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Silke Brüderlein hat einen "grünen Daumen" für Zellkulturen

Viele Forscher in den Biowissenschaften arbeiten mit Zellkulturen, aber vertraut mit ihnen scheinen längst nicht alle zu sein. Die Ulmer Biologin Silke Brüderlein vom Institut für Pathologie ist Zellkulturspezialistin und kennt dieses Problem nur zu gut.

Auf dem Ulmer Campus ist sie diejenige, die für Forscherkollegen Zelllinien aus Gewebeproben seltener Tumoren etabliert. Jüngst hat die Zellenzüchterin für eine Zelllinie einen mit 10.000 Dollar dotierten Forschungspreis von der in den USA ansässigen Chordoma Foundation erhalten.

Der Chordom-Tumor ist ein seltener (0,5:1.000.000 Prävalenz) und schwer zu behandelnder Knochentumor in Schädel und Wirbelsäule. Er macht 0,2 Prozent aller Tumoren des Zentralnervensystems und zwei bis vier Prozent aller primären Neoplasmen des Knochens aus. Nach Diagnose beträgt die mittlere Überlebenszeit sieben Jahre.

Dogma der Erfolgsberichterstattung

Eine Zelllinie zu etablieren ist offenkundig keine Kleinigkeit. Kreuzkontamination und falsche Identifizierung sind keine Seltenheit bei Zelllinien in der molekularen Krebsforschung. Nur spricht und schreibt man ungern darüber und wenn es passiert, gibt es peinliche Negativ-Schlagzeilen, zumal die Wissenschaft vom Dogma der Erfolgsberichterstattung geknebelt wird. Nicht weniger als ein Drittel der Tumorzelllinien, so vermuten Spezialisten, stammen aus anderem Gewebe oder gar einer anderen Spezies als angegeben.

Immer wieder passiert es, dass sich prominent publizierte Ergebnisse nicht wiederholen lassen, weil die Zelllinien kontaminiert sind oder mit Reagenzien unsachgemäß hantiert wurde. Aktuelles, wahlloses Beispiel: Arbeiten, die eine Verbindung zwischen einem Maus-Virus und der chronischen Erschöpfung (Science, 326, 585) herstellten, mussten jetzt widerrufen werden.

Mit den richtigen Zelllinien sollte man schon arbeiten

Der Inkubator, wohltemperierte Schatzkammer der Zellkulturspezialistin Silke Brüderlein © Pytlik

Krebsforscher untersuchen an immortalisierten Tumorzelllinien die Biologie des Tumors und gewinnen daraus beispielsweise wichtige präklinische Erkenntnisse zu möglichen therapeutischen Angriffspunkten. Deshalb sollte man mit den richtigen Zelllinien arbeiten. Das klingt selbstverständlich, ist es aber nicht. Silke Brüderlein kann ein garstig'  Lied davon singen. 

Sie untersuchte mit Kollegen aus den USA die fünf weltweit verfügbaren Chordom-Zelllinien. Das Ergebnis ihrer molekularen, genetischen und morphologischen Charakterisierung fiel ernüchternd aus: Drei Chordom-Zelllinien waren schlicht keine, einer fehlten die Chordom-typischen Biomarker, obwohl sie wohl von Chordom-Zellen stammten, und eine vorgebliche Zelllinie stammte von der Maus und nicht von menschlichem Gewebe. Lediglich ihre eigenen, selbst etablierten Zelllinien eigneten sich als Arbeitinstrument für die biomedizinische Forschergemeinde.

„Man muss Zellen ansehen, wenn man eingreifen muss“

Frisches Chordom-Gewebe nach drei Stunden Einwirkung von Kollagenase © Brüderlein / Uni Ulm

Was macht die Arbeit an Zellkulturen, was deren Etablierung so schwierig und heikel? Der Spezialistin Brüderlein fallen Antworten darauf nicht leicht, denn die offenbar weit verbreitete Unkenntnis im Umgang mit Zellen ist für sie schwer nachvollziehbar. „Der Trick ist einfach: Man muss den Zellen ansehen, wenn man eingreifen muss. Dazu muss man wissen, wie Zellen aussehen, wenn es ihnen gut geht."

