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N2B-patch: Umleitung für die Blut-Hirn-Schranke

Medikamente gegen Erkrankungen des zentralen Nervensystems gibt es schon einige. Allerdings kommt oft nur ein Bruchteil der Wirkstoffe dieser Medikamente auch am Ort des Geschehens an. Grund dafür ist die Blut-Hirn-Schranke, die das Gehirn schützt und dafür sorgt, dass die Wirkstoffe zur Behandlung neurologischer Erkrankungen diese Grenze nicht oder nur schwer passieren können. Nun entwickeln Forscher am Stuttgarter Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik IGB im internationalen N2B-patch-Konsortium eine spezielle Therapieform für Multiple-Sklerose-Patienten, bei der der Wirkstoff über die Nasenschleimhäute direkt ins Gehirn gelangen kann.

Damit ein Arzneimittel gut wirken kann, muss der Wirkstoff möglichst schnell und vollständig zum Wirkort kommen. Dazu wird er in der Regel über die Blutbahn zu den erkrankten Zellen transportiert. Dies geschieht je nach Gewebe mehr oder weniger effizient. Besonders schwierig ist es für Wirkstoffe, ins Gehirn zu gelangen. Der Grund hierfür ist die Blut-Hirn-Schranke – eine selektive physiologische Barriere, die die zentrale Schaltzentrale unseres Körpers besonders schützt und für den Großteil der Neuropharmaka schwer oder sogar gar nicht zu überwinden ist.

Dies gilt auch für Medikamente gegen Multiple Sklerose (MS) – eine chronisch-entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems. Zwar sind für die Behandlung schon Therapieformen auf dem Markt, die Erkrankung könnte jedoch wesentlich besser therapiert werden, wenn die Blut-Hirn-Schranke umgangen werden und die Wirkstoffe möglichst vollständig ins Gehirn gelangen könnten. Gleiches gilt auch für viele andere neurologische Erkrankungen mit erheblicher Relevanz, wie beispielsweise die Alzheimer-Krankheit.

Über die Riechschleimhaut ins Gehirn

Das internationale N2B-Projektkonsortium traf sich zum Projektauftakt am Fraunhofer IGB in Stuttgart. © Fraunhofer IGB

Vor diesem Hintergrund kamen Wissenschaftler des Stuttgarter Fraunhofer-Instituts für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik IGB zusammen mit Kollegen der Hochschule Biberach schon vor längerer Zeit auf die Idee, den Weg über das Blut zu umgehen und Wirkstoffe über die Nase ins Gehirn (N2B: „Nose2Brain") zu schleusen. Und zwar nicht über das respiratorische Epithel beispielsweise per Nasenspray, sondern über die Regio olfactoria. Dieses olfaktorische Epithel, die Riechschleimhaut, ist vom Gehirn mit seiner umgebenden Flüssigkeit nur durch das Siebbein und einige wenige Zellschichten getrennt – eine Barriere, die Wirkstoffe relativ einfach durchdringen und so das Gehirn auf kürzestem Weg erreichen könnten. „Allerdings ist das gar nicht so einfach wie das klingt: Für eine solche Therapieform braucht man die passende Formulierung und eine geeignete Apparatur, um die Formulierung zum Riechnerv zu transportieren, nicht nur den Wirkstoff. Die Formulierung in Kombination mit der Apparatur gibt es bisher noch nicht“, erklärt Dr. Carmen Gruber-Traub, die die Forschungsarbeiten am IGB leitet.

Die Forscher stießen dann im vergangenen Jahr auf eine Ausschreibung der EU, gründeten ein Konsortium und kamen erfolgreich zum Zuge. So arbeiten seit Januar 2017 insgesamt elf internationale Partner im EU-geförderten Verbundprojekt „N2B-patch“ an der Entwicklung einer medizinischen Therapieform zur Wirkstoffverabreichung über die Regio olfactoria – zunächst zur Behandlung von Multipler Sklerose. Der Part der Stuttgarter Wissenschaftler im N2B-patch-Projekt wird es sein, den Wirkstoff – einen Antikörper, der die Regeneration von Nervenzellen anregt – in eine stabile Verpackung zu integrieren, also eine geeignete Formulierung zu erarbeiten. An der gleichen Fragestellung arbeitet gleichzeitig auch die Firma MJR Pharmjet GmbH mit Sitz im Saarland. „Wir wollen an diesem wichtigen Punkt zweigleisig fahren, um dann am Ende entscheiden zu können, welcher Ansatz am besten geeignet ist“, erläutert Gruber-Traub diese Tatsache. Die Partnerfirma kann dann irgendwann einmal auch das Upscaling der Formulierung unter GMP-Bedingungen übernehmen.

