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Rezension: Das Leben lesen

Ulrich Bahnsen nimmt in seinem Buch „Das Leben lesen: Was das Blut über unsere Zukunft verrät“ neue genetische Bluttests unter die Lupe. Von der vorgeburtlichen Diagnostik über Krebsfrüherkennung bis hin zum Altern zeigt der Autor Chancen und Risiken einer immer besseren Erbgutanalyse auf.

Cover des Buches „Das Leben lesen“. © Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG

Was wäre, wenn wir wüssten, ob unsere Kinder gesund oder krank zur Welt kommen würden? Wenn jeder Tumor, sobald er entsteht, sofort entdeckt und beseitigt würde? Wenn wir das Altern besiegen würden? Die Frage, schreibt Bahnsen, sei nicht mehr, ob, sondern wann und wie es geschehen wird, und was wir dann tun werden. Die Antworten auf diese Fragen suchen derzeit viele Forscher im Blut.

Blutuntersuchungen gehören schon lange zur ärztlichen Routine. Die Anzahl der Blutkörperchen, Blutzucker, Cholesterinwerte, Eisenspiegel, die Konzentration der Mineralien, Salze und Leberenzyme, Entzündungsparameter im Blut und vieles mehr verraten schon heute einiges über den Gesundheitszustand eines Menschen. Die Blutwerte geben dem Arzt etwa einen Hinweis, ob sein Patient eine Infektion oder Entzündung hat, wie gut Leber oder Niere arbeiten oder ob er an Diabetes oder Leukämie erkrankt ist.

Neu hinzugekommen sind in den letzten Jahren die erweiterten gentechnischen Möglichkeiten, das Blut zu durchforsten. Grundgedanke ist der, dass immer, wenn irgendwo im Körper eine Zelle stirbt, Bruchstücke ihres Erbguts in das Blut gelangen. Forscher nennen sie zellfreie DNA. Sie kann auch von Tumorzellen stammen, dann zirkulierende Tumor-DNA (engl. circulating tumor DNA, ctDNA) genannt, oder aber von einem Fötus im Blut einer Schwangeren. Bahnsen spricht von einer „medizinischen Revolution“.

Als Einleitung führt Bahnsen den Leser zunächst in die vielfältigen Aufgaben unseres „flüssigen Organs“, des Blutes, ein. Es folgt ein historischer Rückblick auf die gewaltigen Fortschritte bei der Entschlüsselung unserer Erbanlagen, die in dem komplett entzifferten menschlichen Erbgut gipfelten. Dieser Erkenntnissprung und moderne Sequenziergeräte der nächsten Generation ermöglichen es heute, selbst minimale Mengen zellfreier DNA im Blut auszulesen.

Gefahrlose Analyse des ungeborenen Lebens

Ulrich Bahnsen hat in Neurogenetik promoviert und ist Redakteur im Ressort Wissen der ZEIT. © Michael Heck

Ihren Anfang nahmen die neuen molekulargenetischen Bluttests in der vorgeburtlichen diagnostischen Untersuchung. Vorreiter in Deutschland war 2012 das Konstanzer Unternehmen LifeCodexx AG mit dem PraenaTest®. Damit ließ sich mittels der Next-Generation-Sequencing-Technologie bereits früh in der Schwangerschaft im mütterlichen Blut eine Chromosomenstörung des ungeborenen Kindes wie die Trisomie 21 nachweisen. Hierzulande löste der Test damals unter Abtreibungsgegner und Behindertenverbänden einen Sturm der Entrüstung aus.

Detailliert und kenntnisreich schildert Bahnsen, der selbst promovierter Biologe ist, die Nachteile der bisher in den Körper eingreifenden Fruchtwasseruntersuchung und Chorionzottenbiopsie. Sie sind mit dem Risiko für Fehlgeburten und Infektionen behaftet. Er beantwortet die Frage, was einen zuverlässigen Diagnostik-Test ausmacht. Und er stellt sich kritisch der ethischen Debatte um die zunehmend perfektionierte Pränataldiagnostik, die Gegnern zufolge in eine Gesellschaft ohne Behinderte führen wird.

Mittlerweile erforschen Wissenschaftler die neuen Bluttests auch in der Krebsfrüherkennung, für die es bisher nur wenige, zum Teil umstrittene oder unbeliebte Verfahren gibt – etwa Mammografie oder Darmspiegelung. Die Dekodierung zirkulierender Tumor-DNA im Blut oder deren Untersuchung auf epigenetische Veränderungen, die also nicht auf einer Erbgut-Modifikation beruhen, gehören zur sogenannten „Flüssig-Biopsie“ (engl. Liquid Biopsy). Sie liefert, anders als die klassische Untersuchung einer einzelnen Tumorgewebeprobe, stets eine aktuelle Momentaufnahme des kompletten Krebsgeschehens im Körper, inklusive aller Tumorherde.

Horvaths Uhr weiß, wie alt Du bist

Interessant ist auch der Ansatz des Biomathematikers Steve Horvath von der University of California in Los Angeles, in weißen Blutzellen oder anderen Gewebezellen das Altern des Menschen zu messen. Dazu nutzt er einen der Mechanismen der Epigenetik, das Methylierungsmuster der DNA. Es regelt, welche Gene in einer Zelle abgelesen werden, und ändert sich im Laufe des Lebens. Weil die Methylierung reversibel ist, lassen sich möglicherweise die biologische Lebensuhr anhalten und folglich der körperliche und geistige Abbau im Alter sowie Alterskrankheiten stoppen. Der Schlüssel dafür könnte ebenfalls im Blut zu finden sein. Erstaunlicherweise ergaben Experimente des Alzheimerforschers Tony Wyss-Coray mit aneinandergenähten jungen und alten Mäusen, dass das Blut der jungen Mäuse eine verjüngende Wirkung auf die alten Mäuse hatte.

Trotz seiner Euphorie für die neuen technischen Möglichkeiten „im Blut zu lesen“ versteht es Bahnsen immer wieder, den Leser auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen, indem er noch offene Fragen anspricht und beispielsweise davor warnt, Tierexperimente ohne Weiteres auf den Menschen zu übertragen. Dennoch hätten dem Buch etwas weniger reißerische Aussagen an der einen oder anderen Stelle gutgetan. Dass die Stoffe im Blut „buchstäblich alles über uns, über unsere Kinder, sogar über unser zukünftiges Leben“ verraten, kann wohl als etwas übertrieben abgetan werden. Wie intelligent unsere Kinder werden oder ob wir später an Parkinson oder Demenz erkranken werden, wird wohl auch zukünftig nicht aus dem Blut ablesbar sein. Dafür spielen zu viele Faktoren, auch aus der Umwelt, eine Rolle.

Sieht man mal von wenigen inhaltlichen Fehlern ab, beispielsweise wenn Bahnsen die Genregulation durch Transkriptionsfaktoren zur Epigenetik zählt oder Natürliche Killerzellen im Blut als Untergruppe der T-Lymphozyten bezeichnet, ist das Buch ein spannendes Wissenschaftsbuch für alle, die wissen wollen, was Forscher heute schon aus dem Blut herauslesen können.

Seiten-Adresse: https://www.gesundheitsindustrie-bw.de/fachbeitrag/aktuell/rezension-das-leben-lesen