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Zukunftscluster

nanodiagBW: Mit Nanoporen zu ganz neuen Diagnostikmöglichkeiten

Unsere moderne Medizin hat eine vielfältige molekulare Diagnostik zur Hand. Im nächsten Jahrzehnt soll dies zunehmend durch Verfahren zur Prognostik ergänzt werden. Der BMBF-Zukunftsclusterfinalist nanodiagBW ist derzeit dabei, eine solche Erweiterung vorzubereiten und Verfahren zu entwickeln, um durch eine neue Art der Bioanalytik – der Einzelmolekülanalyse in Nanoporen – epigenetische Faktoren für Krankheiten zu identifizieren und damit personalisierte Präventionsansätze zu ermöglichen.

Nanoporen sind minimal kleinste Poren in Nanometergröße. Integriert in eine elektrisch isolierende Membran, die zwei mit leitender Lösung gefüllte Räume trennt, können sie zur Detektion einzelner Moleküle verwendet werden. Das Nachweisprinzip basiert dabei darauf, dass nach Anlegen einer Spannung an die Membran ein Ionenstrom durch die Nanopore fließt. Sobald ein Molekül die Pore passiert, nimmt dieser Strom ab. Der Strom kann detektiert werden und lässt Rückschlüsse auf die Art des durch die Nanopore bewegten Moleküls zu.

In Mikrometerabmessungen wird ein ähnliches Messprinzip schon seit den 1960er Jahren zur Zählung oder Größenbestimmung von Zellen verwendet; für einzelne Moleküle mithilfe bakterieller Porenproteine mit Abmessungen im Nanometerbereich seit Mitte der 1990er Jahre. Mit diesen Proteinporen gelang erst vor einigen wenigen Jahren ein Durchbruch im Bereich der Sequenziertechnik. Diese Sequenzierungsverfahren der 3. Generation (Third Generation Sequencing TGS) können die als Einzelmolekül-Analysen mit enormen Leselängen durchgeführt werden und eröffnen seither ganz neue Möglichkeiten, beispielsweise zur Sequenzierung ganzer Genome in kurzer Zeit.

Neues Nanoporen-Verfahren erkennt alle 20 proteinogenen Aminosäuren

Proteine werden bisher mit aufwendigen und teuren massenspektrometrischen Verfahren in Kombination mit chromatografischen Trennschritten sequenziert. Dabei können chemische Modifikationen – oft wesentlich für die Proteinfunktion – zwar detektiert, aber oft nicht sicher lokalisiert werden.

Dies soll sich in nicht allzu ferner Zukunft ändern: Der Freiburger Forscher Prof. Dr. Jan C. Behrends hat kürzlich gemeinsam mit Kollegen eine Möglichkeit entwickelt, um alle 20 proteinogenen Aminosäuren anhand des Ionenstroms einer biologischen Nanopore erkennen und charakterisieren zu können.1) Die Technik könnte zukünftig ganz neue Möglichkeiten eröffnen. „De novo sequenzieren können wir im Moment noch nicht, aber wir haben ein Proof of Principle für eine Methode zur Sequenzerkennung entwickelt“, berichtet Behrends. „Darüber hinaus können wir posttranslationale Modifikationen aufspüren und sogar genau lokalisieren, an welcher Aminosäure die Veränderung stattgefunden hat. Das kann die Massenspektrometrie nur mit sehr großem Aufwand und nicht mit großer Sicherheit leisten. Wir haben mithilfe der Poren auch Peptide mit exakt der gleichen Masse unterschieden und damit gleichsam einen Detektor für die Molekülform zur Hand.“

Farbige 3D-Darstellung der Technologieplattform mit Koordinatensystem der Signalmessung, einer biologischen Pore, durch die Moleküle diffundieren und einer erkrankten Person.
Die molekularbiologische Diagnostik mithilfe von Nanoporen soll künftig ganz neue Möglichkeiten in der Medizin eröffnen. Im Zukunftscluster "nanodiagBW" haben sich Forschende verschiedenster Disziplinen zusammengeschlossen, um die Technologie möglichst schnell zu Patientinnen und Patienten zu bringen. © Hahn-Schickard-Gesellschaft für angewandte Forschung e.V.

