Pilze - das Fleisch des Waldes
„Pilze sind eine Erfindung des Teufels, von diesem beauftragt, den Rest der von Gott geschaffenen Natur in Unruhe zu versetzen.“
S. Veillard, französischer Botaniker, 18. Jahrhundert
„Pilze – das Fleisch des Waldes“ ist ein noch heute bei Pilzsammlern beliebter und in zahllosen Kochbüchern zitierter Slogan über den Nährwert und die Schmackhaftigkeit von Pilzen. Besonders populär war der Spruch in Zeiten des Mangels, etwa während und auch noch unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, als das Volk sogar über den Rundfunk aufgefordert wurde, die knappen Eiweißrationen durch Sammeln im Walde zu ergänzen. Bekräftigt wurde die Aufforderung durch wissenschaftliche Untersuchungen, die angeblich den hohen Proteingehalt von Pilzen belegten. Dabei stützte man sich auf Elementaranalysen: Messungen des Stickstoffanteils im wasserunlöslichen Rückstand, aus dem nach einer einfachen Formel – ein damals übliches Verfahren – der Proteingehalt hochgerechnet wurde. Die Methode liefert in der Regel bei tierischem und pflanzlichem Material brauchbare Resultate. Nicht aber bei Pilzen.
Der große Botaniker Friedrich Oehlkers – seit 1932 Ordinarius in Freiburg – wies früh und immer wieder darauf hin, dass es das Chitin der Pilzzellwände und nicht das Eiweiß ist, das für die hohen Stickstoffwerte verantwortlich ist. Im Gegensatz zu den Bausteinen pflanzlicher Zellwände (Zellulose, Hemizellulosen, Pektine), die keinen Stickstoff enthalten, ist Chitin das Polymer eines Aminozuckers, nämlich Acetylglucosamin (C8H14O6N). „Das Fleisch des Waldes sind die Wildsäue – nicht die Pilze“, rief Oehlkers, womit er, der wegen seiner jüdischen Frau und seiner Kritik von den Nationalsozialisten verfolgt wurde, auch von Kollegen angefeindet wurde.
Fleisch des Waldes - Macrolepiota procera (Parasol)?
© EJ
Oder Fleisch des Waldes - Sus scrofa (Wildschwein)?
© Ira Richling, Kinder-Tierlexikon
Sexuallockstoffe und tödliche Toxine
Oehlkers trug als Rektor und Dekan zur geistigen Erneuerung der Universität Freiburg nach dem Kriege bei. 1958 wurde er emeritiert, behielt aber bis 1967 seine pflanzengenetische Abteilung und Lehrtätigkeit bei. Ich hatte das Privileg, diesen großartigen Hochschullehrer und Verfasser des Lehrbuchs „Das Leben der Gewächse“ (das auch heute noch mit Gewinn zu lesen ist) noch persönlich kennen zu lernen.
Das Pheromon alpha-Androstenol
Er erzählte, dass die begehrten Trüffelpilze offenkundig einen Lockstoff der Schweine verströmen, weshalb die Bauern des Périgord bekanntermaßen Säue zur Trüffelsuche einsetzen. Oehlkers vermutete, dass dieser Stoff ein Pheromon sei, ähnlich denen, für die Butenandt den Nobelpreis bekommen hatte, also ein Steroidhormon. In der Tat wissen wir heute, dass es sich um alpha-Androstenol handelt, das außer in der Trüffel auch im Atem geschlechtsreifer Eber vorhanden ist. Man hat inzwischen Spuren von alpha-Androstenol auch im Achselschweiß von Männern und im Urin von Frauen nachgewiesen. Daraus kann man interessante Schlussfolgerungen ziehen - auch wenn wir den Stoff nicht bewusst riechen können.
Knollenblätterpilz
© Daunderer, Klinische Toxikologie 1995
Von der Perspektive der Evolutionsbiologie her betrachtet macht es Sinn, dass die unterirdisch wachsende Trüffel liebeshungrige Säue anlockt, um ihre Sporen zu verbreiten. Aber bei vielen anderen Wirkstoffen von Pilzen sind wir noch ratlos. Was hat der Grüne Knollenblätterpilz (Amanita phalloides) von seinem Amanitin, das in einer Dosierung von 0,1 mg/kg beim erwachsenen Menschen tödlich ist, wenn es erst nach etlichen Tagen wirksam wird? Dieser Zeitraum ist viel zu lang, als dass sich Warn- oder Schutzmechanismen gegen den Verzehr von Knollenblätterpilzen entwickeln könnten, zumal ihr Geschmack als angenehm beschrieben wird. Die Amatoxine (alpha- und beta-Amanitin) sind bizyklische Oktapeptide, deren Wirkung vor allem in einer Blockierung der RNA-Synthese im Zellkern besteht. Dadurch können Proteine nicht mehr in ausreichendem Maße gebildet werden, was sich nach zwei bis fünf Tagen in einem Totalversagen der Leber manifestiert. Die fatale Wirkung der Amanitine beruht darauf, dass die Amanitine nach Zerstörung der betroffenen Leberzellen im enterohepatischen Kreislauf in die Blutbahn und über die Galle in den Darm gelangen, wo sie rückresorbiert werden und neue intakte Zellen angreifen.
