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Jedes dritte Biopharmazeutikum erhält einen "Zuckerguss"

Die Mehrzahl der rekombinanten Proteine wird nach ihrer Biosynthese in den Produktionszellen verändert, meistens einmal, oft auch mehrmals. Post-translationale Modifikation nennt das der Fachmann. Am häufigsten verbreitet bei therapeutischen Proteinen ist die Glykosylierung. Das hat seinen Grund, denn an der Hälfte aller menschlichen Eiweiße hängen Zuckerketten.

Inzwischen ist mehr als jedes dritte zugelassene Biopharmakon ein Glykoprotein, das in der gentechnisch veränderten (Säuger-) Zellkultur seinen „Zuckerguss“ erhält. Dazu wird es von der Zelle posttranslational intensiv modifiziert, ehe es ins Nährmedium ausgeschieden wird, sagt Michael Schlüter.

Actilyse, ein typisches Glykoprotein

Dr. Michael Schlüter (Foto: Boehringer Ingelheim)
Der promovierte Chemiker wechselte 1985 nach Biberach. Dort zog Boehringer Ingelheim Deutschlands erste biotechnische Produktionsstätte hoch, in der 1987 das erste gentechnologische Präparat Actilyse (Freiname Alteplase) hergestellt wurde, ein Gewebe-Plasminogen-Aktivator (t-PA) zur Behandlung des Schlaganfalls und Herzinfarkts. Das Produkt war mit dem amerikanischen Pharmaunternehmen Genentec co-entwickelt worden.

„Ein typisches Glykoprotein, mit drei Glykosylierungsstellen, sehr heterogen“, sagt Schlüter. Er war damals für die Analytik des t-PA zuständig, ist seit 1985 mit der Qualitätskontrolle und Entwicklungsanalytik dieser rekombinanten Wirkstoffe betraut.

Was bewirken die Zucker-Seitenketten? Sie können die Faltung, Stabilität, den intrazellulären Proteintransport und die Immunogenität genauso beeinflussen wie die funktionale Aktivität des Proteins. Diese Auswirkungen wurden festgestellt bei EPO, Antikörpern, Interferonen und gewebespezifischem Plasminogen-Aktivator (t-PA).

Vielseitige Wirkung von Zucker-Seitenketten

Was weiß man über die natürlichen Gegenstücke? Zum Teil sind die Strukturen der Originale bekannt, sagt Schlüter. Größtenteils sind aber die rekombinanten Gegenstücke mindestens so gut oder besser charakterisiert als die Originale, weil sie in größeren Mengen und einfacher zur Verfügung stehen.

Glykane werden an Asparagin gehängt

Eine Wissenschaftlerin vor zwei Computermonitoren, mit der rechten Hand bedient sie eine Computermaus.
Für die Glykosilierung kommen nur wenige Säugerzellen und die Hefe Saccharomyces cerevisisae in Frage. (Fotos: allle Boehringer Ingelheim)
In Biberach, wie wahrscheinlich überall auf der Welt, gibt es nur sehr wenige rekombinante Produktionszelllinien. Die bekannteste ist die CHO-Zelle (chinese hamster ovary), die aus Eierstöcken chinesischer Hamster stammt. Neben weiteren Säugerzellen kann auch die Hefe Saccharomyces cerevisiae glykosylieren, im Gegensatz zu Escherichia coli. Für Biopharmazeutika in Frage kommt die N-Glykoyslierung, bei der Oligosaccharide (Glykane) an die Aminosäure Asparagin innerhalb der Polypeptid-Kette gehängt werden.

