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Experteninterview

Ludolph: Neurodegenerative Erkrankungen diagnostizieren und therapieren

Ende Februar wurde Ulm als zehnter Standort des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen in der Helmholtz-Gemeinschaft aufgenommen. Ulm ist seit Langem ein Spitzenstandort für seltene neurologische Erkrankungen, insbesondere für Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), Frontotemporale Demenzen (FTD) und Morbus Huntington (MH). Wir sprachen mit Professor Albert C. Ludolph, Standortsprecher des Ulmer DZNE-Standortes, Ärztlicher Direktor der Neurologischen Klinik am RKU (Universitäts- und Rehabilitationskliniken Ulm) und weltweit renommierter ALS-Forscher.

Am DZNE-Standort Ulm sollen „neue Diagnose- und Therapieverfahren entwickelt und wissenschaftliche Erkenntnisse schnellstmöglich in die klinische Praxis begleitet werden“. Wie sind die Voraussetzungen für Translation in Ulm?

Der Neurologe Prof. Dr. Albert C. Ludolph, Ulmer Sprecher des DZNE © RKU Ulm

Translation ist wichtig bei selteneren Erkrankungen, da sie meist nicht im Fokus des Interesses stehen. Diese Patienten sind heute so gut organisiert, dass man Forschungserkenntnisse auch unter wissenschaftlichen Bedingungen umsetzen kann. Wir haben große, genügend charakterisierte Patienten-Kohorten, die unsere Versuche, die Behandlung zu verbessern, ohne Weiteres und ohne Einschränkungen fast alle unterstützen. Wir haben das in Schwaben für ALS und FTD organisiert. Für den Morbus Huntington war Professor Landwehrmeyer wesentlicher Motor des Ausbaus eines Huntington-Netzwerks praktisch sämtlicher Patienten weltweit.

Was haben die Ulmer Forscher zum Verständnis dieser Krankheiten beigetragen?

Zunächst haben wir neue Krankheitskonzepte entwickelt, auf diesem Boden neue Interventionsformen definiert, und wir setzen diese um, indem wir die Patienten organisieren. Zweitens haben wir den natürlichen Verlauf dieser Erkrankungen charakterisiert. Diesen muss man kennen, wenn man intervenieren will, sonst weiß man nicht, wie man die Erfolge messen soll. Drittens haben wir selbst konkrete Interventionen – pharmakologische, aber auch andere – für alle drei Erkrankungen entwickelt, am Tier, in der Zellkultur; oder wir haben die genetischen Grundlagen dafür definiert, wie man intervenieren kann.

Was ändert sich unter dem DZNE-Dach?

Die aus der Grundlagenforschung gewonnenen Erkenntnisse, die eigenen und die anderer, können in systematisierter Weise an die hier organisierten Patienten gebracht werden. Spezifischer: Wir wollen neue Applikationsformen für Medikamente entwickeln, zum Beispiel, wie man besser Genabschaltungen durchführt, wie Medikamente durch die Blut-Hirn-Schranke geführt werden. Wir wollen Tierversuche, die meist an Nagern durchgeführt werden, besser auf Menschen übertragen und damit auch solche Versuche einsparen.

Wo liegen die größten Wissens- und Erkenntnislücken, die Diagnose und Therapie der Krankheiten im Wege stehen?

Diagnostisch ist zunächst anzumerken, dass der Morbus Huntington durch einen Gentest zweifelsfrei erkannt werden kann. Bei der FTD besteht die größte Lücke. Dies ist eine Erkrankung, die noch nicht ins Bewusstsein der Bevölkerung, auch der Ärzte, gedrungen ist. Bei ALS besteht kaum diagnostische Unsicherheit; in Ulm gibt es ein lange etabliertes diagnostisches Know-how.

Wichtig ist mir Folgendes: Die Therapie dieser Erkrankungen geht weit über die Pharmakologie hinaus. Bei Erkrankungen, die die Persönlichkeit des Patienten zerstören, geht es auch darum, die Angehörigen zu unterstützen. Wir können bei allen drei Erkrankungen auf Selbsthilfegruppen bauen, die uns unterstützen. Für die FTD ist gerade jetzt eine gegründet worden. Sie begleiten unsere Arbeit und versuchen auch den sozialen Rahmen abzustecken, in dem wir diese Patienten in unserer Gesellschaft aufnehmen können.