Die technischen Voraussetzungen für diese innovative Technologie zur Proteinanalyse hatte Behrends mit seiner Arbeitsgruppe am Institut für Physiologie der Universität Freiburg in Kooperation mit der Ausgründung IONERA Technologies GmbH entwickelt.2) Gemeinsam mit dem Institut für Mikrosystemtechnik – IMTEK der Universität Freiburg und der Hahn-Schickard-Gesellschaft für angewandte Forschung e.V. wurden darüber hinaus erste Schritte zu einer geeigneten Verstärkertechnologie entwickelt, die mit Nanopore und Membran technisch auf kleinstem Raum integriert werden kann.3)

Positionsgenaue Proteinanalyse spürt Einflussfaktoren für Krankheiten auf

Ein enormes Potenzial für die moderne Medizin, das möglichst schnell genutzt werden müsse, wie international führende Forscher aus Baden-Württemberg fanden und sich im Februar 2021 gemeinsam beim BMBF mit dem Zukunftsclusterantrag "nanodiagBW" bewarben, der die neue Methodik zur positionsgenauen Analyse von Proteinen in den nächsten Jahren zur Anwendung führen soll.

Dass dies rasch und effizient angegangen werden soll, wird auch von unabhängigen Experten so gesehen: Im Frühjahr dieses Jahres hat eine Jury des BMBF aus 117 eingereichten Beiträgen zum themenoffenen Wettbewerb der Zukunftscluster-Initiative „Clusters4Future“ insgesamt 15 Vorschläge zur Förderung einer Konzeptionsphase empfohlen – einer unter zwei Finalisten aus Baden-Württemberg ist nanodiagBW.

Baden-Württemberg bietet alles, was der Cluster baucht

„In Vorprojekten wurde schon unter Hochdruck gearbeitet, und bereits in diesen Tagen starten wir die Konzeptionsphase“, berichtet Prof. Dr. Felix von Stetten, Hahn-Schickard-Institutsleiter in Freiburg und Sprecher von nanodiagBW. „Unsere Netzwerkaktivitäten führen rund 40 Akteure, überwiegend mit Kern in Baden-Württemberg zusammen.“

Zu Forschung und Entwicklung sollen auch noch zahlreiche andere Aktivitäten hinzukommen, zum Beispiel Graduiertenprogramme, Clustering mit weiteren Verbänden, Fachgruppenveranstaltungen für Mediziner/-innen, Patient/-innen und interessierte Bürger/-innen oder Gründerakademien. „Das Schöne an Baden-Württemberg ist, dass wir hier alle technologischen Komponenten haben, die wir im innovativen Ökosystem des Clusters zusammenführen wollen, um sie zu einer verbesserten Prognostik für Patienten nutzbar zu machen“, so von Stetten.

Prognostik ist die medizinische Zukunft

Und auch die Relevanz für die Medizin der Zukunft sei groß, wie Behrends betont, der stellvertretender "nanodiagBW"-Sprecher ist: „Epigenetische Marker nachweisen zu können, das ist ein extrem heißes Forschungsfeld. Sie sind nachweislich assoziiert mit vielen Zivilisationserkrankungen. Beispielsweise wissen wir, dass bestimmte Acetylierungen von Histonen eine Rolle beim Zellwachstum spielen, also auch bei der Entstehung von Krebs oder bei Entwicklungsstörungen. Ein lohnendes Ziel sind auch bakterielle und virale Genome. Wenn wir in der Lage sind, solche Marker zuverlässig nachzuweisen, können Mediziner in einer ganz neuen Dimension arbeiten; Stichwort: Prognostik statt Diagnostik.“

Ein weiterer Aspekt, auf den der Zukunftscluster abzielt, sind die Produkte, die aus der Technologieplattform entstehen können: „Der Cluster soll ein Nährboden für zahlreiche Ausgründungen sein“, sagt von Stetten. „Denkbar sind beispielsweise verschiedene Assays, die als Diagnostikprodukte vermarktet werden könnten, aber auch die Plattform selbst, sobald sie entsprechend weiterentwickelt wurde. Unsere Vision ist, auf lange Sicht „Vor-Ort-Tests“ zur Verfügung stellen zu können, der erste Meilenstein wird aber zunächst einmal ein kostengünstiges Benchtop-System sein.“

