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Molekulares Monitoring von Frühgeborenen

Frühgeburten sind in Deutschland keine Seltenheit – derzeit kommen in Deutschland etwa sieben Prozent aller Neugeborenen vor der 37. Schwangerschaftswoche auf die Welt. Die WHO geht aufgrund des steigenden Alters der Mütter von steigenden Frühgeburtenzahlen weltweit aus. Bei der Betreuung der kleinen Patienten stehen Ärzte allerdings bislang vor einem Dilemma, denn regelmäßige Blutentnahmen für ein klinisches Monitoring wichtiger Blutparameter sind aufgrund des geringen Körpervolumens der Säuglinge nicht möglich.

Eine regelmäßige Messung von Plasmaproteinen, die essenzielle Informationen über den Funktions- und Entwicklungsstatus verschiedener Organe liefern könnte, musste daher bisher unterbleiben. Ein Verbundforschungsprojekt des Bundesforschungsministeriums unter Beteiligung der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Dieter Stoll an der Hochschule Albstadt-Sigmaringen möchte hier Abhilfe schaffen: Es soll die Analyse von Plasmaproteinen auf der Grundlage weniger Blutstropfen möglich machen.

Dieter Stoll, Professor an der Hochschule Albstadt-Sigmaringen, arbeitet an einem Test zur Blutproteinanalyse, der insbesondere zur medizinischen Betreuung Frühgeborener eingesetzt werden kann. © privat

„Untergewicht ist bei Frühgeborenen eine der wichtigsten Ursachen für eine hohe Säuglingssterblichkeit“, erläutert Dieter Stoll, Professor für Bio-Engineering an der Hochschule Albstadt-Sigmaringen. „Eine verzögerte Organentwicklung und ein schlechter Ernährungsstatus können zudem zu schwerwiegenden Behinderungen und chronischen Erkrankungen führen.“ Für die Betreuung der kleinen Patienten wäre eine engmaschige Analyse verschiedener Plasmaproteine aufschlussreich. Die Menge sogenannter diagnostischer Markerproteine ermöglicht genaue Aussagen über die unterschiedlichsten Körperfunktionen wie etwa Gerinnung, Immunabwehr, Nährstoff-Transport und Proteaseinhibition.

Allerdings stellt schon die Abnahme von wenigen Millilitern Blut, wie sie für etablierte Diagnoseverfahren erforderlich sind, ein hohes Risiko für die Gesundheit der Frühgeborenen dar. Im Bereich des Fett- und Aminosäurestoffwechsels konnten sich gerade beim Neu- und Frühgeborenenscreening auf angeborene Stoffwechselerkrankungen bereits massenspektrometrische Verfahren durchsetzen, die mit deutlich geringeren Probenmengen diagnostische Ergebnisse produzieren.

Für die Analyse von Plasmaproteinen steht die Entwicklung eines solchen Verfahrens allerdings noch aus. An diesem Punkt möchte ein Verbundforschungsprojekt ansetzen. Beteiligt sind daran die Klinik für Kinder- und Jugendmedzin der Universität Lübeck, die Hochschule Albstadt-Sigmaringen, das Naturwissenschaftliche und Medizinische Institut an der Universität Tübingen und zwei mittelständische Unternehmen, die HB Technologies AG aus Tübingen und die Protagen AG in Dortmund. Das ehrgeizige Ziel: 50 Plasmaproteine sollen per Massenspektrometrie aus einem Kapillarsbluttropfen identifiziert werden.

