Alternative zu Tierversuchen
Medikamententests an Miniaturorganen
Wirkstoffe, die als Medikamente infrage kommen, müssen zunächst in Tierversuchen getestet werden. Doch die Ergebnisse sind nicht immer auf den Menschen übertragbar, weswegen schon lange an Alternativen geforscht wird. Die Lösung könnten miniaturisierte menschliche Organe sein, mit denen sich die Wirksamkeit potenzieller Medikamente gezielt testen lässt. Auch Forscher des Karlsruher Instituts für Technologie haben in der Ausgründung vasQlab ein solches Testsystem entwickelt.
In Deutschland werden pro Jahr rund drei Millionen Tierversuche durchgeführt. Ein Großteil davon entfällt auf die biologische Grundlagenforschung und Medikamententests. Tierversuche sind nicht nur ethisch umstritten, sie sind auch zeitaufwändig und teuer. Zudem sind die Ergebnisse aus Tierexperimenten nur bedingt aussagekräftig, denn der Stoffwechsel verschiedener Tierarten reagiert auch unterschiedlich auf bestimmte Wirkstoffe. So vertragen Hunde und Katzen das Flohmittel Frontline, Kaninchen aber nicht. Entsprechend bestehen vier von fünf potenziellen Arzneistoffen, die sich in Tierversuchen als wirksam und sicher erwiesen haben, die klinische Prüfung am Menschen nicht, weil sie Nebenwirkungen hervorrufen oder gar nicht wirken.
Organchips statt Tierversuche
Sogenannte Organ-on-a-Chip-Systeme gelten als Schlüsseltechnologie, um Tierversuche zumindest zu reduzieren, mögliche Wirkstoffe schneller, günstiger und effizienter zu identifizieren und ihre Verträglichkeit zu testen. Dabei bilden Wissenschaftler einzelne menschliche Organe in miniaturisierter Form nach. Am Karlsruher Institut für Technologie hat auch die Forschungsgruppe von Professorin Ute Schepers solche Organchips entwickelt. Der 1–Organ–vasQchip wird bereits in der akademischen Forschung getestet und soll bis April 2018 Marktreife erlangen.
Doch wie muss man sich ein solches miniaturisiertes Organ vorstellen? Der eigentliche vasQchip bildet nur das künstliche Blutgefäßsystem. Auf ihm befinden sich schmale, parallel angeordnete runde Kanäle aus einer dünnen Kunststofffolie, die als künstliche Blutgefäße dienen. „Damit Nährstoffe und Wirkstoffe aus diesen künstlichen Blutgefäßen in die miniaturisierten Organe gelangen, wird die Folie mit kleinen Mikrometer großen Poren versehen“, sagt Schepers.
In diese Kanäle lässt das Forscherteam Blutgefäßzellen einwandern, die sich an die Innenseite heften und so lange wachsen, bis sie den Kanal vollständig auskleiden. Anschließend werden die miniaturisierten Organe auf die Rückseite des künstlichen Blutgefäßes aufgedruckt: Ein 3D-Drucker gibt ein Gemisch aus menschlichen Zellen, zum Beispiel Leberzellen, extrazellulärer Matrix sowie Wachstumsfaktoren Schicht für Schicht auf das Blutgefäß. „Wie eine echte Leber sieht das natürlich nicht aus, eher wie ein würfelförmiger Pressschinken“, sagt Schepers, „aber funktionell kommt das Modell dem echten Organ schon sehr nahe.“
Die Kunst, Organe zu züchten
Was sich einfach anhört, ist eine Kunst für sich: Die Wissenschaftler müssen den Lebensraum der Organzellen so gestalten, dass diese sich so wohl fühlen, dass sie anwachsen, sich selbstorganisiert dreidimensional entfalten, Zellkolonien bilden und sich am Ende wie ein echtes Organ verhalten. Das heißt, das Trägermedium muss so beschaffen sein, dass die Zellen darauf haften und wachsen können, die Nährlösung – künstliches Blut - muss richtig zusammengestellt sein und in der korrekten Geschwindigkeit im System zirkulieren.
„Leberzellen sind besonders sensibel. Wenn sie sich nicht dreidimensional ausrichten können, bilden sie keine Gallengänge und verlieren schnell ihre Form und Funktion. Eine Leberzelle ist dann nicht mehr länger eine Leberzelle“, erklärt Schepers. Auch viele andere Zelltypen verlieren ihre zellspezifischen Eigenschaften, wenn man sie in der üblichen, zweidimensionalen Petrischalen-Kultur hält. Weswegen diese Form der Zellkultur Tierversuche auch nicht ersetzen kann.
Denn damit sich gezüchtete Zellen wie im menschlichen Körper verhalten, braucht es die dreidimensionale Struktur. Sind die Lebensbedingungen von den Forschern gut eingestellt, erfüllen die Miniaturorgane ihre Stoffwechsel- und Gewebefunktionen über mehrere Wochen oder Monate hinweg – womit die Voraussetzung für die Simulation eines echten Organs geschaffen ist.
Miniaturorgane als Testsystem
Die zu testenden Substanzen gelangen über die künstlichen Blutbahnen in die miniaturisierten Organmodelle. Anhand von Blut- und Leberwerten und bestimmten Enzymaktivitäten können die Forscher messen, wie die Organzellen reagieren. Auf diese Weise lassen sich Aussagen über die Wirksamkeit und Verträglichkeit einer Substanz machen, und das, bevor sie an Tieren oder Menschen getestet wurde.
Die Miniaturisierung ermöglicht es außerdem, etliche Versuchsreihen parallel und automatisch durchzuführen. „Wir bieten ein Plug-and-Play-System mit integrierter Analytik an. Auf diese Weise lassen sich Ergebnisse statistisch besser auswerten, weil sie vergleichbar sind und leicht in großem Umfang wiederholt werden können“, sagt Schepers.
Derzeit arbeitet das Team an der Entwicklung von durchbluteten Leber-, Darm- und Tumormodellen sowie einem Modell der Blut-Hirn-Schranke. Um die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Organen bewerten zu können, sollen mittelfristig verschiedene Organe auf einem Chip kombiniert werden. „Der Traum ist ein body-on-a-chip, also ein Chip, der alle wichtigen Organe eines Menschen beinhaltet“, sagt Schepers, „und langfristig sind sogar personalisierte Organchips denkbar.“
Durch die enormen Fortschritte in der Stammzellforschung können aus den Zellen eines Patienten heute induzierbare pluripotente Stammzellen gewonnen werden. Das ermöglicht die Züchtung und Differenzierung von menschlichem Gewebe, ohne die ethisch umstrittenen embryonalen Stammzellen verwenden zu müssen. Denkbar wäre dann zum Beispiel folgendes Szenario: Ein Arzt, der einem Patienten ein drittes Medikament verschreiben möchte, könnte zunächst einen Test mit dem entsprechenden Organchip anfordern, um mögliche Wechsel- und Nebenwirkungen der Medikamente vorab im Labor zu testen und auszuschließen.
Noch sind solche personalisierten Organchips Zukunftsmusik. Aber die ersten Organmodelle stehen kurz vor dem Einsatz und werden in der Praxis zeigen, wie gut sie mit ihren lebendigen Vorbildern mithalten.