Glykosilierung – ein Angebot der Evolution

Der Vorgang der Glykosylierung von Proteinen selbst ist höchst komplex. Er läuft im endoplasmatischen Reticulum und dem Golgi-Apparat der Zelle ab. In diese Gruppe von enzymatischen und chemischen Abläufen eingebunden sind mehr als 100 unterschiedliche Proteine und Gene. Die biopharmazeutische Industrie macht sich hier ein Angebot der Evolution zunutze; trotz des hochkomplexen Prozesses ist die Glykosylierungsmaschinerie in den drei Säugerzellen (CHO-Zelle, Baby-Hamster-Zelle oder menschliche Fibrosarkom-Zelle) in hohem Maße über die Spezies-Unterschiede hinweg konserviert worden. Die Unterschiede zwischen der menschlichen und nicht-menschlichen Säuger-Glykosylierung seien gering (Dingermann, S. 92).

Prozess definiert die Produktheterogenität

Die Glykosylierung selbst wird von der Kaskade post-translationaler Modifikationen der eukaryontischen Wirtszellen bestimmt und kann von Zelle zu Zelle variieren und sogar von Klon zu Klon in Abhängigkeit vom Fermentations-Medium, der spezifischen Produktivität und vom physiologischen Zustand der gentechnisch veränderten Wirtszelle. Was 1987 für Actilyse galt, gilt nach Schlüters Worten unverändert heute: „Der Prozess definiert die Produktheterogenität“.

Primärstruktur des Proteins bestimmt den Ablauf

Jede Glykosilierungsstelle liefert eine bestimmte Bandbreite an Oligosaccharid-Mustern.
Prinzipiell verläuft die Glykosylierung sehr ähnlich und liefert je nach Glykosylierungsstelle eine bestimmte Bandbreite an Oligosaccharid-Mustern. Die Aminosäuren-Sequenzabfolge bestimmt, wo die Zuckerketten angehängt werden, die dann die Synthesemaschinerie der Zelle in Gang setzt. Hier bestimmt die Primärstruktur des Proteins im wesentlichen den Ablauf. Das Muster, das daran sitzt, hängt von der Glykosilierungsstelle ab, an das die Zelle ein homogenes „Vorläufer“-Oligosaccharid überträgt, dieses prozessiert und das vorher einheitliche Oligosaccharid auf dem Weg der Ausschleusung durch die verschiedenen Zellkompartimente umbaut.

Zurück zum Beispiel Actilyse. Dieser Wirkstoff wurde patienten- und therapiefreundlicher gemacht, indem man beim Makromolekül eine Anknüpfungsstelle für die Zuckerketten verschob. Das Präparat der ersten Generation hatte nur eine sehr kurze Halbwertszeit von drei Minuten. Das lag am Hoch-Mannose-Oligosaccharid der ersten Glykosilierungsstelle (Asn 117).

Höhere Wirksamkeit durch verschobene Glykosilierungsstelle

Im Wirkstoff der zweiten Generation (TNK-tPA) wurde diese Glykosilierungsstelle auf gentechnischem Wege auf die Position 103 verschoben. Der veränderte Wirkstoff wies nunmehr komplex glykosylierte, sogenannte komplexe Oligosaccharide auf. Damit wurde die Halbwertszeit des Makromoleküls im Organismus auf 30 Minuten verlängert. Das brachte Vorteile für Patient und Arzt. Denn das Präparat lässt sich leichter verabreichen als Einmalgabe (Bolus) und nicht wie bisher über 90 Minuten und es kann beispielsweise schon im Notarztwagen eingesetzt werden.

Die Oligosaccharide haben auch Einfluss auf die spezifische Aktivität des Wirkstoffs t-PA. Schlüter nennt als weiteres Beispiel die Position 184 in der Aminosäuresequenz. Ist diese Position zuckerfrei, verfügt das Protein über ein freies Asparagin, wodurch die spezifische Aktivität des Wirkstoffs stark ansteigt. Ist die Position zuckerbesetzt, sinkt die Aktivität auf bis zu 55 Prozent. Diese unmittelbar auf Oligosaccharide zurückzuführenden enzymatischen Unterschiede lassen sich in in-vitro-Assays messen.

