Cover des Buchs „Epigenetik. Implikationen für die Lebens- und Geisteswissenschaften“
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Die Epigenetik hat sich in den letzten zehn Jahren zu einem Forschungsgebiet entwickelt, das von grundlegender Bedeutung für viele Bereiche der Biologie, der Medizin und der Biotechnologie ist und dessen Ergebnisse auch für die Geistes- und Sozialwissenschaften, für Ethik, Recht und Philosophie relevant sind. Zahlreiche Artikel in den Printmedien, in Fernsehsendungen und populärwissenschaftliche Bücher belegen, dass die Epigenetik auch über die Fachwelt hinaus in der Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit erlangt hat. Im Zentrum des Interesses stehen dabei die als „Rehabilitation von Lamarck“ proklamierte Vererbbarkeit von Umwelteinflüssen, die „Befreiung des Menschen von der Diktatur der Gene“, indem Ernährung und Lebensumstände unsere Gene (und womöglich auch die unserer Kinder und Enkel) prägen, und epigenetische Anpassungen, die den Gesundheitszustand, die Entstehung und den Verlauf umweltbedingter und chronischer Erkrankungen des Menschen und die Prozesse unseres Alterns bestimmen und verändern.
Was ist die Epigenetik, was kann sie und was ist von ihr zu erwarten?
Ein neuer, von Jörn Walter und Anja Hümpel herausgegebener Forschungsbericht setzt sich mit diesen Fragen auseinander, untersucht die epigenetischen Zusammenhänge bei Mensch, Tier und Pflanze und beschreibt die Auswirkungen auf andere Bereiche der Lebens- und Geisteswissenschaften. In der von der Interdisziplinären Arbeitsgruppe „Gentechnologiebericht“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Auftrag gegebenen Publikation kommen in zehn Kapiteln namhafte deutsche Expertinnen und Experten verschiedener Disziplinen (Genetik und Molekularbiologie, Klinische Medizin und Pharmazeutische Forschung, Soziologie, Ethik, Philosophie und Psychologie) zu Wort und geben ihre Einschätzung wieder. Streng wissenschaftlich, aber auch für interessierte Laien gut verständlich, werden in den Beiträgen die Forschungsergebnisse und die von der Epigenetik angestoßenen Entwicklungen und Potenziale diskutiert und kritisch gewürdigt.
Nach einer Definition von Jörn Walter, einem der führenden Epigenetik-Forscher Deutschlands, beruhen epigenetische Prozesse auf Modifikationen des Erbguts, die – ohne die Kerninformation des Erbguts zu verändern – zusätzlich gesetzt und wieder entfernt werden können. Es handelt sich nicht um eine neue Vererbungslehre, sondern um eine Vertiefung und Erweiterung unseres Verständnisses, wie Vererbung funktioniert. Die durch epigenetische Mechanismen wie DNA-Methylierungen, Histon-Modifikationen und RNA-Interferenz gesetzten Aktivierungen und Inaktivierungen von Genen können durch Umweltfaktoren moduliert werden und sind die entscheidende Ebene für die Erbe-Umwelt-Interaktion. Sie werden über mitotische Zellteilungen hinweg auf die Tochterzellen übertragen und sind für die stabile Entwicklung vielzelliger Strukturen wie Gewebe und Organe notwendig. Walter und Hümpel setzen sich auch ausführlich mit der heute viel diskutierten „transgenerationalen“ Vererbung erworbener Eigenschaften – über die Keimbahn und die Keimzellen hinweg – auseinander. Sie kommen zu dem Schluss, dass entsprechende, auf Korrelationen beruhende Hinweise beim Menschen eine epigenetische Vererbung über mehrere Generationen zwar nahelegen, aber bislang nicht beweisen können.
Zweifelsfrei spielt transgenerationale epigenetische Vererbung bei Pflanzen eine bedeutende Rolle. Michael Wassenegger vom AlPlanta-Institut für Pflanzenforschung in Neustadt an der Weinstraße fasst in seinem Übersichtsartikel den aktuellen Wissensstand über die vielfältigen epigenetischen Prozesse zusammen, mit denen die Genaktivitäten von Pflanzen durch Stress und Umwelteinflüsse moduliert werden. Die komplexen Zusammenhänge werden durch Abbildungen, Tabellen und Erläuterungen verständlich dargestellt. Als Zukunftsperspektive beschreibt Wassenegger, wie epigenetische Mechanismen gezielt in der Pflanzenzüchtung eingesetzt werden könnten, beispielsweise die von ihm bereits 1994 erstmals beschriebene, bisher nur in Pflanzen eindeutig nachgewiesene RNA-dirigierte De-novo-DNA-Methylierung.
