Netzwerker treibt Kampf gegen Huntington voran
Vor 15 Jahren entdeckten Forscher in Boston das Huntington-Gen auf dem kurzen Arm des Chromosoms 4. Vor Ort dabei war auch der junge deutsche Neurologe Bernhard Landwehrmeyer, der drei Monate zuvor zum Laborteam gestoßen war. Seither hat den 47-Jährigen die Huntington-Krankheit nicht mehr losgelassen.
Als Vorsitzender des European Huntington’s Disease Network sucht der Ulmer Neurologe mit Kollegen aus aller Welt Therapien für diese unheilbare Erkrankung zu entwickeln. Die intensive Forschung und Zusammenarbeit in dem eng geknüpften internationalen Netzwerk von Wissenschaft, Wirtschaft, Medizin und Betroffenen trägt erste Früchte: In den nächsten fünf Jahren sollen erste Medikamente klinisch erprobt werden. Mehr noch: die Pharmaka könnten, so die Hoffnung, auch bei weitaus häufigeren neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer und Parkinson eingesetzt werden.
Ein größeres Bild vom menschlichen Gehirn
Huntington-Forscher Prof. Dr. G. Bernhard Landwehrmeyer (Foto: Uni Ulm)
Die Teilhabe an einer Sternstunde der Wissenschaft in dem Bostoner Labor muss beim jungen Hirnforscher Landwehrmeyer wie eine Berufung gewirkt haben. Denn den Neurologen, der bei Richard Jung in Freiburg promoviert hatte, interessierten die höheren Hirnfunktionen, das rein Beschreibende seiner ersten akademischen Jahre genügte ihm nicht. „Ich wollte ein größeres Bild vom menschlichen Gehirn“, sagt der gebürtige Badener, seit 2000 C3-Professor für Neurologie an der Ulmer Uni.
Im Bostoner Labor fahndete der Deutsche nach der Entdeckung gleich nach der Boten-RNA des Gens in Körperzellen und Gehirn. Spannend waren diese Wochen für die Forscher, erinnert sich Landwehrmeyer. Erstmals hatte man es mit einem Gendefekt zu tun, bei dem zu viele Basenpaare (CAG im ersten von insgesamt 64 Exons) zur Erkrankung führten. Wer den Hirnforscher 15 Jahre später sprechen hört, versteht schnell, dass diese neurodegenerative Erkrankung seinem ganzheitlichen Anspruch entgegenkam.
Ganze Persönlichkeit gefordert
Der Kampf gegen das relativ seltene Erbleiden (10.000 Erkrankte und 50.000 Risikoträger in Deutschland) fordert die ganze Persönlichkeit- den Forscher, Arzt, Wissenschaftsmanager und den Menschen. Statistiker mögen das Erbleiden als selten einstufen, eine Hochrechnung indes kommt schnell auf sechsstellige Zahlen: 45.000 Huntington-Kranke europaweit, drei Mal so viele sind Risikoträger, hinzurechnen müsse man noch deren Familien.
„Das ist menschlich sehr bewegend“
Die Huntington-Erkrankung (HD für Huntington Disease) betrifft die ganze Familie („Das ist auch menschlich sehr bewegend“), weil jedes Kind eines Erkrankten ein fünfzigprozentiges Risiko trägt, was ein Gentest bestätigt oder ausschließt. Überhaupt sprengt HD die Grenzen der Fachdisziplin, bringt Humangenetiker, Neurologen, Psychologen und Psychiatern zusammen, denn die Erkrankung führt zu schweren körperlichen Behinderungen und seelischen Störungen, zu geistigem Verfall und schließlich zum Tod.
In die symptomfreie Zone
Nervenzelle mit Einschluss. (Foto: Euro-Huntintington- Netzwerk)
Nächstes Ziel des Huntington-Forschers ist es, die Krankheit in einer frühen Phase zu behandeln, in der sie noch keine Symptome ausbildet, weil die Kompensationsfähigkeit des Gehirns noch nicht erschöpft ist. Damit soll das „lebbare Leben verlängert“ werden.
Eine über die europäische Plattform zusammen mit Zentren aus USA und Kanada durchgeführte Studie versucht neurobiologische Prädiktoren zu identifizieren. Denn um Medikamente, die den Ausbruch der HD verzögern könnten, auf ihre Wirksamkeit zu testen, muss man wissen, wie und mit welchen Messinstrumenten sich der Beginn von HD am besten erfassen lässt. Diese Art Prävention ist für den Ulmer Neurologen auch für andere neurodegenerativen Erkrankungen bedeutsam, weil man hier eingreifen könnte, bevor der Schaden angerichtet ist.
