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Prägung der Europäer durch Emigration aus Afrika

Eine neue Studie von Lohmueller et al. 2008 zeigt, dass europäische Populationen im Verhältnis mehr schädliche genetische Variationen aufweisen als afrikanische Populationen. Dies ermöglicht Rückschlüsse auf die Gruppe, die vor vielen Jahrtausenden aus Afrika emigrierte.

Nach wie vor ist nicht eindeutig geklärt, wann und wo die heutigen Menschen, von Paläontologen auch als anatomisch moderne Menschen bezeichnet, entstanden sind.
Die gängige Theorie stellt das „Out-of-Africa“-Modell dar. Nach diesem Modell lebten die ersten anatomisch modernen Menschen im Süden und Osten Afrikas. Von dort breiteten sie sich in einem zehntausende Jahre währenden Prozess über den Kontinent aus, bis sie schließlich vor rund 30.000 Jahren Europa erreichten. Dort angekommen lösten sie den bis dahin ansässigen Homo neanderthaliensis (den Neandertaler) ab. Auch in der restlichen Welt vollzog sich dieser Vorgang der Wanderung und des Ablösens bisheriger Vertreter der Gattung Homo, bis alle Kontinente von dieser Gruppe besiedelt waren. Das bedeutet, dass die Menschheit eine evolutionsgeschichtlich sehr junge gemeinsame Wurzel besitzt und erklärt, weshalb die genetischen Unterschiede der Menschen untereinander recht gering sind. Sowohl genetische Daten in Form von Vergleichen mitochondrialer DNA als auch Fossilfunde sprechen für die „Out-of-Africa“-Theorie.

Single nucleotide polymorphisms als Forschungsgrundlage

Wie eine neue Studie in der Fachzeitschrift Nature berichtet, hinterließ genau diese Gruppe von Auswanderern aus Afrika Spuren in den Genen der heutigen Europäer. Die Forscher um Lohmueller untersuchten in ihrer Studie einen Datensatz mit mehr als 10.000 Gensequenzen von 20 US-Amerikanern europäischer Abstammung und 15 Afroamerikanern. Bei ihrer Forschung konzentrierten sich die Wissenschaftler auf die Verteilung so genannter single nucleotide polymorphisms (kurz SNPs) – das heißt auf Variationen der Gensequenz in einer einzelnen Base eines DNA-Stranges, die mit mindestens einem Prozent in der jeweiligen Population vertreten sind – in den beiden oben erwähnten Bevölkerungsgruppen. Die Voraussetzung für einen sinnvollen Vergleich ist, dass sich bestimmte Bevölkerungsgruppen genetische Merkmale teilen, wenngleich jeder Mensch eine individuelle genetische Ausstattung besitzt. So wird man manche SNPs bei beiden Gruppen finden, andere wiederum nur bei einer.
Dr. Steffen Schmidt, Projektleiter in der Abteilung Biochemie am Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie in Tübingen (Foto: MPG)
Aufgrund der Redundanz des genetischen Codes – also dadurch, dass mehrere Basentripletts für eine Aminosäure codieren können – kann der Austausch einer Base während der Genexpression zur gleichen Aminosäure führen (synonymer Austausch), es kann aber auch eine andere Aminosäure angefügt werden, nachfolgend als nichtsynonymer Austausch bezeichnet.

Dank der Hilfe von Steffen Schmidt, Projektleiter am Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie in Tübingen, ließ sich die Wirkung, die ein solcher nichtsynonymer SNP mit sich bringt, vorhersagen. Dafür entwickelte Schmidt einen Computer-Algorithmus zur Klassifizierung von Aminosäurenaustauschen weiter. Nach folgenden Kriterien fand die Einteilung statt: ein neutraler Austausch, der die Funktion des entstehenden Proteins wahrscheinlich nicht beeinflusst, und solche Austausche, die die Funktion des Proteins geringfügig beziehungsweise stark beeinflussen. Oft sind die Folgen für ein solches Protein von Nachteil; Enzyme beispielsweise werden nicht mehr voll funktionstüchtig sein. Bei synonymen SNPs ging man vereinfachend davon aus, dass diese keinen Effekt haben.

