Retinitis pigmentosa: ein neuer Typ von Zelltod
Welchen Zelltod sterben die Photorezeptoren bei der Netzhaut-Erkrankung Retinitis pigmentosa und wie kann das mit pharmazeutischen Wirkstoffen verhindert oder verzögert werden? Diesen Fragen geht Dr. Paquet-Durand vom Tübinger Forschungsinstitut für Augenheilkunde nach.
Paquet-Durand ist Biochemiker und erforscht die Zelltod-Mechanismen bei der Augenkrankheit Retinitis pigmentosa.
© Paquet-Durand
Zelltod ist nicht gleich Zelltod – diese Erkenntnis steht gleich am Anfang eines Gespräches mit Dr. François Paquet-Durand. Seit vier Jahren erforscht der Biochemiker in Tübingen die Mechanismen des Zelltodes bei Retinitis pigmentosa. Bei dieser erblichen Augenkrankheit sterben von außen nach innen zunächst die für das Hell-Dunkel-Sehen verantwortlichen Stäbchen in der Netzhaut (Retina) ab. Obwohl die für das Farbsehen verantwortlichen Zapfen in der Regel keinen Gendefekt aufweisen, degenerieren in der Folge auch diese Zellen. Die Krankheit führt von anfänglicher Nachtblindheit allmählich bis zum völligen Erblinden. Um wirksame medikamentöse Therapien entwickeln zu können, müssen zunächst die Ursachen und die Mechanismen des Zelltodes der Photorezeptorzellen geklärt werden.
Weder Apoptose noch Nekrose
Die Ursachenforschung hat bei den Stäbchen bereits rund 45 Gene ausfindig gemacht, bei denen eine Mutation Retinitis pigmentosa auslösen kann. Die bisherigen Ergebnisse zum Zelltod lassen sich jedoch nicht eindeutig einem der bekannten Zelltod-Mechanismen zuordnen, wie Paquet-Durand erklärt: „Wir sehen verschiedene Prozesse, die zum Teil mit Apoptose, also dem programmierten Zelltod, und zum Teil mit Nekrose assoziiert werden können. Aber wir sehen auch Einzelprozesse, die mit beiden Mechanismen nichts zu tun haben.“ Obwohl die Beweise für Apoptose im Detail recht schwach sind, wurde der Stäbchen-Zelltod zunächst der Apoptose zugerechnet, eben weil einige Prozesse übereinstimmen.
Beim klassischen Apoptose-Mechanismus tritt Cytochrom C aus den Mitochondrien über ins Zytosol und initiiert dort die Bildung von Apoptosomen. Diese Proteinkomplexe treiben den Zelltod maßgeblich voran. Dabei spielen bestimmte proteolytische Enzyme, die Caspasen, eine zentrale Rolle: sie werden bei Apoptose verstärkt exprimiert und aktiviert. „In den Photorezeptorzellen ist dafür jedoch keine Evidenz zu finden. Wir finden kein ins Zytosol ausgeschleustes Cytochrom C und keine hochregulierten und aktivierten Caspasen“, sagt Paquet-Durand. Außerdem zeigen Apoptose-Inhibitoren keinen Effekt. Das alles sei zwar bereits seit zehn bis 15 Jahren bekannt, wurde jedoch bisher kaum beachtet, so der Forscher weiter.
„Wir wollen den Zelltod verstehen, um neue Wege zu finden, ihn zu verhindern.“
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Übersicht zu Zelltodmechanismen in Photorezeptoren (vorläufig): Durch einen Anstieg des cGMP-Spiegels kommt es zu übermäßigem Einstrom von Calcium (Ca2+) durch cGMP-gesteuerte Ionenkanäle, sowie zur Aktivierung von PKG, die wiederum nachgelagerte degenerative Prozesse auslöst. In der Summe führen diese Prozesse zum Zelltod von Photorezeptoren.
© Paquet-Durand
Wenn es keine Apoptose ist, was ist es dann? Fest steht, dass die metabolische Aktivität bestimmter Enzyme beim Zelltod der Stäbchen erhöht ist. So sind verstärkt Enzymaktivitäten zu finden, wie zum Beispiel die von proteolytischen Calpainen, die mit Nekrose assoziiert werden können. „Nekrose geht häufig mit Traumata oder Vergiftungen einher, es kommt zu akuten, teilweise chaotischen Abläufen, die Entzündungsprozesse auslösen. Gerade Letzteres sehen wir jedoch nicht. Es gibt keine schlüssigen Beweise für Nekrose“, so Paquet-Durand. Er vertritt die Hypothese, dass es sich bei der Degeneration der Photorezeptorzellen zwar um einen programmgesteuerten Zelltod-Mechanismus handelt, dieser sich jedoch deutlich von der klassischen Apoptose unterscheidet.
