Protein-Ablagerungen im Gehirn begünstigen Amyotrophe Lateralsklerose (ALS)
Die eigene körperliche Degeneration zu erleben, bei völlig intaktem Intellekt, so könnte man die Erkrankung beschreiben, die sich Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) nennt. Der Physiker Stephen Hawking ist das wohl bekannteste Beispiel eines Betroffenen, wobei er, was die Lebenserwartung angeht, eine große Ausnahme zu sein scheint. Es ist eine der aggressivsten Krankheiten, die es im Nervensystem gibt. Die Motoneurone, die die Muskeln innervieren, werden fortschreitend und irreversibel geschädigt und sterben ab. Heilbar ist ALS derzeit nicht, denn über ihre Ursachen weiß man bislang nur sehr wenig. Mithilfe der Grundlagenforschung nähert man sich jedoch Schritt für Schritt der Erkenntnis, wie diese Krankheit entsteht. Dr. Günter Fritz und seine Kollegen von der Neuropathologie des Universitätsklinikums Freiburg haben herausgefunden, dass es die Eigenschaften bestimmter Proteine sind, die ALS beschleunigen.
Vor allem im Anfangsstadium ist das Krankheitsbild sehr variabel. Es kann sich überall im Körper zuerst zeigen. Durch zunehmend eingeschränkte Innervation der Muskulatur wird diese abgebaut. Es kommt zu Muskelschwäche und Spastiken, die Funktionseinbußen nach sich ziehen. Ausfallserscheinungen in Arm- und Beinmuskeln sowie der Rumpfmuskulatur sind die Folge und die Menschen können sich nicht mehr bewegen. Die Hemmung der Atemmuskulatur oder eine Lungenentzündung führt letztendlich zum Tod, drei bis fünf Jahre nach Ausbruch der Krankheit. Über die Häufigkeit sind sich die Experten nicht einig. Manche bezeichnen die Amyotrophe Lateralsklerose als eine seltene Erkrankung mit weniger als vier von 100.000 Fällen, andere gehen davon aus, dass sie mit 6.000 bis 8.000 Erkrankten allein in Deutschland viel häufiger ist als bisher angenommen. In jedem Fall aber sind Männer stärker betroffen als Frauen, meist im Alter zwischen 50 und 70 Jahren. Auffällig ist, dass viele Erkrankungen des Nervensystems wie Demenz und ALS ausschließlich beim Menschen auftreten. Große Ratlosigkeit herrscht noch immer bei der Suche nach der Ursache. Sind es genetische Faktoren, Umwelteinflüsse, extrem hohe körperliche Aktivität oder Traumata, die zu dem Nervenleiden führen?
Krankheit und Tod durch Faltungsunfall der Proteine
In den Genen mögen zwar die Baupläne festgelegt sein, doch muss die Umsetzung, das Protein in seine dreidimensionale spezielle Struktur zusammenzubauen, korrekt ablaufen, damit es in seiner richtigen „nativen“ Form seine jeweilige Funktion ausüben kann. In letzter Zeit haben Forscher einige Kandidaten ausfindig gemacht, deren fehlerhafte Varianten stark im Verdacht stehen, ALS auszulösen, indem sie sich innerhalb der Zelle ansammeln. Darunter ist das Protein Ubiquitin sowie die Superoxiddismutase SOD1, die essenziell bei der Entgiftung reaktiver Sauerstoffe ist, die gerade in Nervenzellen mit hohem Umsatz durch Zellatmung anfallen.
„Fehlfaltungen von Proteinen spielen eine größere Rolle in vielen degenerativen Erkrankungen als bisher angenommen“, weiß Dr. Günter Fritz von der Neuropathologie am Universitätsklinikum Freiburg. Dass es überhaupt zu falsch gefalteten Eiweißen kommt, erklärt er als einen normalen Prozess, der immer wieder vorkommt. Die Zelle hat einen wirksamen Mechanismus, derartige Proteine zu entsorgen. Nutzlose Eiweiße werden markiert und zum Müllschlucker der Zelle, dem Proteasom dirigiert, wo sie vernichtet werden. Neigen Proteine aufgrund genetischer oder anderer Faktoren dazu, verstärkt fehlgebildet zu werden, kommt die Zelle nicht mehr mit der Entsorgung hinterher und immer mehr Müllproteine sammeln sich im Zellplasma an. Diese Proteine beginnen dann unter bestimmten Umständen, sich aneinanderzulagern, sie aggregieren.
