zum Inhalt springen

Natürlicher Halt – Wissenschaftler erforschen Haftsekrete aus dem Tierreich

Meerestiere und Insekten verfügen über erstaunliche Haltekräfte. Ein interdisziplinäres Team an der Universität Tübingen erforscht die molekulare Zusammensetzung der Haftsekrete von Insekten, Seepocken und Co. Die Prinzipien sollen entschlüsselt und für technische Anwendungen nutzbar gemacht werden.

Eines der Vorbilder aus der Natur ist das Haftsystem von Sagra femorata, einem südostasiatischen Froschkäfer. Als Nahrung bevorzugt er frisches Obst wie Äpfel, Bananen oder Birnen. © O. Betz, Universität Tübingen

Eines scheint jetzt schon klar: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Die Komponenten tierischer Haftsekrete sind sehr heterogen und wirken für ihren jeweiligen Zweck – permanente Festhaftung oder reversible Adhäsion – perfekt zusammen. Die Wissenschaftler erhoffen sich vom Verständnis der Systeme bionische Lerneffekte. Gemeinsam mit dem Fraunhofer-Institut für Fertigungstechnik und Angewandte Materialforschung IFAM und baden-württembergischen Unternehmen sollen die Ergebnisse zur Entwicklung neuartiger Haftsysteme eingesetzt werden.

„Es kommt uns dabei weniger darauf an, das Erforschte nachzubauen, also genau die gleichen Komponenten zu verwenden. Wir wollen vielmehr die Prinzipien so verstehen, dass möglichst preisgünstig zu erhaltende Stoffe, seien sie synthetisch oder aus der Natur – eingesetzt werden können“, erklärt Prof. Dr. Oliver Betz, Zoologe an der Universität Tübingen und Koordinator des Projektes, das vom Wissenschaftsministerium Baden-Württemberg über drei Jahre hinweg gefördert wird.

Zurzeit ist Halbzeit, wobei in den letzten anderthalb Jahren bereits wesentliche Hürden genommen wurden. Zunächst mussten geeignete Tiere gefunden und ihre Haftsekret-Quellen anzapfbar gemacht werden. Dabei arbeitete Betz eng mit dem Geologen Prof. Dr. James Nebelsick und dem Chemiker Prof. Dr. Klaus Albert zusammen, der sich auch um die chemische Probenanalyse kümmert. Als Lieferanten kamen eine ganze Reihe Spezies infrage, unter denen eine Auswahl getroffen werden musste. „Bei Insekten wollten wir grundsätzlich zwei Typen von Haftsystemen untersuchen, glatte und behaarte. Unsere Auswahlkriterien waren das Kletterverhalten, die Größe der Tiere, um möglichst viel Haftsekret gewinnen zu können, und dass die Tiere leicht im Labor zu halten sind“, so Betz. Für das glatte Haftsystem wurde schließlich die Wüstenheuschrecke Schistocerca gregaria verwendet – auch, weil sie physiologisch bereits gut charakterisiert ist.

Probenentnahme war erste große Hürde

Als Modell für den behaarten Typ fiel die Wahl auf Leuchtkäferlarven, die bei einer Exkursion an den Federsee zufällig entdeckt wurden. Sie haften mit ihren Pygopodien selbst an extrem glatten Oberflächen, sind für das Projekt also besonders gut geeignet. Außerdem dient der Froschkäfer Sagra femorata als Vorbild. „Wir haben zwar den Ehrgeiz, die Käfer selbst in Zucht zu nehmen, das ist jedoch schwierig. Zurzeit bekommen wir noch Puppen aus einem Zuchtgebiet in der Heimat der Käfer in Südostasien geliefert“, ergänzt Betz. Neben diesen terrestrischen Arten wurden mit Seepocken und Borstenwürmern auch aquatische Spezies mit einbezogen. „Sie bilden unter Wasser im Meer dauerhafte Haftsysteme auf Proteinbasis“, sagt Albert zu den ersten Analyseergebnissen.

Auch der marine Röhrenwurm Pomatoceros lamarckii verfügt über ein interessantes Haftsystem und ist Objekt der Tübinger Bionik-Forschung. © J. Nebelsick, Universität Tübingen

Zu Beginn seiner Arbeiten hatte das Team große Probleme mit Artefakten – durch die Bank in allen Proben. Es ließen sich nur geringste Mengen an Haftsekreten gewinnen, die noch dazu aus einer Vielzahl verschiedener Verbindungen bestehen. Die mit analysierten Fremdstoffe waren mengenmäßig zu dominant und verfälschten die Analyseergebnisse.