Medizinischer Meilenstein, der nur synergistisch zu erreichen ist

Im Moment werden die Nanoporen-Sensoren in den Instituten der Innovationsallianz Baden-Württemberg und der Universität Freiburg hergestellt, aber am Ende soll eine ganze Produktionslinie aufgebaut werden. Derzeit sei die Technologie an der Schwelle zur Umsetzung wie von Stetten sagt: „Aber ein Produkt daraus zu entwickeln, das ist so nicht möglich. Dazu brauchen wir die Synergien im Cluster und die Möglichkeit, über die nächsten zehn Jahre mit einem konstanten Team zu arbeiten.“ Konkrete Anwendungen habe man schon im Blick. Hauptschwerpunkt sollen zunächst epigenetische Marker für die Onkologie sein, aber auch eine beschleunigte Impfstoff-Entwicklung habe man im Fokus.

Infobox: Zukunftscluster nanodiagBW

Im Zukunftscluster nanodiagBW arbeiten Akteure aus Grundlagenwissenschaft, angewandter Forschung und Industrie unter der Führung der Hahn-Schickard Gesellschaft für angewandte Forschung zusammen, um auf Grundlage neuester Fortschritte in der Einzelmolekülanalytik mit Nanoporen molekulardiagnostische Systeme zu entwickeln und zur Anwendung zu bringen. Diese neue Art der Biosensorik soll es erstmals ermöglichen, epigenetische Veränderungen von Proteinen mit einem kleinen Diagnostikgerät positionsgenau zu bestimmen, die mit vielen Krankheiten ursächlich assoziiert sind, beispielsweise Krebs, Diabetes, neurodegenerative Erkrankungen oder Bluthochdruck. Durch die effiziente Bestimmung dieser posttranslationalen Modifikationen soll künftig die Prognostik von Patientinnen und Patienten mit solchen Erkrankungen verbessert werden.

Das Potenzial der Technologie für die medizinische Diagnostik ist bereits international anerkannt, aber bisher nicht realisiert. nanodiagBW zielt deshalb auf die technische Souveränität in diesem Feld, in dem Arbeitsgruppen aus Baden-Württemberg schon erfolgreich, international sichtbar und exzellent – bisher aber zu wenig synergistisch – tätig sind. Beispiele für Anwendungsszenarien sind in der Epigenetik, Krebsforschung, Virologie oder der Mikrobiologie zu finden.

Die Strategie des Zukunftsclusters stützt sich auf die bereits erprobte Zusammenarbeit anwendungsnah forschender Institute der Innovationsallianz Baden-Württemberg mit akademischen Akteuren in der Nanoporen-Analytik, für die von der Landesregierung bereits 2020 eine Anschubfinanzierung von rund 5 Mio. Euro über 2 Jahre gewährt wurde. Ziel des Clusters soll nun die Ausweitung, Intensivierung und Verstetigung dieser Aktivitäten sein, indem sich viele weitere Akteure aus Klinik und Industrie engagieren, um die konkrete Umsetzung in Verfahren und Produkte konsequent voranzutreiben. Beantragt werden hierzu 45 Mio. Euro Förderung vom BMBF über einen Zeitraum von 9 Jahren.

Literatur:

1) Hadjer Ouldali et al. (2020): Electrical recognition of the twenty proteinogenic amino acids using an aerolysin nanopore. Nature Biotechnology, 38 (176) 176–181. https://doi.org/10.1038/s41581-019-0345-2

2) Del Rio Martinez, J.M. et al. (2015): Automated Formation of Lipid Membrane Microarrays for Ionic Single-Molecule Sensing with Protein Nanopores. Small 11, 119-125. https://doi.org/10.1002/smll.201402016

3) Mohammad Amayreh et al. (2019): A Fully Integrated Current-Mode Continuous-Time Delta-Sigma Modulator for Biological Nanopore Read Out. IEEE Transactions on Biomedical Circuits and Systems, 13 (1). https://doi.org/10.1109/TBCAS.2018.2889536

Seiten-Adresse: https://www.gesundheitsindustrie-bw.de/fachbeitrag/aktuell/nanodiagbw-mit-nanoporen-zu-ganz-neuen-diagnostikmoeglichkeiten