Medikamentenentwicklung macht Fortschritte
Lange Zeit wurde die Krankheit auf die unwillkürlichen, tanzähnlichen Bewegungen, hier unser Bild St. Veit, reduziert. Mittlerweile spricht die Forschung nicht mehr von der Chorea Huntington. (Foto: Euro-Huntington- Netzwerk)
Die Chancen für eine Behandlung symptomfreier Huntington-Kranker stehen gut. Seit der Entdeckung des Gendefekts haben die Forscher einige Ansatzpunkte für die Therapie gefunden. Auf präklinischer Ebene gebe es sehr gute Modelle und Reagenzien, die Fähigkeit zur Durchführung klinischer Studien hat sich nach Landwehrmeyers Einschätzung deutlich verbessert. Auch die gezielte Entwicklung von Pharmaka mache Fortschritte. Jetzt werde das Instrumentarium der HD-Forscher verbessert und verfeinert. Bislang beschränkte sich dessen Einsatz auf bereits symptomatisch Erkrankte.
Mit Biomarkern, ausgefeilten kognitiven Funktionstests, quantitativen motorischen Tests und bildgebenden Verfahren will Landwehrmeyer über das europäische Netzwerk verlässliche und hochqualitative klinische Studien parallel in enger Verbindung mit der Grundlagenforschung durchführen. Oberste Priorität haben dabei robuste, reproduzierbare Ergebnisse.
Aktuell werden zum Teil gänzlich neue Medikamente entwickelt und innerhalb der nächsten fünf Jahre klinisch erprobt, „mit einiger Wahrscheinlichkeit“ nicht nur für die Therapie von Huntington-Erkrankten, sondern auch von Parkinson- und Alzheimer-Kranken. Deren Krankheitsursache liege ebenfalls in abgelagerten und fehl gefalteten Proteinen. Drei von fünf der HD-Targets lassen sich laut Landwehrmeyer auch für diese Erkrankungen anwenden. Viel verspricht sich Landwehrmeyer auch von einer virtuellen Pharmafirma, die eine amerikanische Stiftung finanziert. Dort treiben Wissenschaftler aus Akademia und Pharma unter Ausnutzung lokaler Exzellenz die Auslese klinischer Testkandidaten voran.
USA fördern europäisches Huntington-Netzwerk
Der Ulmer Neurologe versucht jetzt den Prozess der systematischen Evaluierung der pharmakologischen Angriffspunkte zu befördern und zu beschleunigen. Das geschieht in enger Zusammenarbeit mit einer privaten gemeinnützigen US-amerikanischen Stiftung, die das europäische Huntington-Netzwerk seit 2004 zehn Jahre lang finanziert, rein ergebnisorientiert, wie Landwehrmeyer lobend anfügt.
Mittlerweile umfasst dieses Netzwerk 16 Länder mit rund 130 Zentren und erarbeitet in enger Abstimmung mit HD-Forschern aus USA und Kanada Standards für klinische Beurteilungen, für die Ausbildung, sorgt für regen Informationsaustausch. Sprachkoordinatoren sorgen sogar für adäquate muttersprachliche Umsetzung. Mittelfristiges Ziel ist es, in jedem Land Exzellenzzentren zu etablieren, wenn jetzt in der Entwicklung befindliche Medikamente in die Regelversorgung aufgenommen worden sind.
Wann ziehen Europa und Deutschland nach?
Bis dahin, so Landwehrmeyers Hoffnung, ist dann auch Europa stärker in die Forschungsförderung eingestiegen. Die US-Stiftung zumindest sah die Notwendigkeit eines europäischen Netzwerks. Vielleicht, so hofft der Ulmer, findet HD auch den ihr gebührenden Platz im neuen Deutschen Demenzzentrum in Bonn.
Nutzen für allgemeine Hirnforschung
Von der Huntington-Forschung profitiert auch die Hirnforschung allgemein. So zum Beispiel durch Erkenntnisse zur Rolle der Basalganglien (im Frontalhirn) für kognitive Prozesse. HD und andere altersabhängige Erkrankungen haben gemeinsame „Endstrecken“, das heißt: für HD entwickelte Medikamente können auch für diese Erkrankungen eingesetzt werden. Schließlich hat HD nach Landwehrmeyers Worten als Paradebeispiel für die ethischen Implikationen von Gentests die Grundsatzdebatte entscheidend vorangetrieben.
Zwei Ziele verfolgt der Neurologe unterdessen weiter: den Beginn der Erkrankung in ein höheres Lebensalter hinauszuzögern und über das europäische Netzwerk die kollegiale Zusammenarbeit von Grundlagenforschung, Industrie und Klinik intensiv fortzuführen, um deren Ergebnisse auf andere Gebiete der Neurologie zu übertragen.
In der intensiven Beschäftigung mit der Huntington-Krankheit hat der Arzt und Forscher Landwehrmeyer eine „glückliche und befriedigende Kombination“ gefunden. Viel Motivation erwächst dem Forscher für die Arbeit im Labor aus seiner Beschäftigung mit Patienten „Das gibt dem klinischen Forscher etwas zurück“.
wp- 15.05.2008
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