Die besondere Stärke des vorliegenden Bandes liegt in seiner Interdisziplinarität. Die Autoren diskutieren die Ergebnisse der epigenetischen Forschung nicht nur unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten, sondern auch in ihren sozialen, ethischen und ökonomischen Auswirkungen. Lilian Marx-Stölting von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften hat die angesprochenen Problemfelder in ihrer Komplexität und Vernetzung dargestellt.
Im Zentrum des Diskurses steht die Krankheitsrelevanz der Epigenetik. Die neuen Einsichten in biologische Entwicklungsprozesse führen auch zu neuen Ansätzen für die Diagnose und Therapie von Krankheiten, wie die pharmazeutischen Chemiker Stefan Knapp und Susanne Müller am Beispiel chemischer Sonden für Histon-modifizierende Proteine und für humane Bromodomäne-Proteine aufzeigen, die frei und uneingeschränkt für die Forschung und Pharmazeutische Industrie zur Verfügung stehen. Vor dem Hintergrund, dass prägende Veränderungen in der Aktivierbarkeit von Genen in den Gehirnzellen bei psychischen Erkrankungen – von Depressionen und Autismus bis hin zur Schizophrenie – wahrscheinlich eine wichtige Rolle spielen, setzt sich die Psychologin Vanessa Lux in ihrem Beitrag besonders mit den neuen Perspektiven in der Traumaforschung auseinander. Danach bietet die Epigenetik nicht nur einen konzeptionellen Rahmen, in dem psychisches Erleben in physiologische Strukturen übersetzt werden kann, sondern gibt auch eine Erklärung dafür, wie sich die Folgen frühkindlicher Traumatisierungen viel später beispielsweise in Stressreaktionen und im Erinnerungsvermögen sowie in der Manifestation psychischer Erkrankungen auswirken.
Der Bioethiker Christoph Rehmann-Sutter trägt mit seiner Analyse, wie weit die Ergebnisse der Epigenetik mit allgemein akzeptierten Konzepten von Entwicklung und Vererbung in Einklang zu bringen sind, wesentlich zur Begriffsklärung bei. Er betont die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit von Genetik und Geisteswissenschaften. Die mit epigenetischen Phänomenen verbundenen ethischen, rechtlichen und soziologischen Fragen sollten einem kritischen wissenschaftlichen Diskurs unterzogen werden, empfiehlt die Interdisziplinären Arbeitsgruppe „Gentechnologiebericht“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Die Fragen, was sollen und was dürfen wir tun, stellen sich mit der zunehmenden Integration der Epigenetik in die verschiedenen Problemfelder der Gesellschaft immer wieder neu. Die in den letzten Jahren stark gestiegene Wahrnehmung und Beschäftigung mit der Epigenetik in Öffentlichkeit, Wissenschaft und Forschungsförderung werden in dem Forschungsbericht ebenfalls analysiert und die Daten nach Indikatoren übersichtlich präsentiert, wie man sie in keiner anderen Publikation finden dürfte.
Allen, die verstehen wollen, wie das epigenetische Regelwerk auf die Gene einwirkt und zur individuellen Entwicklung und Gesundheit beiträgt, wie Umwelt und Erfahrungen unser genetisches Schicksal mitgestalten, sei die gründliche Lektüre von „Epigenetik – Implikationen für die Lebens- und Geisteswissenschaften“ empfohlen. Ebenso allen, die sich mit den von der Epigenetik beeinflussten sozialen, ethischen und wissenschaftstheoretischen Problemen befassen. Über die naturwissenschaftlichen Aspekte hinaus vermittelt der schmale, aber inhaltsreiche Band Studierenden wie Fachleuten wichtige Einsichten in die Auswirkungen und Potenziale der epigenetischen Forschung in anderen Bereichen der Gesellschaft.