Experteninterview
Pflanzliche Arzneimittel – viel ungenutztes Potenzial
In Baden-Württemberg gibt es zahlreiche Hersteller von pflanzlichen Arzneimitteln. Dies sind Pflanzen-Präparate, bei denen nicht die Reinsubstanz verwendet wird, sondern immer nur der Extrakt. Wie diese Spezialextrakte auf den Markt kommen und wie sie sich von Arzneimitteln aus Reinsubstanzen unterscheiden, erklärt Professor Dr. Michael Wink, Direktor am Institut für Pharmazie und Molekulare Biotechnologie der Universität Heidelberg in einem Interview mit Dr. Ariane Pott für die BIOPRO Baden-Württemberg.
Wie gelangen neue pflanzliche Arzneimittel auf den Markt?
Prof. Dr. Michael Wink, Direktor am Institut für Pharmazie und Molekulare Biotechnologie der Universität Heidelberg
© Wink
Es macht für die Industrie nur Sinn, ein Medikament zu entwickeln, wenn man es durch ein Patent schützen kann — entweder die Anwendung, die Substanz oder den Prozess der Herstellung. Aus Kostengründen ist es für die Pharmaindustrie nur interessant, einen gänzlich neuen Wirkstoff zu entwickeln. Denn nur für diesen kann man den guten Patentschutz bekommen.
Die Pharmaindustrie hält Arzneipflanzen meist für weniger relevant, da sie keinen einzelnen definierbaren und neuen Wirkstoff enthalten. Die Hersteller von Phytopharmaka kennen das Patentproblem natürlich auch. Sie lösen das Dilemma durch Spezialextrakte, bei denen sie den Herstellungsprozess schützen können. Man „erfindet“ also ein Spezialverfahren, in dem man Substanzen anreichert, aber auch abreichert, sodass der Extrakt etwas Besonderes ist. Und diese Erfindung wiederum kann man patentieren. Mit diesen Spezialextrakten gehen die Phytopharma-Hersteller in die klinischen Tests, und alles läuft bis zur Zulassung normal weiter. Und so bekommen die Hersteller auch einen Produktschutz. Jedoch können die speziellen Herstellungsverfahren von anderen Produzenten relativ leicht unterlaufen werden.
Wie unterscheiden sich die gesetzlichen Anforderungen für pflanzliche Arzneimittel, also für die Extrakte, von den Anforderungen für synthetische Arzneimittel?
Der Gesetzgeber kommt den Herstellern von Phytopharmaka sehr entgegen. Wenn für eine Arzneipflanze eine Monografie zum Beispiel durch die WHO vorliegt, die belegt, dass es sich um eine bekannte Arzneipflanze handelt, und Monografien von Experten die Wirksamkeit bestätigen, so reichen ein bis zwei kleine klinische Studien aus, damit ein Pharmahersteller das Arzneimittel als „well established use“ zulassen kann. Das Unternehmen muss die Qualität gewährleisten. Aber es muss keine umfangreichen klinischen Studien durchführen, die für synthetische Wirkstoffe vorgeschrieben sind.
In den umfangreichen Monografie-Sammlungen der WHO, ESCOP* und HMPC** sind deutlich mehr Arzneipflanzen aufgeführt, als bisher Präparate mit „well established use“ auf dem Markt sind. Denn der Gesetzgeber hat eine zweite Ebene freigeschaltet. Das sind die THMP, die „traditional herbal medicine products“, die sogenannten traditionellen pflanzlichen Arzneistoffe. Wenn man diese zulassen will, so müssen sie dreißig Jahre in der Medizin weltweit eingesetzt worden sein, davon 15 Jahre in Europa. Es müssen auch Erfahrungen vorliegen, dass der Arzneistoff wirkt und keine Nebenwirkungen hat. Die meisten Hersteller von Phytopharmaka setzen heute auf THMPs. Allerdings haben sie hier keinen Schutz. Der Erste, der eine Entwicklung auf den Markt bringt, hat also die gesamte Arbeit mit der Zulassung und die anderen können das Präparat nachbauen.
Wie sehen Sie die Zukunft der pflanzlichen Arzneimittelforschung?