Mikroskopische Aufnahme von Chitosanpartikeln: Erste Mini-Gelpflaster sollen aus Chitosan sein, das aus Meerestieren stammt und gut an Schleimhäuten klebt. © Fraunhofer IGB

Gestartet werden die Arbeiten am IGB hinsichtlich der Formulierung mit dem Biopolymer Chitosan: „Wir denken, dass dies ein guter Ansatz ist, weil das Chitosan von sich aus an den Schleimhäuten haftet“, so die Chemikerin. „Wir setzen nur bereits bei den Gesundheitsbehörden zugelassene Grundmaterialien ein. Das wird sonst zu trickreich und es macht keinen Sinn, auch noch eine andere Baustelle aufzumachen.“ Aber auch Tests mit anderen bereits kommerziell erhältlichen pharmazeutischen Polymeren sind geplant, beispielsweise mit EUDRAGIT®.

Mini-Gelpflaster für den Riechnerv

Steht die Formulierung – also Wirkstoff plus Verpackung –, soll diese in ein Hydrogel als Trägermaterial gegeben werden, das derzeit von einer der sechs Partnerfirmen entwickelt wird. Dadurch entsteht ein außerordentlich kleines Gelpflaster (patch) einer Größe von nur wenigen Millimetern. Wird dieses in die Riechschleimhaut eingesetzt, soll es dort am Riechnerv kleben bleiben: „Das vernetzte Hydrogel bleibt nur wenige Tage dort und löst sich dann von selbst auf“, erläutert die Wissenschaftlerin. „Für die Therapie wird dann alle drei bis vier Wochen ein neues Gelpflaster eingesetzt.“

Für das Einsetzen des Gelpflasters in die Nase entwickelt der deutsche Partner Beiter GmbH & Co. KG einen geeigneten Applikator; das Platzieren muss dann wahrscheinlich ein Arzt vornehmen. „Das Pflaster ist ja nur ganz klein – es soll das Riechen in keiner Weise beeinträchtigen“, so Gruber-Traub. „Für die Optimierung dieser Prozedur haben wir extra einen HNO-Arzt im Advisory Board, die Therapie soll möglichst angenehm sein. Dies ist so ein empfindlicher Bereich – jeder kennt sicher das äußerst unangenehme Gefühl in der Nase, wenn man ins Wasser springt. Wenn dort das Reizgefühl zu groß ist, wird keiner diese Therapie akzeptieren.“

Von Beginn an die Zulassung im Auge

Fester Plan des Konsortiums ist es, spätestens nach drei Jahren die Formulierung entwickelt zu haben. Dazu sind in dieser Zeit viele Fragen zu klären. Beispielsweise, wie groß die Partikel sein können und wieviel Wirkstoff in die Partikel zu integrieren ist. „Bislang werden solche Arzneimittel über das Rückenmark verabreicht, das ist gar kein Vergleich, was die Menge angeht“, sagt die Wissenschaftlerin. „Der Wirkstoff ist – von den Nebenwirkungen ganz abgesehen – teuer, und die Kosten sollen ja für das Gesundheitssystem erschwinglich sein.“ Die Wirkstoffverabreichung über das olfaktorische System sei einer der ersten Versuche, diese Technik anzuwenden, sagt Gruber-Traub: „Allzu viel wird auf diesem Gebiet noch nicht geforscht. Bisher wurden Tests nur mit Modellsubstanzen an Tieren gemacht. Aber im Tierversuch sind die Gegebenheiten ja völlig anders, das olfaktorische Epithel beispielsweise wesentlich größer.“ Tests an Tiergewebe sollen im Rahmen von N2B-patch aber auch durchgeführt werden. Hierfür entwickelt die Hochschule Biberach derzeit ein Testsystem, das auf Schweineepithel aus Schlachthofabfällen basiert.

Der Wirkstoff ist ein Antikörper, der von einer jungen Biotechnologiefirma mitentwickelt und zur Verfügung gestellt wird. Bevor aber der kostbare Wirkstoff in die Partikel kommt, soll die passende Formulierung mit Modellsubstanzen und Farbstoffen möglichst weit entwickelt werden. Parallel zu den Versuchen wollen die Wissenschaftler aber auch schon die Zulassung ins Auge fassen: „Natürlich wird am Ende des Projekts noch lange keine Zulassung stehen; wir werden aber in einer relevanten Umgebung zeigen, dass die Therapie so funktionieren könnte", so Gruber-Traub. "Uns ist es aber trotzdem wichtig, in Bezug auf eine spätere Zulassung schon von vornherein alles richtig zu machen. Deshalb wird der ganze Prozess auch von einem Spezialisten für Pharmaberatung und Zulassung – einer Firma aus Großbritannien – begleitet.“

Universelle Plattform für ZNS-Erkrankungen

Ursprünglich war von den Forschern für die Entwicklung der Plattform eigentlich ein anderer Wirkstoff angedacht – ein Arzneimittel zur Therapie der Alzheimer-Krankheit. Grundsätzlich soll es aber später einmal möglich sein, die Formulierung so anzupassen, dass mittels der Kombination aus Hydrogel und Partikeln auch andere Wirkstoffe ins Gehirn gelangen und dann für viele andere neurologische Erkrankungen angewandt werden könnten – eine universelle N2B-Plattform.

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