Massenspektrometrie – eine Probe, viele Ergebnisse

Die Massenspektrometrie, die die Arbeitsgruppe Stoll bei ihrer Forschung einsetzen will, weist mit ihrer Multiplexfähigkeit einen entscheidenden Vorteil gegenüber etablierten immunologischen Testsystemen auf. „Mit der Massenspektrometrie sind wir in der Lage, mit einer einzigen Probe eine Vielzahl von Analyten gleichzeitig in einem sehr geringen Probenvolumen quantifizieren zu können“, erklärt Stoll. In der Regel wird bei massenspektrometrischen Messungen von Proteinen zunächst eine Proteolyse durchgeführt, bei der die Proteine mit Enzymen in definierte Peptide gespalten werden, die im Massenspektrometer besser nachweisbar sind. Außerdem kann die Menge jedes Proteins dann über mehrere unterschiedliche Peptide gleichzeitig gemessen werden, was die Sicherheit der diagnostischen Aussage erhöht.

Um später die Menge der gesuchten Proteine sicher bestimmen zu können, werden dem Blutstropfen sogenannte stabil isotopenmarkierte Proteine in einer definierten Menge zugesetzt. Diese Referenzproteine haben dieselben Eigenschaften wie die entsprechenden gesuchten Proteine im Patientenblut und ergeben nach der Proteolyse dieselben Peptide, die nur im Massenspektrometer anhand ihrer etwas größeren Masse unterschieden werden können. Durch den Vergleich der Signalstärke des Referenzpeptides und des Peptides aus dem natürlich vorkommenden Blutprotein kann die Menge des Blutproteins direkt bestimmt werden. Da im Blut sehr viele Proteine in sehr unterschiedlichen Konzentrationen vorliegen, müssen die gesuchten Peptide aus Milliarden anderen Peptide vor der massenspektrometrischen Bestimmung angereichert werden. Dazu werden heute in der klinischen Forschung bereits Antikörper eingesetzt. Allerdings bringt dieses Verfahren der sogenannten Immunaffinitätsanreicherung auch wesentliche Nachteile mit sich: Erstens stellt die Entwicklung von Antikörpern ein zeit- und kostenintensives Unterfangen dar und zweitens handelt es sich bei Antikörpern um sehr teure Reagenzien.

Antikörper erhöhen Nachweisempfindlichkeit für diagnostische Peptide

Die Lösung, die die Projektpartner verfolgen, weist zwei entscheidende Vorteile gegenüber dem herkömmlichen Verfahren auf: Neben der Zugabe der Referenzproteine direkt nach der Probengewinnung zählt dazu auch die Erhöhung der Nachweisempfindlichkeit und –spezifität durch Immunaffinitätsanreicherung mit speziellen Antikörpern, die am NMI in der Arbeitsgruppe von Herrn Dr. Oliver Pötz entwickelt werden. Im Vergleich zu den üblichen Antikörpern, die in der Diagnostik genau ein Molekül erkennen und binden können, sind die im Projekt eingesetzten Antikörper in der Lage eine Vielzahl von Peptiden zu binden . „Für die Anreicherung von 10.000 humanen Proteinen sollten nach unseren bioinformatischen Vorhersagen deshalb etwa 100 dieser Antikörper ausreichen“, so Stoll. Wie die sogenannten TXP (Triple-X-Proteomics)-Antikörper arbeiten, verdeutlicht Stoll an einem von Dr. Pötz (NMI) entworfenen Beispiel mit Personennamen, bei dem jeder Buchstabe für eine Aminosäure steht (siehe Abbildung). Herkömmlich verwendete Antikörper binden peptid-spezifisch an Abschnitte der Antigene (Epitope) mit einer Länge von fünf bis sieben Aminosäuren. Am Beispiel der Namen bedeutet dies, dass ein Antikörper, der die Abfolge „FABIAN“ binden kann, auf „CHRISTIAN“ oder „JULIAN“ nicht angewendet werden kann. Er ist spezifisch für FABIAN. TXP-Antikörper hingegen gehen peptidgruppen-spezifische Bindungen am Ende eines Peptids ein: Die von ihnen gebundenen Epitope sind mit drei bis vier Aminosäuren deutlich kürzer, was zur Folge hat, dass sie nicht auf ein Peptid beschränkt sind, sondern alle Mitglieder einer Gruppe von Peptiden mit gleicher Abfolge der Aminosäuren an einem der Peptidenden gleich stark binden können. Ein „IAN“-Antikörper könnte somit nicht nur „FABIAN“ binden, sondern auch beispielsweise „FLORIAN“ oder „SEBASTIAN“. Bedingung ist allerdings, dass die Aminosäuren am Terminus des Peptids vorkommen: „IANNI“ könnte auch vom „IAN-Antikörper“ nicht gebunden werden, weil der anti-IAN Antikörper nur bindet, wenn das N am rechten Ende (dem C-Terminus des Peptids) steht. Durch den Einsatz von TXP-Antikörpern können also pro Antikörper mehrere Peptide aus mehreren Proteinen gleichzeitig gebunden werden, was die Kosten für die Antikörper drastisch reduziert, die parallele Analyse mehrerer Proteine im Blut erleichtert und damit einen wesentlichen Schritt auf dem Weg zu einer effizienteren Analyse von Blutproteinen darstellt.