Die pflanzlichen Arzneimittel werden vermutlich immer ein Nischenmarkt bleiben, denn der Fortschritt auf dem Sektor wird gehemmt durch das Patentwesen. Obwohl wir im Pflanzenbereich eine ganze Menge sehr interessanter Wirkstoffe haben, zum Beispiel gegen multiresistente Bakterien oder Infektionskrankheiten, werden die meisten Wirkstoffe aber nicht zur Zulassung kommen, weil die Industrie sich aus ökonomischen Überlegungen heraus nicht engagiert. Hier gehen ganz viele Innovationen verloren. Wir in den Forschungsinstituten publizieren wie die Weltmeister, aber unsere Ergebnisse werden nicht in neue Arzneimittel umgesetzt.
Auf der anderen Seite haben wir natürlich den Kunden, der pflanzliche Arzneimittel nutzen möchte. Hersteller von traditionellen Arzneimitteln haben also einen ganz guten Markt. Innovationen sind jedoch selten. Man greift auf das zurück, was man kennt, aus der chinesischen beziehungsweise aus der europäischen traditionellen Medizin. Damit haben wir auch schon ein paar tausend Pflanzen, das reicht eigentlich schon aus. Betrachtet man die Biodiversität der Pflanzen mit über 350.000 Arten, kann man noch viel ungenutztes Potenzial erkennen.
Wo liegen diese Potenziale?
Aus den Blättern von Ginkgo biloba wird der Spezialextrakt WS EGb 761® (Tebonin® der Dr. Willmar Schwabe GmbH & Co. KG) hergestellt.
© Wink
Es gibt ein paar medizinische Probleme, wie zum Beispiel die multiresistenten Bakterien, die seit Jahren auf dem Vormarsch sind. Es sterben jetzt schon in Europa mehr als 25.000 Menschen im Jahr an einer Sepsis, und es werden mehr werden. Die Gründe für die Antibiotikaresistenzen sind unterschiedlich. Dazu gehören der Missbrauch von Antibiotika (z.B. bei der Tierzucht), nicht ausreichende Länge der Einnahme und vieles andere mehr. Die Pharmaforschung steht also vor dem Problem, Wirkstoffe zu finden, die auch gegen multiresistente Bakterien noch wirken. An dieser Fragestellung arbeiten wir in Heidelberg: Gibt es relevante antimikrobielle Wirkstoffe bei Pflanzen? Und die Antwort ist: Ja, es gibt eine ganze Menge, die auch durchaus ähnliche Wirkungen haben wie etablierte Antibiotika aus Mikroorganismen. Wenn man die isolierten pflanzlichen Wirkstoffe [Sekundärstoffe, antimikrobielle Peptide (AMPs)] mit anderen Naturstoffen oder mit Antibiotika kombiniert, bekommt man fast alle multiresistenten Bakterien in den Griff.
Wir suchen dabei Kombinationen der Wirkstoffe, die synergistisch wirken. Wenn ich einen antimikrobiellen Wirkstoff mit einem anderen kombiniere, der ein unterschiedliches Target angreift, dann kann eine immense Wirkungssteigerung erreicht werden.
Aber Sie finden so leicht keinen Pharmahersteller, der ein Interesse hat, solche Kombinationen mit pflanzlichen Wirkstoffen oder Extrakten weiterzuentwickeln und zuzulassen, weil dies zurzeit ökonomisch weniger interessant erscheint. Denn die Wirkstoffe sind häufig bekannte Wirkstoffe, die sich nur schwerlich patentieren lassen, wenn auch eine neue spannende Indikation vorliegt. Bei der Dringlichkeit des Problems gehe ich allerdings davon aus, dass Regierungen irgendwann die Einsicht haben, solche ökonomisch weniger interessanten Wirkstoffe oder Wirkstoffkombinationen durch öffentliche Forschungsinstitute entwickeln zu lassen, da wir sie medizinisch dringend benötigen.
Pflanzliche Arzneimittel haben in Deutschland eine lange Tradition. Dass Pflanzen zahlreiche Wirkstoffe gegen Mikroorganismen produzieren, die sich auch der Mensch zunutze machen kann, erklärt Professor Dr. Michael Wink, Direktor am Institut für Pharmazie und Molekulare Biotechnologie der Universität Heidelberg in einem Interview mit Dr. Ariane Pott für die BIOPRO Baden-Württemberg.