Lässt sich die tickende Huntington-Uhr anhalten?
Eine frühe klinische Studie an 36 Huntington-Patienten erprobt derzeit das ‚Gene Silencing‘. Ließe sich tatsächlich das krankmachende Gen der bislang unheilbaren Erbkrankheit stummschalten, wäre dies der erste Schritt hin zu einer Therapie, die nicht nur Symptome, sondern die Ursache des Leidens bekämpft. Der deutsche Studienleiter, der Ulmer Neurologe Prof. Dr. G. Bernhard Landwehrmeyer, sieht nicht nur Licht am Horizont für Patienten dieser tödlichen neurodegenerativen Erkrankung.
Verläuft die Ib-Studie erfolgreich, worauf aktuell einiges hindeutet, ließe sich nach weiteren größeren Studien das hier angewandte Therapieprinzip mit jeweils krankheitsspezifischen Wirkstoffen auf andere Ein-Gen-Krankheiten anwenden. Davon gibt es einige tausend, die Weltgesundheitsorganisation schätzt ihre Zahl auf über 10.000.
Erste Studie, die an der Wurzel der Erkrankung ansetzt
Der Huntington-Experte und deutsche Studienleiter Prof. Dr. G. Bernhard Landwehrmeyer
© Universitätsklinik Ulm
Der in Ulm, Bochum, Großbritannien und Kanada untersuchte Ansatz versucht mit kleinen chemisch veränderten Nukleinsäuren (Antisense-Oligonukleotide, ASO) die Neubildung der krankmachenden Genprodukte zu hemmen. Das Therapieprinzip dieses ‚Gene Silencing‘ schaltet die Produkte des mutierten, pathogenen Gens stumm, indem die Boten-RNA-Moleküle abgefangen werden. Dabei binden die kurzen einkettigen Nukleinsäure-Stücke am Zielort an die Boten-RNA und verhindern ihr ‚Ablesen‘. Die aktuelle klinische Studie erprobt zum ersten Mal das therapeutische Stummschalten eines krankmachenden Gens an Huntington-Patienten. Ähnliche frühe Studien wurden bzw. werden bei anderen neurodegenerativen Erkrankungen durchgeführt (Chiriboga 2016; Miller 2013).
Die Huntington-Krankheit (HD) ist eine der häufigsten neurodegenerativen Erbkrankheiten. Hierzulande gibt es geschätzte 8.000 Erkrankte und weitere 30.000 Menschen, die das veränderte Huntingtin-Gen auf Chromosom 4 in sich tragen könnten. Als junger Wissenschaftler war Landwehrmeyer 1993 bei dessen Entdeckung in einem Bostoner Labor dabei. Trotz intensiver Forschung ist die verheerende Krankheit, die mit motorischen und psychischen Störungen und kognitivem Abbau einhergeht, immer noch unheilbar und endet tödlich. HD wird von einer überlangen Glutaminkette ausgelöst. Während sich bei Gesunden auf dem Huntingtin-Gen das Basentriplett CAG, das für Glutamin kodiert, elf bis 34 mal wiederholt, ist es bei HD-Patienten mit 42- bis über 150-mal abnormal lang.
Zunächst stehen Sicherheit und Verträglichkeit im Vordergrund
Die aktuelle, doppelt verblindete Ib-Studie testet Sicherheit und Verträglichkeit des Wirkstoffs, der zunächst in einer niedrigen Dosis und bei jeweils günstigen Ergebnissen in jeweils höheren Dosen verabreicht wird. Die Studienteilnehmer – Patienten mit milder HD-Ausprägung und damit fähig zur komplexen Nutzen-Risiko-Abwägung – wissen, dass die Studie nicht darauf abzielt, den Verlauf der HD in irgendeiner Weise zu beeinflussen. Dafür ist die Studie mit maximal sechs Monaten (zweimonatige Beobachtung eingeschlossen) zu kurz.
Da ASOs nicht die Blut-Hirn-Schranke passieren können, müssen sie via Lumbalpunktion direkt ins Zentralnervensystem (ZNS) verabreicht werden. Das hat den Vorteil, dass sie sich weit im ZNS verteilen, die entsprechende mRNA und folglich das krankmachende Protein in Gehirn und Rückenmarkgewebe verringern (Miller, 2013, p. 436). Über den Nervenwasserraum allerdings wird nicht notwendigerweise jede Gehirnzelle erreicht. Die Rationale der Studie ist klar: Die Forscher wollen wissen, welche der möglichen unerwünschten Wirkungen auf die Lumbalpunktion und welche auf die Testsubstanz zurückzuführen sind.
Wie nötig sind die gesunden Huntingtin-Genprodukte?
PD Patrick Weydt führt mit Kollegen die Medikamentenprüfung durch.