Tiefe Analyse erkennt Glyko-Profilmuster

Das Bild zeigt eine Wissenschaftlerin an einem Analysegerät
Nach eingehender Analyse lassen sich Glyko-Profilmuster der einzelnen Glykosilierungsstellen betrachten.
Im Rahmen der Produktentwicklung werden die Oligosaccharide an den Heterogenitäten „im Haupt- und Nebenkomponentenbereich“ ausreichend tief analysiert. Das geschieht in einer Kombination von zweidimensionaler Gelelektrophorese, zweidimensionaler Flüssig-Chromatografie und Massenspektrometrie. Damit lassen sich die die Glyko-Profilmuster einzelner Glykosilierungsstellen betrachten und über Masseverhältnisse eindeutig zuordnen.

Konstante Heterogenitätsmuster der Zucker vonnöten

Ist die Charakterisierung einmal getan, gestaltet sich die Heterogenitätsanalytik nach Schlüters Worten einfacher, weil immer ein bestimmter Produktstandard (Material aus der Klinik-Phase III ist der Bezug) verwendet wird. Das heißt, dass aktuelle Produktionschargen mit einem Erwartungswert verglichen werden. Denn ist der Produktionsprozess einmal etabliert, muss er konstant gehalten werden, damit sich das Produkt nicht verändert, das bedeutet auch Konstanz im Heterogenitätsmuster der Zucker, die am therapeutischen Protein hängen. Wenn es sich um Produkte aus einer CHO-Zellkultur handelt, dann sind die zu analysierenden Oligosaccharide in der Regel „alte Bekannte“, weil die Zelle bevorzugt ein bestimmtes Set glykosyliert.

Glykoengineering wird kommen

Bislang übernimmt die Zelle noch die Glykosylierung vollständig: „Man nimmt die Heterogenität, die man durch sein Produktionssystem erhält", sagt Michael Schlüter. Gezielte Glykoformen zu exprimieren, hält der Zuckerexperte noch für Zukunftsmusik. Glykoengineering halten Schlüter wie andere gleichwohl für eine Entwicklung, die sich abzeichnet, aber noch nicht in der Breite angekommen ist. Wachsende Bedeutung wird neben dem Proteindesign auch das Glykoengineering erhalten, womit sich therapeutische Proteine für den therapeutischen Einsatz fein abstimmen lassen.

Verspätet in die Nähe der Anwendung

Bei der biotechnischen Produktion von Antikörpern wird nach Schlüters Worten daran gearbeitet, die Produktionszelle so zu entwickeln, dass sie bestimmte Strukturen gar nicht mehr herstellt, dass der Prozess an bestimmter Stelle blockiert wird. Gut vorstellen kann sich der Glyko-Experte in naher Zukunft, dass Antikörper einheitlich glykosyliert werden können.
Noch allerdings sei die Glykobiologie akademisch und noch nicht in der Produktentwicklung angekommen. Lange fehlten der Zuckerforschung die Methoden, das habe sich geändert. Das komme jetzt mit gewisser Verspätung in die Anwendungsnähe.

wp - 13.08.08
© BIOPRO Baden-Württemberg GmbH

Quellen:

Walsh, Gary; Jefferis, Roy: Post-translational modifications in the context of therapeutic proteins, in: Nature Biotechnology 24, 10 (Oktober 2006), S. 1241-1252

Werner, Rolf; Kopp, Kristina; Schlüter, Michael: Glycosylation of therapeutic proteins in different production systems, in: Acta Paediatrica 2007, 96, S. 17-22

Dingermann, Theo: Recombinant therapeutic proteins: Production platforms and challenges, in: Biotechnology Journal 2008, 3, s. 90-97

Walsh, Gary: Biopharmaceutica benchmarks 2006, in: Nature Biotechnology 24, 7 (Juli 2006), S. 769-776.

Greer, Fiona; Easton, Richard: Glycosylated Bioproducts – Breaking Down the Benefits, in: European Biopharmaceutical Review, Winter 2006, S. 77-83
Seiten-Adresse: https://www.gesundheitsindustrie-bw.de/fachbeitrag/aktuell/jedes-dritte-biopharmazeutikum-erhaelt-einen-zuckerguss