Bei altersassoziierten Erkrankungen wie Demenzen spielen Änderungen im zellulären Energiestoffwechsel eine wesentliche Rolle. Durch innovative Kombination von Fluorescence Lifetime Imaging Microscopy (FLIM) und Phosphorescence Lifetime Imaging Microscopy (PLIM) lassen sich Energiestoffwechseländerungen in lebenden Zellen und Geweben mit hoher zeitlicher und räumlicher Auflösung visualisieren. © Uniklinikum Ulm, Neurologie

Mit welchen Ansätzen wollen Sie den translationalen Anspruch umsetzen?

Diese Krankheiten sind in unterschiedlicher Weise genetisch bedingt. Der M. Huntington wird monogenetisch, autosomal-dominant nach den Mendelschen Gesetzen vererbt und lässt sich bereits im Vorfeld diagnostizieren. Wir wissen, auch durch eigene Forschung, dass dieses (defekte) Gen (das Huntingtin, d. Red.) eine giftige Wirkung auf das Nervensystem und den ganzen Körper entfaltet. Deswegen ist es folgerichtig zu versuchen, die Wirkung dieses Gifts zu reduzieren. Das machen wir seit eineinhalb Jahren mit Antisense-Oligonukleotiden1, die dieses Gen teilweise abschalten. Das Problem ist nur, dass das durch das Gen kodierte Protein Huntingtin, dessen Struktur gerade eben von Professor Stefan Kochanek in Ulm erstmals charakterisiert wurde2, auch eine Rolle in der Entwicklung des Körpers und spezifisch des Nervensystems spielt. Man muss aufpassen, dass man nicht zu viel des Guten tut, vor allem bei Kindern und Heranwachsenden, die diese Krankheit auch in Ausnahmefällen bekommen können.

Entfaltet ein Gen zu wenig Aktivität, gibt es eine unkompliziertere Methode. Es handelt sich bei autosomal rezessiven Erkrankungen um ein ‚loss of function‘. Hier ist es manchmal möglich, die Aktivität des Gens zu erhöhen. Das praktizieren wir bei der spinalen Muskelatrophie erfolgreich.

Diese neuen Methoden wollen wir hier experimentell sehr viel weiter entwickeln. Dazu gehört auch, dass man neue Applikationsformen dieser Gentherapien entwickelt. Das Problem ist, dass die Moleküle so groß sind, dass sie nicht die Blut-Hirn-Schranke passieren können. Es gibt heute Methoden, um diese Blut-Hirn-Schranke mithilfe innovativer Methoden, zum Beispiel mithilfe von Nanopartikeln penetrierbarer zu machen und damit die heute notwendigen Eingriffe, die auch bei kleinen Kinder wiederholt notwendig werden, nicht mehr nötig zu machen.

Welche Schwierigkeiten und Besonderheiten gilt es bei ALS, MH und FTD zu berücksichtigen?

Die wissenschaftlichen Fragestellungen haben Parallelen, weisen aber auch Unterschiede auf. Man muss diese Erkrankungen einzeln und sogar mit Blick auf Unterformen ansehen. Der Morbus Huntington ist zwar eine monogenetische Erkrankung, weswegen man sich therapeutisch auf dieses Gen konzentriert. Allerdings wird das klinische Erscheinungsbild nur zu 70 Prozent durch das Gen determiniert. Ob die restlichen 30 Prozent durch Umweltfaktoren oder modifizierende Gene bestimmt sind, ist auch heute noch nicht ganz klar.

Bei der ALS haben wir selbst 500 Familien in Deutschland untersucht und herausgefunden, dass nur etwa fünf Prozent aller Patienten einem autosomalen Erbgang unterliegen. Dafür gibt es mehr als 20 Gene, fünf davon machen etwa 60 Prozent der Erkrankung aus. Monogenetische Faktoren spielen also bei der ALS eine wesentlich geringere Rolle als bei Huntington.

Unterschiedliche Lokalisationen von Mutationen im neuen ALS-Gen KIF5A führen zu unterschiedlichen Erkrankungen. HSP10: Hereditäre spastische Paraplegie Typ 10, CMT2: Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung Typ 2, ALS: Amyotrophe Lateralsklerose, NEIMY: Neonatal intractable myoclonus. © Uniklinikum Ulm, Neurologie

Bei der FTD ist es ähnlich wie bei ALS, vielleicht geht es etwas mehr in die genetische Richtung als bei der ALS. Unsere Forschung zeigt aber, dass die Zahl aus der Literatur, 50 Prozent aller FTD seien genetisch, autosomal-dominant, grob überschätzt ist. Wir haben hier in Schwaben nicht mehr als 15 Prozent.