© Universitätsklinik Ulm
Mithilfe der Testsubstanz wird die Konzentration der Boten-RNA (mRNA) für die Produktion der Huntingtin-Produkte abgesenkt – sowohl der gesunden wie der kranken. Die Neurologen hoffen, dass der therapeutische Effekt trotz verminderter Konzentration gesunder Huntingtin-Proteine eintritt. Alle Tierversuche, so Landwehrmeyer, sprächen dafür, dass für die Ausbildung des pathologischen Phänotyps die Anzahl und Menge des pathologischen Allels oder dessen Produkte entscheidend seien. Tierversuche lassen Forscher hoffen, dass die Absenkung der pathogenen Huntingtin-Genprodukte über einen längeren Zeitraum genügend Zellen erreicht, und dass diese bei HD-Patienten „klinisch messbar Krankheitserscheinungen verbessert oder zumindest die weitere Progression der Erkrankung günstig beeinflusst.“
Die angestrebte Absenkung (auf bis zu 50 Prozent) des Huntingtin-Genexpressionsniveaus birgt Risiken, die die Forscher aber als klein veranschlagen: Konkret bestehen ein allergisches Risiko (Reaktion des Abwehrsystems auf eine synthetische Nukleinsäure) und das Risiko, dass das für den Körper wichtige gesunde Huntingtin-Molekül zu stark absenkt wird. Deshalb ist der Ulmer Neurologe froh, dass die Studie mit einer Substanz beginnt, die bis zu drei Monate wirkt, dann aber wieder den Körper verlässt, sodass das Genexpressionsniveau wieder auf das Vorbehandlungsniveau ansteigt. Im ungünstigsten Fall wäre für einen begrenzten Zeitraum zu wenig von dem gesunden Huntingtin-Genprodukt im Körper vorhanden, wenn es auf bis zu 50 Prozent abgesenkt wird.
Therapie setzt an der Wurzel an
Verklumpungen des Proteins Huntingtin (rot-braune Ablagerungen) im Gehirn sind die Ursache der Huntington-Krankheit. Sie sollen mit dem neuen Therapieansatz erstmals direkt bekämpft werden.
© Katrin Lindenberg, Neurologie, Universitätsklinik Ulm
Zwar ist die HD-Pathogenese in all ihren Zwischenschritten noch nicht vollständig verstanden. Das ficht die Neurologen aber nicht an, denn ihr Therapieansatz setze ganz oben, bei der Krankheitsursache an. „Dazu müssen wir gar nicht alle Verästelungen im Detail verstehen, die wohl aber Optionen für Ansätze und Interventionen in Zukunft bieten“, sagen die Ulmer Wissenschaftler.
Bekannt ist, dass das beschädigte Huntingtin-Protein für das Striatum toxisch ist. Aus Tierversuchen weiß man, dass die gezielte Expression mutierten Huntingtins in Neuronen des Striatums nicht ausreicht, um die Defizite im Bewegungssystem oder Neuropathologien zu verursachen.
Das gesunde Huntingtin, das überall im Körper, vor allem aber im Gehirn exprimiert wird, gilt als wichtig für einen oder mehrere frühe Entwicklungsschritte. Tierversuche stärken die These, dass es ein therapeutisches Fenster für eine sichere, sogar wirksame vorübergehende Suppression mit einem nicht allel-spezifischen ASO-Ansatz gibt (Kordasiewich, 2012, p. 1041).
Möglichst viele Gehirnregionen erreichen
Aktueller Stand der Forschung ist, dass für die Entwicklung und das Fortschreiten der Krankheit die Expression des mutierten Huntingtin-Produkts in verschiedenen Zelltypen mindestens in Striatum und Kortex wahrscheinlich erforderlich ist. Da das Striatium nur ein Prozent des Gehirnvolumens ausmacht und 30 Prozent der Gehirnmasse bei HD-Patienten im Endstadium verloren gegangen sind, schließen Forscher daraus, dass HD auch andere Bereiche des Gehirns betrifft. Eine vollkommen wirksame Behandlung von HD müsste wahrscheinlich viele Gehirnregionen als Ziel anpeilen (Kordasiewicz, 2012, p. 1031).
Wie geht es im günstigen Fall weiter? Forscher könnten die Therapie über einen längeren Zeitraum anwenden und untersuchen, was diese Entlastung des Körpers, vor allem des Gehirns von den veränderten Huntington-Genprodukten bewirkt. Weitere, vermutlich Phase-III-Studien (mit deutlich vergrößerter Kohorte) müssten zeigen, dass die Genstummschaltung einen klinischen Vorteil erbringt.
Erste positive Signale
Zwar liegen den Ulmer Forschern noch keine Ergebnisse aus den Kohorten eins und zwei vor. Da das unabhängige Sicherheitskomitee in Kenntnis der entblindeten Ergebnisse grünes Licht für die dritte Kohorte gegeben habe, folgern sie daraus, dass die bisherigen Dosen sicher und verträglich waren. Die Forscher wissen und sagen dies auch allen HD-Patienten, dass dies nur der erste, aber möglicherweise entscheidende Schritt zur kurativen Behandlung der Erkrankung sei. Mit der aktuellen Studie „wollen wir lernen, welche Gehirnzellen und -regionen wir erreichen. Davon wird abhängen, wie gut und wie ausgeprägt die klinischen Vorteile für die solcherart behandelten Patienten sind.“