Ein besonderer Fokus der Tübinger Gruppe gilt Enzymen, die Histone beeinflussen, also die Proteine, die im Zellkern die DNA „verpacken“. „Wir konnten erstmals die Beteiligung von Histon-Deacetylasen und cGMP-abhängigen Proteinkinasen an der Degeneration zeigen“, fasst Paquet-Durand den bisher wichtigsten Meilenstein seiner Forschung zusammen. Diese Enzyme untersucht er nicht nur auf Expressionsebene, sondern insbesondere auch auf metabolischer Ebene. Hier vergleicht er die Enzymaktivität von einzelnen Photorezeptorzellen in Wildtyp-Retinae mit denen von krankhaft veränderten Retinae.
Im Prinzip hält er alle Proteine, die bei den Zelltod-Prozessen überreguliert werden, für potenzielle Angriffsziele einer medikamentösen Therapie. „Bei Inhibitoren der cGMP-abhängigen Proteinkinase PKG konnten wir bereits einen gewissen protektiven Effekt beobachten. Andere Inhibitoren wie Calpain-Blocker können jedoch unter bestimmten Umständen auch toxisch wirken. Unsere wesentlichste Frage ist, wie hängt das alles zusammen und wie ist der zeitliche Ablauf der Prozesse, welche sind schnell und welche eher langsam? Dadurch ergeben sich unterschiedliche Ansatzpunkte und therapeutische Zeitfenster“, bringt Paquet-Durand das ambitionierte Programm seiner Gruppe auf den Punkt.
Entwicklungsziel: Marker für die Zell-Degeneration
Querschnitt durch die Retina. Die rötliche Markierung zeigt cGMP, dessen Spiegel beim Zelltod der Stäbchen ansteigt.
© Paquet-Durand
Seine Untersuchungsobjekte sind vor allem Gewebeschnitte und Kulturen explantierter Retinae, die bis zu sechs Wochen im Labor gehalten werden können. „Das bietet den Vorteil, dass wir Veränderungen unter kontrollierten Bedingungen beobachten können“, ergänzt Paquet-Durand. Da es bisher kaum Marker für degenerierende Photorezeptor-Zellen gibt, ist es eine Herausforderung, diese Zellen eindeutig zu identifizieren. Das Team fahndet unter anderem nach charakteristischen morphologischen Veränderungen, zum Beispiel nach Anzeichen, dass der Zellkern dekondensiert. Daneben ist es eines der Ziele der Forschergruppe, genau solche Marker für die weitere Arbeit zu entwickeln.
Davon würde natürlich auch die Wirkstoffsuche profitieren, wobei Paquet-Durand keine übertriebenen Hoffnungen schüren möchte. Zu komplex sind die zu beeinflussenden Vorgänge: „Realistischerweise muss man sagen, dass, auch aufgrund der genetischen Heterogenität, eine vollständige Heilung von Retinitis pigmentosa in absehbarer Zeit wohl nicht zu erreichen sein wird. Ich rechne nicht damit, dass sich die Degeneration komplett verhindern lässt, halte es aber für möglich, dass der Krankheitsfortschritt verlangsamt werden kann.“
Ein stimmiges Gesamtkonzept: Wirkstoff-Therapie und Retina-Implantate
Damit wäre die medikamentöse Behandlung jedoch ein wichtiger Mosaikstein, um zusammen mit anderen therapeutischen Ansätzen das Sehvermögen bei Retinitis-pigmentosa-Patienten so weit wie möglich zu erhalten und eventuell sogar wiederherzustellen. Ein gänzlich verschiedener Ansatz ist das elektronische Retina-Implantat, das ebenfalls am Tübinger Forschungsinstitut für Augenheilkunde, in der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Eberhart Zrenner, mitentwickelt und bereits bei 18 Blinden eingesetzt wurde. Es ersetzt die verloren gegangenen Photorezeptoren durch technische Lichtsensoren. Ein solches Implantat kommt aber nur bei Patienten zum Einsatz, die bereits komplett erblindet sind, da in solchen Fällen pharmakologische Ansätze nicht mehr helfen können. „Unsere Ansätze sind sehr verschieden, würden sich jedoch ergänzen. Mit einer zehn- bis 20-jährigen Perspektive könnte ich mir vorstellen, dass wir mit einer pharmakologischen Therapie die Degeneration aufhalten so lange es geht und dann ein bis dahin entsprechend weiter entwickeltes Implantat einsetzen“, so Paquet-Durand.
Mittelfristig konzentriert er sich mit seinem Team darauf, das Netzwerk der Erkenntnisse zum spezifischen Zelltod der Photorezeptoren enger zu knüpfen und vor allem die Rolle epigenetischer Prozesse bei der Degeneration zu untersuchen. Dabei will er auch das Rätsel lösen, warum bei Retinitis pigmentosa die Zapfen degenerieren, obwohl die auslösende genetische Mutation in der Regel nur die Stäbchen betrifft. Diese sekundäre Zapfendegeneration ist zurzeit noch weitgehend unverstanden und wenig untersucht. „Möglicherweise liegt das an Veränderungen in der Sauerstoffversorgung, wir wollen das auf jeden Fall näher untersuchen. Im Tiermodell sehen wir jedenfalls bei Zapfen mit Mutationen, dass der Zelltod in ähnlicher Weise abläuft wie bei Stäbchen“, so Paquet-Durand.