Zur Verfolgung des Forschungsziels leisten die einzelnen Verbundspartner ganz unterschiedliche Beiträge. Während die Protagen AG, als Koordinator des Gesamtprojektes ihren mit ihrem Schwerpunkt in der Forschung und Entwicklung von Biomarkern für die Herstellung von stabil isotopenmarkierten Referenzproteinen verantwortlich ist, bringt die HB Technologies AG ihre Kompetenz im Bau und der Steuerung von Laborgeräten für Life-Science-Anwendungen in das Projekt ein. Die Abteilung Biochemie des Naturwissenschaftlichen und Medizinischen Instituts Reutlingen ergänzt den Forschungsverbund bei der Entwicklung der massenspektrometrischen Assays durch die Herstellung und Charakterisierung der TXP Antikörper. Die medizinische Seite des Projektes umfasst die Bereitstellung von Patientenproben und die klinische Bewertung der Verfahren und wird von der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein in Lübeck durchgeführt.

Weitere Anwendungsgebiete in Aussicht

Nicht nur die Untersuchung von Säuglingen ist durch die neue Methode leichter zu bewerkstelligen, auch für klinische Studien stellt die Verwendung der Technologieplattform eine Chance dar. „Voraussichtlich reicht eine Probenmenge von 5-10 Mikrolitern zur Bestimmung mehrere diagnostischer Parameter aus, was die Methode auch sehr attraktiv für klinische Studien zur Medikamentenentwicklung für Kinder macht“, weiß Stoll. Weitere Forschungsprojekte auf Basis der TXP-Immunoaffinitätsanreicherung werden von der Arbeitsgruppe von Dr. Oliver Pötz am NMI durchgeführt und sind auch in anderen Bereichen geplant. Im Rahmen einer Abschlußarbeit wird beispielsweise die TXP-basierte Immunoaffinitätsanreicherung auf ihre Eignung als schneller und empfindlicher Allergennachweis in Lebensmitteln geprüft. „In diesem Bereich haben Kollegen der Hochschule in mehreren Forschungsprojekten bereits Testsysteme auf Nukleinsäurebasis etabliert, die wir gerne mit unseren massenspektrometrischen Technologien ergänzen würden. Dabei wäre die Zusammenarbeit mit Lebensmittelherstellern interessant“, äußert sich Stoll.
Das Projekt PlasmaQBaby wird im Rahmen der Förderinitiative des Bundesministeriums für Forschung und Technologie (BMFT) im Rahmen der Förderinitiative KMU Innovativ 8 gefördert und vom Projektträger Jülich (PTJ) betreut.
Projektlaufzeit : 2011 – 2014
Förderkennzeichen 0316073D

Seiten-Adresse: https://www.gesundheitsindustrie-bw.de/fachbeitrag/aktuell/molekulares-monitoring-von-fruehgeborenen