Mit Zellen und Biomaterialien gegen Bandscheibenschäden
Bei einem neuen Therapieverfahren sollen Bandscheiben mit patienteneigenen Knorpelzellen regeneriert werden. Das NMI Reutlingen und seine Partner begleiten die ersten klinischen Anwendungen wissenschaftlich. Das wichtigste Ziel der Reutlinger Forscher: Sicherheit, Effizienz und Wirksamkeit der neuen Methode sollen validiert werden, um die Zulassung für eine breite Anwendung vorzubereiten.
Histologische Schnitte durch die Bandscheibe helfen den Forschern dabei, den Zustand des Gewebes zu analysieren. Kollagene Gewebeanteile sind hier grünlich gefärbt, Proteoglykane als wichtige Bestandteile der Knorpelmatrix rötlich.
© NMI Reutlingen
Ausgangspunkt der neuen Therapie sind Knorpelzellen aus der Bandscheibe des jeweiligen Patienten. Um an diese Zellen heranzukommen, müsste der Arzt eine Biopsie durchführen. Dieser Eingriff ist zwar minimalinvasiv, aber dennoch mit gewissen Risiken verbunden, deshalb wird er allein zum Zweck der Zellgewinnung nicht durchgeführt. Anders sieht es aus, wenn ein Bandscheibenvorfall so große Probleme bereitet, dass er operativ entfernt werden muss. Das entfernte Gewebe kann dann genutzt werden, um im Labor einzelne Zellen daraus zu isolieren. Für die Zelltherapie werden sie unter kontrollierten Bedingungen massiv vermehrt: Nach wenigen Wochen sind aus einigen hunderttausend Zellen mehrere Millionen geworden, die dem Patienten in die Bandscheibe gespritzt werden können. Dort sollen die Zellen extrazelluläres Material bilden, wie es ihrer genetischen Natur entspricht. Dadurch wird die Bandscheibe im Idealfall in Form und Konsistenz so weit gestärkt, dass sie ihre Funktion als „Knautschzone“ zwischen den Wirbelkörpern wieder erfüllen kann.
Dass die Zellen den Umweg über die Laborvermehrung nehmen müssen, liegt an ihrem quasi autistischen Verhalten. Prof. Dr. Jürgen Mollenhauer ist Forschungs- und Entwicklungsleiter bei der Reutlinger TETEC AG, die zur Entwicklung neuer Zelltherapien eng mit dem NMI Reutlingen zusammenarbeitet. Er erklärt die Zusammenhänge: „Die Knorpelzellen in der Bandscheibe kommunizieren nicht mit ihrer Umgebung, deshalb entgeht ihnen die Notwendigkeit der Vermehrung. Zwar konnte experimentell am Tiermodell gezeigt werden, dass die Bildung von Zellnestern vor Ort angeregt werden kann. Es kommt dann jedoch nicht zu einer Umverteilung, von der das gesamte Gewebeareal profitieren würde.“
Qualitätschecks begleiten die Herstellung der Zelltherapeutika
Bei der Massenvermehrung im Labor dürfen die Zellen ihre Eigenschaften und Qualitäten natürlich nicht verlieren. Um das laufend analysieren zu können, entwickelt ein Team am NMI Reutlingen unter Leitung von Dr. Karin Benz neue Testsysteme. Diese Arbeiten sind Teil eines BMBF-geförderten Verbundprojekts, mit dem die Sicherheit, Effizienz und Wirksamkeit des neuen Verfahrens sichergestellt werden sollen – und zwar ab dem Zeitpunkt, zu dem die Zellen in Kultur genommen werden, bis zu fünf Jahre nach ihrer Injektion in die Bandscheibe ausgewählter Patienten. Beteiligt sind neben dem NMI Reutlingen und der TETEC AG Kliniken in Deutschland und Österreich, an denen das Verfahren erstmals angewendet wird. Die TETEC AG stellt auch das Hydrogel her, das den Zellen bei und nach der Injektion als Trägersubstanz dient. Es besteht aus zwei flüssigen Komponenten, die in einer Zweikammerspritze erst während der Injektion kombiniert werden. In der Bandscheibe formt sich dann ein Gel, in dem die Zellen gleichmäßig verteilt eingebettet sind.
