Kombinierte Testsysteme sollen Wirkstoff-Entwicklung gegen die Alzheimer-Erkrankung voranbringen
Welche Substanzen eignen sich zur Behandlung von neurodegenerativen Erkrankungen wie der Alzheimerschen? Aufgrund der komplexen biochemischen Zusammenhänge ist die Testung geeigneter Wirkstoffkandidaten gerade in der frühen Phase der Arzneimittelentwicklung schwierig. Viele Testsysteme decken nur einzelne Aspekte ab. Jetzt kombiniert ein Team verschiedene Modelle zu einem neuen Ansatz.
Mit Hochdruck und viel „Manpower“ wird weltweit an Wirkstoffen gegen die Alzheimer-Erkrankung geforscht. Mögliche Wirkstoff-Kandidaten zu identifizieren ist das eine, sie möglichst früh auf ihre tatsächliche Eignung als Arzneimittel zu testen noch eine ganz andere Herausforderung. Gerade in der frühen Wirkstoff-Entwicklung mangelt es nach wie vor an effizienten Testsystemen. Dabei wäre der Nutzen hoch: Je früher das Feld auf nachweislich geeignete Wirkstoff-Kandidaten eingeengt werden kann, umso weniger Zeit und Ressourcen werden für Substanzen verschwendet, die sich später dann doch als untauglich erweisen.
Mit dem Projekt A-ADAM unterstützt die EU im Rahmen ihrer EUREKA-Eurostars-Initiative seit Juni 2017 einen deutsch-französischen Forscherverbund, der Testsysteme speziell für die frühen Entwicklungsphasen von Wirkstoffen gegen neurodegenerative Erkrankungen entwickelt. Eurostars ist ein Programm, das unter Beteiligung von kleinen und mittelgroßen Firmen (KMU) die europäische Zusammenarbeit in Forschungs- und Entwicklungsprojekten fördert. Das Ziel ist ein Zuwachs an innovativen Produkten und Verfahren „Made in Europe“. Gleich zwei der drei A-ADAM-Partner kommen aus Baden-Württemberg: das NMI Reutlingen, an dem Prof. Dr. Hansjürgen Volkmer die Projektleitung übernommen hat, und die CeGaT GmbH aus Tübingen. Der französische Partner ist die E-PHY-SCIENCE aus Valbonne.
Stopp oder Vorfahrt für die Wirkstoffentwicklung: Kombitests sollen es zeigen
Die Forscher wollen eine neue Kombination von In-vivo- und In-vitro-Testsystemen entwickeln, die eine umfassende frühe Testung von Wirkstoff-Kandidaten ermöglicht. Volkmer erklärt, was dahinter steckt: „Es sind zwar bereits beschriebene, krankheitsauslösende und vererbbare Genmutationen im Fall der familiären Form der Alzheimer-Erkrankung bekannt – der überwiegende Teil der betroffenen Menschen erkrankt jedoch an einer sporadischen Form ohne genau definierbaren genetischen Einfluss. Der wichtigste Risikofaktor ist hier schlicht das Lebensalter. Deshalb versuchen wir, Alterungsprozesse der Neuronen in vivo und in vitro darzustellen und mit den familiären Risikofaktoren zu kombinieren.“ Der Einfluss potenzieller Wirkstoffe auf diese Modelle soll die Entscheidungsbasis für oder gegen die weitere Entwicklung eines Wirkstoff-Kandidaten liefern.
Für den In-vivo-Anteil ist E-PHY-SCIENCE zuständig, ein Spezialist für elektrophysiologische Testsysteme. Zu A-ADAM steuert das Unternehmen ein Modell für familiäre Alzheimer-Erkrankung bei. Dabei handelt es sich um genetisch veränderte Mäuse, die krankhafte Veränderungen zeigen, die denen bei Alzheimer-Patienten entsprechen. Die Mäuse häufen krankhaft veränderte Peptide in Form von Beta-Amyloiden in ihrem Gehirn an – nur eben nicht altersbedingt, sondern aufgrund gezielter genetischer Intervention. „Genetische Modelle beruhen auf den seltenen, familiär vererbten Mutationen. Diese Mutationen beschleunigen die Entstehung krankhafter Ablagerungen aus Spaltprodukten des Alzheimer-Precursor-Protein, kurz APP, oder hyperphosphoryliertem Tau“, sagt Volkmer. Aggregate aus diesen Peptiden sind typisch für Alzheimer: Ein Übermaß an Beta-Amyloiden führt zu Ablagerungen, den „senilen Plaques“ im Gehirn, während hyperphosphorylierte Tau-Proteine zu Neurofibrillen aggregieren, die in Nervenausläufern (Axonen) akkumulieren und dadurch ihre Funktion behindern. Beide Ablagerungen stören die Signalübertragung zwischen den Neuronen im Gehirn. Genau das und die Auswirkung eines potenziellen Wirkstoffs auf die Signale will E-PHY-SCIENCE in ihrem Modell durch elektrophysiologische Messung detektieren.