Oft, so Brüderlein, misslinge bereits die Unterscheidung von normaler Zelle und Tumorzelle. Da verwundert es sie auch nicht, wenn Zellen über das Wochenende sich „überfressen", weil sie zu viel Medium in ihre Schalen bekommen haben und deshalb ihr Wachstum einstellen, weil sie keine Wachstumsfaktoren mehr produzieren können im zu stark verdünnten Medium.

Irrtümer mit eingebauter Todesgarantie

Chordomgewebe nach 24 Stunden © Brüderlein / Uni Ulm

Die Zellkulturspezialistin muss nicht lange überlegen, wenn sie nach typischen Fehlern beim Anlegen einer Zellkultur gefragt wird. So halte sich in Europa immer noch die irrige Meinung, fetales Kälberserum (FKS) für das Nährmedium müsse bei 56 Grad Celsius inaktiviert werden. Damit aber nimmt man das schnelle Dahinscheiden von Zellen in Kauf, selbst von so robusten und schnellwachsenden wie Liposarkom-Zellen. Denn mit der Erhitzung gehen viele Wachstumsfaktoren der Zellen zugrunde. Ursprünglich habe man Serum von erwachsenen Rindern verwendet, dessen Immunsystem (Komplementsystem) ausgeschaltet werden musste, das den Feten aber fehle.

Eine im Wortsinne wirkliche Todsünde begeht, wer dem Nährmedium kein Glutamin oder zu wenig davon (Tumorzellen brauchen bis zu vier Mal mehr als gesunde/normale Zellen) zugibt. Spätestens 24 Stunden später wird damit das Todesurteil an Tumorzellen vollstreckt. Meiden sollte jemand, der neue Zelllinien entwickelt, in jedem Fall auf dem Markt angebotenes stabilisiertes Glutamin. Das weise zwar eine längere Halbwertszeit auf, nur leider vertrügen es die meisten Zellen nicht, sagt Brüderlein kopfschüttelnd. 

Den idealeln Cocktail muss man ausprobieren

Brüderleins Chordom-Zellen gediehen in keinem besonderen Nährstoffcocktail. Einen solchen zu entwickeln koste zu viel Zeit, wenn ein „frischer Tumor geliefert“ wird. Die Ulmer Forscherin hat ‚ihr’ Medium vor vielen Jahren – damals noch in Heidelberg am DKFZ - an Kolonkarzinom- und an Neuroblastom-Zellen ausgetestet. Mittlerweile steht ihre Mischung aus Iscove/RPMI 4:1 mit FCS und Penicillin, Streptomycin und Glutamin.

Chordomzellen mit ihren typischen Vakuolen © Brüderlein / Uni Ulm

Die Etablierung ihrer ersten (damals die weltweit einzige) Chordom-Zelllinie 2003 geschah zufällig, weil eine junge angehende Ärztin ein nahezu unbekanntes Forschungsfeld suchte und Silke Brüderlein diese etablierte. Von dem seltenen Knochentumor Chordom wusste man damals fast nichts.  

Ihre zweite Zelllinie - eine dritte wird gerade entwickelt - ist für das finanziell nicht üppig ausgestattete Ulmer Institut eine willkommene Unterstützung. Für die Chordom-Forscher eröffnen sich mit dem zellulären Modell neue Möglichkeiten zur Klärung der weitgehend unbekannten Pathogenese. Die US-Stiftung hat die erste Zelllinie inzwischen an mehr als 30 Labore, die zweite an zwölf Labore verteilt.  

Die üblichen Tumoren sind für Brüderlein nicht interessant, auch weil man diese von Zellbanken wie der American Type Culture Collection (ATCC), der Deutschen Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen (DSMZ) oder der European Collection of Cell Cultures (ECACC) erhält. Ihr Biomaterial erhält sie von den Ulmer Kliniken und auch von außerhalb und seit neuestem aus Stanmore, England. 

Erfahrung, Geduld und viele gelingende Einzelschritte

Unlängst hat Brüderlein auf einer Konferenz in den USA einen Vortrag über die Entwicklung der Chordom-Zellkultur gehalten, der die Rezeptur und das genaue Vorgehen bei der Entwicklung einer solchen vorstellte. Es hört sich einfach an, doch in der Summe braucht es reichlich Erfahrung, Geduld und viele gelingende Einzelschritte, ehe eine Zelllinie etabliert ist.