Schädliche single nucleotide polymorphisms

Die verwendeten Daten ergaben, dass die genetische Variation in der europäischen Bevölkerung insgesamt niedriger ist als bei der afrikanischen Bevölkerung, das Verhältnis von nichtsynonymen SNPs allerdings höher. Mit Hilfe des von Steffen Schmidt weiterentwickelten PolyPhen-Algorithmus ließ sich als Ursache für das erhöhte Vorkommen nichtsynonymer SNPs die Redundanz von schädlichen SNPs ausmachen.

Unter diesen potenziell schädlichen Variationen gibt es große Unterschiede bezüglich eines Erkrankungsrisikos. So ist es unklar, welche Effekte dies auf die Gesundheit der Europäer hat.

Simulationen geben Auskunft über die vor rund 30.000 Jahren aus Afrika emigrierte Population

In kleinen Populationen können sich geringfügig schädliche SNPs anhäufen, die beinahe keinen Einfluss auf den Träger haben. Bei größeren Populationen hingegen werden diese SNPs effizient eliminiert. Die Forscher nahmen deshalb an, dass der verhältnismäßige Überschuss an nichtsynonymen SNPs in der europäischen Bevölkerung mit einer unterschiedlichen Wirksamkeit der auslöschenden Selektion zusammenhängt. Diese solle aus einer verschiedenartigen demografischen Geschichte der beiden Bevölkerungen resultieren.

Man versuchte also, die Beobachtungen mittels diverser demografischer Migrationsmodelle zu simulieren. Alle Modelle, bei denen die Populationen einem so genannten Flaschenhalseffekt unterliefen, wiesen verstärkt nichtsynonyme SNPs auf, verglichen mit Modellen für konstante oder auch expandierende Populationen. Ein genetischer Flaschenhals bezeichnet eine Population, die nur aus wenigen Individuen besteht, und bedeutet damit auch einen Verlust genetischer Variation. Die Variationen, die einen geringfügig negativen Effekt haben, sind den Simulationen zufolge das Ergebnis der darauf folgenden Expansion der europäischen Bevölkerung. Da dieses Wachstum in evolutionshistorischem Kontext erst vor kurzer Zeit geschah, reichte die Zeit bisher nicht aus, um diesen Überschuss an nichtsynonymen SNPs durch auslöschende Selektion zu beseitigen. So erklärt sich außerdem, weshalb die Afrikaner eine höhere Variation aufweisen. Denn als sich die emigrierende Gruppe von der größeren Population abspaltete, wanderte nur ein Teil des Genpools mit.

Ungeachtet dessen, dass das Ergebnis der Studie vor allem evolutionstheoretische Relevanz hat, ist die Technik zur Klassifizierung von Aminosäuren-Austauschen auch in medizinischer Hinsicht von großer Bedeutung. SNPs sind die häufigsten Mutationen beim Menschen. Hier kann der PolyPhen-Algorithmus helfen, die mit einer Krankheit verbundenen Veränderungen aufzuspüren.

Zur Person:

Steffen Schmidt promovierte 2003 im Bereich Bioinformatik an der Universität Heidelberg. Seit 2006 ist er Projektleiter in der Abteilung Biochemie am Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie in Tübingen. Dort beschäftigt er sich insbesondere mit der Evolution und Variabilität von Proteinen sowie ihrer Funktion.

Literaturhinweis: Kirk E. Lohmueller, Amit R. Indap, Steffen Schmidt, Adam R. Boyko, Ryan D. Hernandez, Melissa J. Hubisz, John J. Sninsky, Thomas J. White, Shamil R. Sunyaev, Rasmus Nielsen, Andrew G. Clark & Carlos D. Bustamante: Proportionally more deleterious genetic variation in European than in African populations. Nature Vol 451, 21. Februar 2008.

Seiten-Adresse: https://www.gesundheitsindustrie-bw.de/fachbeitrag/aktuell/praegung-der-europaeer-durch-emigration-aus-afrika