Dreh- und Angelpunkt der NMI-Arbeiten ist die Entwicklung von Biomarkern und darauf abgestimmter Assays, mit denen die Qualität der Zellen zuverlässig überprüft werden kann. Ideal wäre ein Marker, der sowohl im Zellkulturüberstand als auch in Blut- und Urinproben funktioniert. „Direkte Tests können wir nur bis zum Zeitpunkt der Transplantation durchführen, indem wir Überstände aus der Zellkultur analysieren. Danach findet ein indirektes Monitoring statt, dafür stehen uns unter anderem Blut- und Urinproben zur Verfügung. Außerdem werden klassische klinische Untersuchungen zur Beweglichkeit, Aktivität und zum Befinden des Patienten durchgeführt, ergänzt von MRT-Untersuchungen“, erklärt Benz. Die Daten werden dann fortlaufend korreliert mit den vorausgegangenen Markertestungen aus der Zellkultur. So wollen die Forscher eine möglichst lückenlose Datengrundlage schaffen, mit der die Therapie in die europäische Zulassung für eine breite Anwendung am Patienten gehen soll.
Testentwicklung profitiert von innovativen Biotech-Methoden
Mit einem speziell entwickelten Zweikammer-Applikationssystem werden die therapeutischen Zellen in die Bandscheibe gespritzt. Die Gelbildung startet erst, wenn das Vernetzungsmittel aus der einen Kammer wärend der Injektion mit der Zellsuspension aus der anderen Kammer in Kontakt kommt.
© TETEC AG
Als Marker bieten sich Proteine an, die von den Zellen selbst produziert werden. Das NMI-Team hat die Suche nach geeigneten Verbindungen generalstabsmäßig geplant und wollte zunächst keine Möglichkeit auslassen. Deshalb wurden bei der Tübinger CeGaT GmbH Transkriptomanalysen in Auftrag gegeben. Bei diesen wird das Transkriptom einer Zelle, also die gesamte Menge an in diesen Zellen aktiven Proteinbauplänen, auf einmal gescreent. „Wir wollten auch abseits der klassisch bekannten Moleküle suchen und sind so tatsächlich auf neue Marker gestoßen. Dank der großen Fortschritte in der Sequenziertechnologie sind Transkriptomanalysen heute ein wichtiges und inzwischen relativ günstiges Werkzeug geworden, um Markerproteine zu finden“, sagt Benz. Zu den Kandidaten, die nun in der engeren Auswahl sind, gehören Entzündungsmediatoren wie Interleukine. „Außerdem haben wir diverse Degradations- und Aufbaumarker in Arbeit, zum Beispiel Metalloproteinasen, die Proteine der extrazellulären Matrix abbauen“, sagt Benz.
Die Testsysteme selbst beruhen auf bewährten Methoden, die vom NMI-Team entsprechend angepasst und optimiert werden. Wichtig ist, dass die Tests schnell genug sind, um sie als Produktkontrolle direkt vor der Transplantation einsetzen zu können. Gegebenenfalls könnte dann noch entsprechend reagiert werden, zum Beispiel, indem die Anzahl injizierter Zellen verändert wird. „Bis zum Versand an den Arzt steht uns für die Produktkontrolle ein Zeitfenster von rund 24 Stunden zur Verfügung. Das ist ausreichend für die üblichen Proteinnachweise, wie zum Beispiel ELISA-Tests“, sagt Benz. Langfristig hat sie nicht nur die Qualitätsüberprüfung der Zelltherapeutika im Blick, sondern sie will auch prognostische Marker entwickeln. So soll vorhergesagt werden können, ob mit den Zellen des Patienten überhaupt eine erfolgreiche Behandlung möglich ist. Damit würde das Team einen wichtigen Beitrag zur „individualisierten Medizin“ leisten.