S100A6 beschleunigt Aggregation von SOD1
Kleine S100A6-Aggregate finden sich zu größeren Fibrillen zusammen
© Dr. Günter Fritz Universitätsklinik Freiburg
Bereits vor einiger Zeit erkannte man, dass die Superoxiddismutase in mutierter fehlgefalteter Form in Nervenzellen Aggregate, sogenannte Fibrillen bildet. Was genau diese Fibrillen begünstigt, war jedoch nicht klar.
Fritz und sein Kollege Dr. Claudio Gomes vom Instituto de Tecnologia Química e Biológica (ITQB) in Portugal fanden nun heraus, dass noch ein anderes Molekül an der Bildung der Ablagerungen beteiligt ist. Es handelt sich dabei um das S100A6, ein Protein aus der S100-Familie. „Wir haben hier nicht nur einen Mitspieler, sondern zwei, drei oder noch mehr Proteine, die Verursacher sind“, so der Biochemiker und Biophysiker, „und deshalb gibt es eine verstärkte und schnellere Aggregationsbildung.“
Das kann man sich folgendermaßen vorstellen: Haben wir bereits eine kleine Ansammlung von falsch gefaltetem S100A6, das in nativer Form normalerweise für die Calcium-Signalweiterleitung in der Zelle verantwortlich ist, wirkt diese kleine Aggregation quasi als Kristallisationskeim für weitere Ablagerungen. Das Ergebnis ist eine Kettenreaktion, die immer schneller fortschreitet, je mehr Aggregate da sind oder je größer diese sind. Und dies gilt nicht nur für ein bestimmtes Protein, sondern auch für andere, wie SOD1, das sich verstärkt hier anlagert.
„In vitro konnten wir zeigen, dass bei einem bestimmten pH-Wert S100A6 diese Aggregate bildet und sogar die SOD1-Ablagerungen beschleunigt“, erläutert Günter Fritz, der zur Zeit Heisenberg-Stipendiat an der Universitätsklinik Freiburg ist.
Die Zelle schafft den Müllberg nicht mehr
Seit etwa 20 Jahren arbeitet Fritz an der Erforschung der S100-Proteine, von denen es im Menschen rund 24 verschiedene mit den unterschiedlichsten Funktionen gibt. Er wählt dafür den Weg der Bottom-up-Methode, bei der die Analyse des kleinen, untergeordneten Bausteins im System zugrunde gelegt wird, um das größere Abstrakte zu verstehen. Er und sein Team stellten eine Reihe von S100-Proteinen rekombinant im Labor her, um dann im Reagenzglas die Fibrillen entstehen zu lassen und gleich die nächste Frage zu stellen: „Könnten diese Aggregate für bestimmte Erkrankungen verantwortlich sein?“ Der Wissenschaftler gab die Fibrillen zu Neuroblastoma-Zellen, einer Tumor-Zelllinie, die normalerweise in Kultur ewig lebt, und konnte zeigen, dass sie auf die Nervenzellen toxisch wirkten, da diese vorzeitig abstarben. Erstaunt ist er darüber nicht.
„Die Zelle ist wie eine perfekt organisierte Fabrik. Import und Export müssen funktionieren, Stoffe werden umgewandelt“, meint der Experte, „jetzt gibt es einen Müllhaufen, der immer größer wird und irgendwo einen empfindlichen aber essenziellen Ablauf mechanisch oder biochemisch stört.“ Seiner Meinung nach steigt die Wahrscheinlichkeit, an einem solchen Aggregationsproblem zu leiden, mit dem Alter. „Es gibt verschiedene Müllmoleküle, die sich ansammeln, und wie bei der Alzheimer-Krankheit kommt der Organismus irgendwann mit der Entsorgung nicht mehr nach.“
In Zukunft hat Günter Fritz noch viel vor: Er forscht inzwischen auch intensiv an der Entstehung von Alzheimer und sucht in Kooperation mit einer schwedischen Firma nach Substanzen, die eine Aggregatbildung von Proteinen in Nervenzellen verhindern können. Vernetzung ist ihm dabei enorm wichtig. „Man kann die Fachgebiete in ihrer Breite heute nicht mehr alleine abdecken, man muss sich spezialisieren. Und dann ist es notwendig, dass diese guten Leute mit ihren guten Ideen sich untereinander austauschen und ein bisschen näher zusammenrücken. Dann bekommen wir viele neue Ergebnisse,“ sagt Fritz.