Mikrochip sorgt für Bewegung im Darm
Die Stuhlinkontinenz ist ein häufiges Problem in der Bevölkerung – und dennoch stark tabuisiert. Ein kleiner, über dem Kreuzbein implantierter Mikrochip kann die Lebensqualität der Betroffenen jetzt erheblich verbessern. Die Sakralnervenstimulation (SNS) gibt aber nicht nur die Fähigkeit zurück, den Stuhlgang zu kontrollieren, sondern liefert auch ganz neue Erkenntnisse über die Innervation und Physiologie von Darm und Beckenboden.
Dr. med. Dirk Weimann
© Klinikum Ludwigsburg
Es gibt Erkrankungen, über die die Betroffenen gerne den Mantel des Schweigens hüllen. Die sogenannte Stuhlinkontinenz gehört ohne Zweifel in diese Kategorie. Menschen, die daran leiden, können beispielsweise aufgrund einer Funktionsstörung der analen Schließmuskulatur oder des Beckenbodens ihre Darmentleerung nicht mehr bewusst kontrollieren. Es kommt zu unwillkürlichen Stuhlabgängen, was im Alltagsleben eine enorme Belastung darstellt. Allein in Deutschland gibt es rund zwei Millionen Betroffene. „Vermutlich liegt die Dunkelziffer aber noch deutlich höher, weil viele aus Scham gar nicht erst zum Arzt gehen“, berichtet Dr. med. Dirk Weimann, Oberarzt am Klinikum Ludwigsburg. Betroffen sind vor allem ältere Frauen, wobei die Erkrankung auf keine bestimmte Altersgruppe beschränkt ist. Die Ursachen reichen von einem Gebärtrauma, über Tumorerkrankungen bis hin zu neurologischen Erkrankungen wie Multiple Sklerose oder Morbus Parkinson.
Die Sakralnervenstimulation (SNS) - ein neuartiges Verfahren, an dem auch Weimann forscht - stellt jetzt einen enormen Fortschritt in der Behandlung der Stuhlinkontinenz dar. Dazu wird bei den Betroffenen am Gesäß ein kleiner Pulsgenerator implantiert, der über eine dünne Elektrode elektrische Impulse an die durch das Kreuzbein (Os sacrum) aus dem Rückenmark entspringenden Nervenfasern sendet. Diese sogenannten Sakralnerven versorgen unter anderem die Muskulatur des Beckenbodens sowie des aus Anus und Mastdarm (Rektum) bestehenden Enddarms. Gleichzeitig beeinflussen sie aber auch die Blasen- und Genitalfunktion und die Bewegung der Beine.
Verfahren der Zukunft
Ein am Gesäß implantierter Mikrochip sendet elektrische Impulse an die aus dem Rückenmark entspringenden Sakralnerven.
© Klinikum Ludwigsburg
„Die richtige Position für die Elektrode zu finden, um möglichst nur die für die Regulation der Kontinenz relevanten Nerven zu reizen, braucht einiges an Erfahrung“, erklärt Weimann, der zu den führenden SNS-Spezialisten in Deutschland zählt. Das Prinzip der Sakralnervenstimulation hat sich in der Vergangenheit schon bei der Behandlung der Harninkontinenz bewährt. „Es ist auch bei der Stuhlinkontinenz das Verfahren der Zukunft“, ist der Chirurg überzeugt - zumal konservative und andere operative Maßnahmen oft keine befriedigenden Langzeitergebnisse liefern.
Die Erfolgsrate der SNS liegt mittlerweile bei fast 80 Prozent. Ein Großteil der Patienten hat nach dem minimalinvasiv durchgeführten Eingriff die vollständige Kontrolle über seine Darmentleerung wieder. Dem Rest hilft ein kleiner technischer Kniff - denn der Mikrochip kann vor dem Gang zur Toilette vom Patient selbst über eine kleine handliche Fernbedienung deaktiviert werden. „Danach kommt es binnen weniger Minuten zum Stuhlgang", erklärt Weimann, der am Klinikum Ludwigsburg das Beckenbodenzentrum leitet. Problematisch sind nach Einschätzung des Experten nur die relativ hohen Kosten für das Verfahren, die momentan noch bei circa 10.000 Euro liegen. „Wenn man aber die Lebensqualität der Betroffenen oder auch die Erleichterung bei der Pflege älterer Patienten gegenrechnet, dann macht sich der Eingriff auf jeden Fall bezahlt“, ist Weimann überzeugt.
Neue physiologische Erkenntnisse
So vielversprechend sich das neue Verfahren im klinischen Einsatz erweist, so wenig verstanden ist bislang der genaue Mechanismus, über den die Sakralnervenstimulation wirkt. Lange ging man davon aus, dass die direkte elektrische Stimulation des motorischen Anteils der Sakralnerven und die damit verbundene Kontraktion des sogenannten Sphinkters - eines ringförmigen Muskels, der den Anus verschließt – zur Besserung der Symptomatik führt. „Deshalb wurde das Verfahren ursprünglich auch nur bei Patienten angewandt, bei denen der Sphinkter strukturell intakt war“, berichtet Weinmann. Mehrere Studien haben inzwischen aber gezeigt, dass auch Menschen mit einem Sphinkterdefekt – wie er beispielsweise infolge einer Analfistel und einer vorangegangenen Operation oder einem Gebärtrauma auftreten kann – von der SNS profitieren.
„Offensichtlich spielen bei der Aufrechterhaltung der fäkalen Kontinenz neben motorischen auch noch andere Effekte eine entscheidende Rolle“, berichtet Weimann. So verbessert die SNS bei den Betroffenen unter anderem die sensorische Wahrnehmung des stark innervierten Analkanals sowie der Rektumwand, wodurch die Reservoirfunktion - und damit die Stuhlspeicherkapazität - des Enddarms signifikant verbessert wird. „Zudem werden auch die Durchblutung der Darmschleimhaut und die Peristaltik des Darms aktiviert“, erklärt der Mediziner, „das lässt auf eine direkte Beeinflussung des vegetativen Nervensystems schließen.“
Paradoxe Wirkung
Dieses komplexe Zusammenspiel könnte auch die paradoxe Beobachtung erklären, dass die SNS nicht nur bei Stuhlinkontinenz, sondern auch bei chronischer Verstopfung zu einer Verbesserung der Symptome führt. „Offensichtlich hat die SNS einen modulierenden Effekt auf gleich mehrere den Darm und Beckenboden betreffende sensomotorischen Regelkreisläufe – und zwar sowohl auf der Ebene des Rückenmarks als auch auf zentraler Ebene“, berichtet Weimann. Der Chirurg hält es sogar für möglich, dass sich das Einsatzgebiet der SNS in naher Zukunft noch stärker ausweitet – denn vielversprechende Ansätze gibt es inzwischen auch bei chronischen Schmerzzuständen im Bereich des Beckens sowie bei Störungen der Sexualfunktion.