Die Pilze enthalten als weitere Gifte Phalloidin und seine Abkömmlinge. Die Phallotoxine sind bizyklische Heptapeptide, die Membranen und die Aktinfilamente des Zytoskeletts auflösen. Da sie aber nur in sehr geringen Mengen durch den Magen-Darm-Trakt aufgenommen werden, haben sie normalerweise kaum eine toxische Wirkung. Die Strukturaufklärung der Knollenblätterpilzgifte erfolgte durch Theo Wieland und Heinz Faulstich in den 1970er Jahren am Heidelberger Max-Planck-Institut für Medizinische Forschung. Auch was wir über die Wirkmechanismen wissen, geht zum großen Teil auf Faulstich zurück, der seine Arbeiten am Max-Planck-Institut in Ladenburg, auch in Kooperation mit dem Deutschen Krebsforschungszentrum, bis heute fortsetzt.
Großansicht:
Amatoxine und Phallotoxine
© H. Hallen, Michigan State University, USA
Etwa 90 Prozent aller tödlich verlaufenden Pilzvergiftungen in Deutschland gehen auf Amanita phalloides zurück. Häufig sind es Immigranten aus Osteuropa und Russlanddeutsche, die mit Knollenblätterpilzvergiftung in die Kliniken eingeliefert werden. Das lässt sich einerseits mit der dort viel stärkeren Tradition des Pilzsammelns erklären. Andererseits werden im Osten auch Pilze gesammelt, die der gewöhnliche westdeutsche Pilzsammler nicht anrührt, wie Grüner Ritterling oder Frauentäubling. Zumindest in der Hutfarbe haben sie Ähnlichkeit mit dem Grünen Knollenblätterpilz.
Ethnomykologie
Der Amerikaner Gordon Wasson (1898-1986) hat die Menschheit in „mykophile“ und „mykophobe“ Kulturen eingeteilt. Mittel- und Osteuropa, Russland, der Balkan, aber auch Katalonien und der Südwesten Frankreichs gehören zusammen mit China und Korea zu den mykophilen Kulturen. In Westdeutschland dürften sich Pilzfreunde und -feinde in etwa die Waage halten. Die Angelsachsen und der größte Teil der mediterranen Völker sind eindeutig mykophob. Von Ausnahmen abgesehen haben die Menschen dort Angst vor Pilzen, und in den Gemüsetheken findet man kaum einen Pilz, abgesehen von dem längst domestizierten Champignon.
Titelblatt von "Life" 1957
© Wikipedia
Wasson war als erfolgreicher Banker im Vorstand des Bankhauses J. P. Morgan an der Wall Street, seine russischstämmige Frau Valentina weckte in ihm das Interesse an Pilzen. Gemeinsam gingen sie nach Mexiko, um die halluzinogenen Pilze und magischen Rituale der Mazateca-Indianer um den Pilz Psilocybe zu studieren. Mit ihrem Erfahrungsbericht, den das Magazin „Life" 1957 veröffentlichte, wurden sie zu Wegbereitern der psychedelischen Bewegung in den 1960er Jahren. Nach ihrer Ansicht waren auch der Apfel, den Eva im Paradies Adam anbot, und das in den indischen Veden genannte Soma halluzinogene Pilze. Sie vermuteten, dass es sich um Fliegenpilze (Amanita muscaria) handelte, von denen man weiß, dass sie in getrocknetem Zustand bis nach Nordostsibirien gehandelt wurden. Dort halfen sie den Tschuktschen und Ewenken an der Eismeerküste, die dunklen, bitterkalten Polarwinter im Rauschzustand zu überstehen.
Ihre zahlreichen, zeitweise sehr populären Publikationen machten die Wassons zu Begründern der neuen Wissenschaft der Ethnomykologie. An der Aversion der Durchschnittsamerikaner gegen Pilze konnten sie aber nichts ändern; vermutlich haben sie deren Mykophobie nur verstärkt.