. Die Integrität dieser Schleimschicht wieder herzustellen wäre ein interessanter Ansatz – ebenso die gezielte Steigerung der Defensin-Produktion im Dickdarm.

Bei der Prophylaxe eines neuerlichen Krankheitsschubs bei Colitis ulcerosa hat sich inzwischen das probiotisch wirksame Bakterium E. coli Nissel in mehreren klinischen Studien als enorm wirksam erwiesen. „Viele hielten das zuerst für Quatsch“, erinnert sich Wehkamp. Doch der Mediziner lieferte mit seiner Stuttgarter Arbeitsgruppe inzwischen sogar die molekularbiologische Erklärung für diese unerwartete Wirkung: „Wir konnten zeigen, dass Flagellin, ein Strukturprotein dieses Bakteriums, die Bildung bestimmter Defensine im Dickdarm steigert, was einen protektiven Effekt vermittelt.“ Wehkamps Ziel ist es jetzt, weitere Substanzen zu identifizieren, mit denen sich diese Wirkung erzielen lässt. Wenn das gelingt, könnten immunsuppressive Therapien bei der Behandlung chronisch-entzündlicher Darmerkrankungen irgendwann tatsächlich der Vergangenheit angehören.

ERC Starting Grant 2012

Der Mediziner Dr. Jan Wehkamp erhielt 2012 den renommierten "Starting Grant" des European Research Council (ERC). Wehkamp untersucht am Dr. Margarete Fischer-Bosch-Institut für klinische Pharmakologie (IKP) des Stuttgarter Robert-Bosch-Krankenhauses die Ursachen chronisch-entzündlicher Darmerkrankungen. Für sein Projekt "Defensinactivity" erhält er für eine Laufzeit von fünf Jahren 1,5 Millionen Euro. Die ERC Starting Grants richten sich an junge Nachwuchswissenschaftler, die im Anschluss an ihre Promotion zwei bis sieben Jahre Erfahrung gesammelt haben und eine „vielversprechenden Erfolgsbilanz“ aufweisen können.

Seiten-Adresse: https://www.gesundheitsindustrie-bw.de/fachbeitrag/aktuell/jan-wehkamp-den-ursachen-chronisch-entzuendlicher-darmerkrankungen-auf-der-spur