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Experteninterview

Mit pflanzlichen Wirkstoffgemischen gegen Krankheiten

Pflanzliche Arzneimittel haben in Deutschland eine lange Tradition. Im Juli 2016 waren laut Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte 1.320 Phytopharmaka zugelassen. Dass Pflanzen zahlreiche Wirkstoffe gegen Mikroorganismen produzieren, die sich auch der Mensch zunutze machen kann, erklärt Professor Dr. Michael Wink, Direktor am Institut für Pharmazie und Molekulare Biotechnologie der Universität Heidelberg in einem Interview mit Dr. Ariane Pott für die BIOPRO Baden-Württemberg.

Wie definieren Sie ein pflanzliches Arzneimittel?

Professor Dr. Michael Wink, Direktor am Institut für Pharmazie und Molekulare Biotechnologie der Universität Heidelberg © Wink

Der Laie hält alle Arzneimittel, die aus Pflanzen gewonnen werden, für ein pflanzliches Arzneimittel. Aber entscheidend ist das Arzneimittelgesetz, das AMG. Es unterscheidet mehrere Kategorien: Alle Reinsubstanzen, die aus Pflanzen isoliert werden, gehören nach dem AMG zu den chemische definierten Substanzen; also zum Beispiel ein Herzglykosid oder Morphin sind für das AMG gleichbedeutend mit synthetischen Substanzen. Dann gibt es die Pflanzen-Präparate, bei denen nicht die Reinsubstanz verwendet wird, sondern immer nur der Extrakt. Solche Extraktpräparate betrachtet das AMG als pflanzliche Arzneimittel (Phytopharmaka). Und dann gibt es natürlich auch noch andere Arzneimittel aus Pflanzen, die in der Homöopathie oder Anthroposophie benutzt werden. Aber das sind nach dem AMG keine Arzneimittel der Phytotherapie, sondern homöopathische oder anthroposophische Arzneimittel.

Welche Funktion haben die Stoffe, die wir als Arzneimittel verwenden, für die Pflanze?

Dieser evolutionären Frage sind wir in unserer Forschung sehr intensiv nachgegangen. Pflanzen können nicht weglaufen, sind aber von sehr vielen Fressfeinden umgeben. Sie setzen daher auf chemische Verteidigung. Aus diesem Grund sind auch viele Pflanzen giftig. Doch die chemische Verteidigung gegen Pflanzenfresser ist nicht absolut. Denn es gibt immer die Gegenentwicklung bei den Pflanzenfressern, die sich an die Pflanzenchemie angepasst haben, indem sie die Pflanzeninhaltsstoffe in der Leber abbauen oder schnell aus den Zellen ausschleusen können.

Pflanzen haben natürlich dasselbe Problem mit Infektionen durch Mikroorganismen, also mit Pilzen, Bakterien und Viren, wie wir Menschen. Pflanzen haben aber kein Immunsystem wie Tiere, sondern setzen Sekundärstoffe zum Schutz ein. Das heißt, dass sehr viele Sekundärstoffe der Pflanze auch antimikrobiell wirken. Die Pflanze versucht mehrere Funktionen mit einem Wirkmolekül zu erfüllen. Besonders die Blütenpflanzen locken Bestäuber mit Sekundärstoffen an, die aber gleichzeitig fressabschreckend wirken. Denn die Sekundärstoffe (sowohl die Geruchsstoffe als auch die Farbstoffe) halten im Nahbereich Insekten vom Blütenfraß ab. Die Insekten werden von den Sekundärstoffen zwar angelockt, sollen aber nicht die Blüte fressen. Daher werden sie von der Pflanze durch den Nektar belohnt. Eine weitere Funktion haben Sekundärstoffe in Früchten. Wenn diese reif werden, sind sie attraktiv für Samenverbreiter (Frugivore). Auch hier sind die Sekundärstoffe anlockend. Aber bei unreifen Früchten, die nicht gefressen werden sollen, gilt meist genau das Gegenteil, diese sind meist bitter und giftig. Kurz vor der Fruchtreife wird das Gift entfernt, wie zum Beispiel bei der Tomate: Während die grüne Tomate giftig ist, wird die rote Tomate essbar, weil die giftigen Steroidalkaloide der grünen Tomate abgebaut wurden.