Diesem Modell fehlen jedoch wichtige Merkmale von Alterungsprozessen. Als wesentlicher Faktor für den Alterungsprozess von Neuronen wurde eine verringerte Aktivität der Mitochondrien, also der Kraftwerke der Zellen, identifiziert. In den Zellen wird dadurch weniger Energie produziert, was letztlich zu altersbedingten Einschränkungen neuronaler Funktionen, einem wichtigen Merkmal von Alzheimer, führt. Am NMI wurde daher in die molekulare Trickkiste gegriffen, um die altersbedingten mitochondrialen Defizite nachzustellen. Durch RNA-Interferenz wird ein Enzym im Energiestoffwechsel der Mitochondrien, genauer gesagt die Cytochrom-C-Oxidase in der mitochondrialen Atmungskette, gehemmt. Die Forscher am NMI konnten bereits zeigen, dass dieser Eingriff allein schon die Zahl der Synapsen an den Nervenzellen reduziert. „Und genau das, also eine verringerte Anzahl Synapsen, ist ein Charakeristikum früher Stadien der Alzheimer-Erkrankung“, sagt Volkmer. Gemeinsam mit dem Team von E-PHY-SCIENCE werden nun Tiermodelle entwickelt, in denen die genetischen Modelle für die Alzheimer Erkrankung mit einer mitochondrialen Schädigung verknüpft werden.
CeGaT will Geschäftsfelder um epigenetische Analysen bereichern
Zu dem Netzwerk an Testmodellen gehört noch ein dritter Aspekt, an dem die CeGaT GmbH als Spezialist für genetische Diagnostik wesentlich beteiligt ist. Hier werden ausgehend von dem Hirnmaterial, das E-PHYS-Science liefert, epigenetische Analysen etabliert. Sie sollen die Wirkstofftestung untermauern. „Mit diesem Projekt steigen wir erstmals in die epigenetische Analytik ein, die wir zu einem weiteren Geschäftsfeld ausbauen wollen“, sagt Britta Merz, Projektmanagerin bei CeGaT. Epigenetische Veränderungen sind zum Beispiel Änderungen im Methylierungsmuster der DNA. Epigenetische Veränderungen der DNA in Nervenzellen können unter anderem eine Reaktion auf bestimmte Umwelteinflüsse sein, die Alzheimer begünstigen. Die CeGaT GmbH will ein Testsystem für die Erkennung Alzheimer-spezifischer Methylierungsmarker entwickeln, die in der frühen Wirkstofftestung eingesetzt werden können – aber auch in der medizinischen Diagnostik. „Es gibt Studien, die Veränderungen der DNA-Methylierung mit der Pathogenese von Alzheimer in Verbindung bringen, und wenn wir hier ein einfaches Testsystem für Blutproben etablieren könnten, ließen sich damit eines Tages vielleicht frühe Stadien diagnostizieren“, wagt Merz einen Langfrist-Ausblick.
Jeder der drei Partner kann die im Projekt generierten Ergebnisse für seine Zwecke und zur Weiterentwicklung der eigenen Testsysteme nutzen. „Wir sind technologisch sehr unterschiedlich aufgestellt und nutzen die Interaktionen für entsprechend unterschiedliche Verwertungsmodelle“, sagt Volkmer. Das NMI selbst hat das Ziel, mithilfe der Kooperationen durchsatzfähige In-vitro-Testsysteme zu entwickeln, die für Wirkstoff-Kandidaten bei verschiedenen Indikationen neurodegenerativer Erkrankungen eingesetzt werden können. „Wir wollen in unseren Nervenzell-Kulturen zum Beispiel den Calcium-Spiegel als Äquivalent zur elektrischen Aktivität messen und so Aussagen über die neuronale Funktion mit und ohne Wirkstoff-Zugabe treffen. Wir sind dabei, ein zunächst experimentelles durchsatzfähiges System zu entwickeln, das anschließend automatisiert wird. Unser Ziel ist es, eine Roboterroutine für die Tests aufzubauen“, erklärt Volkmer.