Wird man mit tieferer molekulargenetischer Charakteristik weitere Subformen entdecken?

Schema der kognitiven Stufen, entsprechend der kognitiven Funktionen eines ALS-Patienten in Analogie zu dem vierstufigen TDP43-Stufenmodell von Heiko Braak, das von Prof. Kassubeks Arbeitsgruppe erfolgreich in vivo dargestellt werden konnte. © Uniklinikum Ulm, Neurologie

Ja, nur ist die Frage, ob das therapierelevant wird. Die Sequenzierung des humanen Genoms stößt hinsichtlich der Interpretation heute an ihre Grenzen. Aber es gibt pragmatischere Ansätze, die sich nur sekundär an genetischen Befunden orientieren. Hier ist Professor Heiko Braak zu nennen, der seit mehr als zehn Jahren hier arbeitet. Er hat die Herangehensweise an neurodegenerative Erkrankungen – einschließlich dem M. Parkinson und M. Alzheimer – revolutioniert, indem er diese Krankheiten mithilfe molekularer Marker longitudinal beschrieben hat. Er hat sie auch in der präklinischen Phase charakterisiert und beispielhaft herausgefunden, dass die ersten typischen molekularen Veränderungen erstaunlicherweise im Magen-Darm-Trakt auftreten.

Man kann also Krankheiten auch ohne Genetik charakterisieren. Professor Braak hat gezeigt, dass diese Krankheiten das Gehirn nicht ungeordnet wie ein Tsunami überschwemmen. Vielmehr finden sie ihren anatomisch definierten, determinierten Weg durch das Gehirn. Und wenn dies tatsächlich so stereotyp abläuft, kann man diesen Weg vielleicht unterbrechen. Das ist eine therapeutische Chance, der wir hier auch nachgehen.

Wie steht es mit den biologischen Markern am Standort Ulm?

Da sind wir schon recht weit; gerade in Ulm haben wir recht viel Neues entwickelt. Im Bereich der Bildgebung ist Professor Kassubek zu nennen, ein hervorragender Biomarkerspezialist im Bereich neurodegenerativer Erkrankungen. Er hat den bis dato besten Biomarker, der durch bildgebende Methoden definiert wird, für die ALS entwickelt3. Auch Professor Otto ist besonders zu nennen, der nicht nur einen, sondern mehrere Biomarker in Blut und Liquor für diese Erkrankungen entwickelt hat. Wir werden unsere zukünftigen Studien mithilfe dieser in den letzten Jahren entwickelten Biomarker durchführen und hoffen, dass die Biomarker eine therapeutische Antwort vorhersagen. Wenn dies so ist, können wir vielleicht in der Zukunft Studien durchführen, die weniger Zeit in Anspruch nehmen und damit weniger kostenträchtig sind.

Das schnellere Screenen von therapeutisch aktiven Substanzen ist ein wesentliches Ziel des Instituts. Wir haben Biomarker für alle diese drei Erkrankungen, sie müssen jetzt eingesetzt werden. Damit sind wir aber auch wieder am Anfang unseres Gesprächs: Eine aktive Mithilfe und Unterstützung unserer Patienten und ihrer Familien ist von besonderer Wichtigkeit.

Literatur:

1 BIOPRO Baden-Württemberg GmbH: Lässt sich die tickende Huntington-Uhr anhalten (Fachbeitrag, 02.08.2016), URL: https://www.gesundheitsindustrie-bw.de/de/fachbeitrag/aktuell/laesst-sich-die-tickende-huntington-uhr-anhalten/ (Stand: 10.07.2018)

2 Universität Ulm: Die Entschlüsselung der Struktur des Huntington Proteins (Pressemitteilung, 22.02.2018), URL: https://www.uni-ulm.de/med/fakultaet/med-detailseiten/news-detail/article/die-entschluesselung-der-struktur-des-huntingtin-proteins-2/ (Stand: 10.07.2018).

3 Jan Kassubek, Hans-Peter Müller, Kelly Del Tredici, Johannes Brettschneider, Elmar H. Pinkhardt, Dorothée Lulé, Sarah Böhm, Heiko Braak, Albert C. Ludolph: Diffusion tensor imaging analysis of sequential spreading of disease in amyotrophic lateral sclerosis confirms patterns of TDP-43 pathology. Brain, Volume 137, Issue 6, 2014, Pages 1733–1740.

Seiten-Adresse: https://www.gesundheitsindustrie-bw.de/fachbeitrag/aktuell/ludolph-neurodegenerative-erkrankungen-diagnostizieren-und-therapieren