Pflanzen produzieren Wirkstoffgemische, die Pflanzen davor schützen gefressen zu werden oder durch Infektionen umzukommen. Und jetzt kommt etwas Wichtiges hinzu: Die Pflanze setzt auf Dutzende bis Hunderte von Sekundärstoffen, die parallel produziert werden und unterschiedliche Targets angreifen. Die Pflanze hat also immer ein Wirkstoffgemisch zur Verfügung. Dieses ist zwar weniger selektiv, hat aber den Vorteil, dass eine Vielzahl von Feinden erwischt werden kann und potenzielle Resistenzentwicklungen weniger wahrscheinlich auftreten. In Gemischen ist es dabei häufig nicht möglich zu bestimmen, welche Einzelkomponente am wirksamsten ist. Deshalb sagt der Gesetzgeber für die in der Phytotherapie eingesetzten Extraktpräparate, dass der Extrakt einer Pflanze der Wirkstoff ist.

Können Sie ein Beispiel für einen Extrakt und seine Wirkungsweise geben?

Aus den Blättern, Blüten und Früchten des Weißdorns (Crataegus monogyna) werden standardisierte Extraktpräparate hergestellt. © Wink

Der Weißdorn zum Beispiel ist eine Arzneipflanze, die bei Herzerkrankungen eingesetzt wird. Die wirksamen Sekundärstoffe gehören zu den Polyphenolen, hier Catechinderivate, die per se nicht selektiv sind und nicht an irgendeinem spezifischen Target angreifen, sondern an ganz vielen. Aber sie greifen auch an den Targets an, die bei der Herzinsuffizienz eine Rolle spielen. Und diese Interaktion kommt dadurch zustande, dass Polyphenole mit Proteinen molekular interagieren, indem sie viele kovalente und auch nicht-kovalente Bindungen mit Proteinen eingehen. Jetzt enthält der Extrakt aber auch gleichzeitig Saponine, und das sind Substanzen, welche die Resorption der polaren Phenole verbessern. Das heißt die Wirkung des Extrakts ist besser, als wenn ich ein einzelnes Polyphenol einsetzen würde.

Wie geht man vor, wenn man neue pflanzliche Wirkstoffe finden möchte?

Das Paradigma der Pharmakologie ist, dass man Wirkstoffe an einem spezifischen Target entwickelt, also an einem Rezeptor oder einem Enzym. Man entwickelt einen Wirkstoff, der an einem Target genau passt, entweder als Agonist oder als Antagonist. Und jetzt geht man mit derselben Erwartungshaltung an die Pflanzen heran. Und es gibt tatsächlich Pflanzen, die Neurotoxine herstellen, die spezifisch an einem Neurorezeptor angreifen. Wie zum Beispiel die Tollkirsche mit dem Tropanalkaloid Hyoscyamin (das Razemat heißt Atropin), das den Rezeptor für den Neurotransmitter Acetylcholin blockiert. Aber was man übersieht ist, dass die Tollkirschen auch noch viele andere Substanzen produzieren und diese versetzen die Tollkirsche in die Lage, auch noch gegen Mikroorganismen geschützt zu sein, denn dort nützt Atropin nichts. Das bedeutet, dass ein Tollkirschen-Extrakt ein deutlich breiteres Wirkspektrum aufweist als das isolierte Alkaloid Hyoscyamin.

Aber es gibt viele Pflanzen, in denen man so hochaktive Substanzen nicht findet. Bei ihnen sieht man häufig Gemische von weniger giftigen oder ungiftigen Saponinen, Terpenen und Polyphenolen, aber keine Einzelsubstanz, von der man sagen könnte, die ist besonders spektakulär. Man schätzt, dass 70 Prozent der Pflanzen keine auffällig giftigen Substanzen herstellen, sondern eher raffinierte Gemische, deren Komponenten sich synergistisch ergänzen.

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