Eine einfache Idee brachte die Arbeit bei den Heuschrecken voran: „Wir fixieren die Tiere und ihre Beine jetzt mit Klebeband. Das überstehen sie unbeschadet und wir können mit einer Hamilton-Spritze wässrige und fettlösende Lösungsmittel applizieren, um das Haftsekret in Lösung zu bringen.

Außerdem können wir so zeiteffektiv 10 bis 20 Tiere gleichzeitig behandeln“, sagt Betz. Das Detail der Hamilton-Spritze ist wichtig, wie Albert erklärt: „Wir haben zunächst mit gewöhnlichen Plastikspritzen gearbeitet. Aus dem Plastik sind jedoch Weichmacher in die Probe gelangt und haben zu den verfälschten Ergebnissen beigetragen. Seit wir Hamiltonspritzen und doppelt destilliertes Wasserverwenden, haben wir deutlich weniger Artefakte.“

Die Forscher nutzen füre ihre Arbeit das gesamte Analysespektrum

Mit einer Hamilton-Spritze wird das tarsale Haftsekret abgenommen. Tarsus (ta), Hamilton-Spritze (ha), Fixierungsdraht (d). © O. Betz, Universität Tübingen

Einen wichtigen Schritt voran brachte die Forscher die Entwicklung einer speziell beschichteten Nadel, mit der sich das Sekret wie mit einem Schwamm aufsaugen lässt und die direkt in Chromatographie-Apparaturen zur Analyse gegeben werden kann. Außerdem entwickelte Albert mit seinem Team spezielle Mikrospulen für die NMR-Spektroskopie. „Mit dieser Eigenentwicklung sind wir jetzt in der Lage, sehr kleine Volumina von 1,5 Mikrolitern zu verarbeiten“, sagt Albert.

Über die Kopplung von Gas- und Massenspektrometrie in Kombination mit der NMR-Spektroskopie können die Chemiker jetzt umfassende Analysen liefern. „Die Massenspektrometrie liefert uns nicht die Information über den räumlichen Aufbau der Moleküle, dafür brauchen wir die NMR-Spektrometrie. Daneben nutzen wir auch Elektrophoresen sowie die Elektronenmikroskopie, und über die Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer IFAM in Bremen erhalten wir auch Daten aus der Infrarot-Spektroskopie“, so Albert.

Die hervorragende instrumentelle Ausstattung habe einen großen Anteil am bisher Erreichten – neben der besonders guten, freundschaftlichen Zusammenarbeit unter den Projektpartnern, bekräftigt Albert. Die Nähe der Partner in Tübingen ist für einen weiteren Vorteil verantwortlich: Zwischen der Probennahme in der Zoologie und der Analyse im Institut für Organische Chemie gibt es nur kurze Wege. „Eine schnelle Analytik ist gerade bei sehr kleinen Probenmengen sehr wichtig. Es war von Anfang an unser Ziel, möglichst wenige Aufarbeitungsschritte durchführen zu müssen und möglichst zeitnah nach der Probenentnahme die Analysen zu starten. Damit vermeiden wir aufwändige Probenverschickungen, bei denen wir die Proben mit Schutzgas umgeben müssten“, so Albert.

Industrielle Anwendungen rücken bereits in denkbare Nähe

Die Projektpartner sind zuversichtlich, bis spätestens Ende des Jahres die Zusammensetzung der Haftsekrete in weiten Teilen geklärt zu haben. Diverse Peptide scheinen eine wichtige Rolle zu spielen, auch Zucker und Lipidkomponenten konnten bereits identifiziert werden. Offen ist noch die Frage, ob und bei welchen Systemen es sich um Wasser-in-Öl- oder Öl-in-Wasser-Emulsionen handelt. „Spannend wird dann die Interpretation der physikalischen und chemischen Ergebnisse“, ergänzt Albert.

Der erste Schritt in Richtung industrielle Verwendung ist zumindest schon angedacht. Das IFAM ist ein potenzieller Auftragnehmer für Machbarkeitsanalysen, und die Tübinger EMC microcollections GMBH ist ein möglicher Partner für eine kommerzielle Verwertung. „Es gibt bereits informelle Kontakte mit dem Unternehmen, und wir können uns gut vorstellen, dass wir gemeinsam mit EMC microcollections in die Produktentwicklung gehen. EMC könnte zum Beispiel Proteinkomponenten zukünftiger Haftsysteme herstellen und eventuell die Produkte vermarkten“, sagt Betz zu den Zukunftsaussichten.

Seiten-Adresse: https://www.gesundheitsindustrie-bw.de/fachbeitrag/aktuell/natuerlicher-halt-wissenschaftler-erforschen-haftsekrete-aus-dem-tierreich