Schon aller Anfang kann schwer sein. Denn das biopsierte Gewebematerial verhält sich immer unterschiedlich. Im Fall der zweiten Chordom-Linie schnitt Brüderlein das Gewebe mit einer sterilen Schere in die sterile Petrischale, füllte die Gewebeteile in ein Röhrchen mit Collagen R-Lösung ab und stellte das Fläschchen in den Brutschrank, wo sich die Tumorzellen von dem Gewebeklumpen ablösen sollen.

Zelllinie ist meist eine Selektion auf die fitteste Zelle

Der Umgang mit dem biopsierten Gewebematerial ist manchmal „eine Kunst für sich“. Brüderlein hat schon aus 100 Zellen eine Zelllinie entwickelt. Grundsätzlich will der Zellzüchter möglichst viele Zellen, dann findet er diejenige, die sich am besten an das Plastikmaterial anpasst. „Eine Zelllinie ist meistens eine Selektion auf die fitteste, das heißt die bösartigste bei Tumorzellen.“

Ist das durch Biopsie gewonnene Gewebe weich, dauert es wenige Stunden, bis die Probe zerfällt und die Zellen durch das Enzym Kollagenase abgetrennt sind. Hartes Gewebe muss dagegen über Nacht (schonend, ohne mechanischen Druck) enzymatisch behandelt werden. Bei Chordom-Zellen verwendete Brüderlein übrigens nicht das sonst für die Ablösung adhärenter Zellen übliche Trypsin, denn das tötet diesen Zelltyp.

Nach mehrmaliger „Waschung“, bei der die trübe Kulturbrühe von allerlei totem Zellmaterial befreit wird, bleibt im Optimalfall die lebendige (Tumor-)Zellmasse, das sogenannte Pellet übrig, das erneut in eine neue Kulturflasche gegeben und als Primärkultur bezeichnet wird, mit der die Etablierung einer Zelllinie begonnen werden kann.

„Sie wissen nie, welche der Flaschen die beste ist“

Eine Subkultur der Chordomzellen nach drei Tagen © Brüderlein / Uni Ulm

Je nach Tumorgröße verfügt man über eine Reihe von Fläschchen. Danach sollte man am Tag danach praktischerweise die Überstände sammeln, zentrifugieren und daraus wieder eine Flasche ansetzen, schildert Brüderlein das weitere Vorgehen, das feinsäuberlich im  Labortagebuch dokumentiert ist. Das scheinbar umständliche Prozedere sei sinnvoll, weil sich in den Überständen zwar totes Zellmaterial befinden kann, aber eben auch Tumorzellen, die sich noch nicht im Gefäß angesetzt haben, weil sie zwischen Normalzellen sitzen. „Sie wissen nie, welche Flasche nach vier Wochen die beste ist."  

Deshalb verfährt Brüderlein von Anfang an möglichst unterschiedlich, kippt nie irgendetwas weg. Damit, erklärt sie, erhöhe sich die Chance, die erwünschten Zellen in möglichst reiner Form zu erhalten, um mit dieser Probe die Primärkultur zu etablieren. Durch ständige Subkultivierung soll das Verhältnis Tumorzellen zum Rest verändert und den Tumorzellen ein Vorteil verschafft werden. „Gewonnen hat man bei Chordom-Zellen, wenn sich im Kulturgefäß nach der dritten oder vierten Passage nur noch Tumorzellen befinden." Wann die Zellen ein neues Medium benötigen? Brüderleins Antwort: „Man muss es schlicht irgendwie lernen, muss dafür ein Gefühl entwickeln." 

Wann können aus der Primärkultur Subkulturen entwickelt werden? Chordom-Zellen sind „eigentlich völlig problemlose Tumorzellen, weil sie fast immer anwachsen, sagt Brüderlein. Allerdings wachsen sie - wie auch im menschlichen Organismus - sehr langsam, brauchen mehr als fünf Tage für eine Teilung. Mitunter kann es ein Vierteljahr bis zur ersten Subkultur dauern, meistens dauere es zwei Monate bis zur zweiten und einen weiteren Monat bis zur dritten. Mit anderen Worten: Für ihre zweite Chordom-Zelllinie benötigte Brüderlein ein gutes Jahr. Im Fall von Kolonkarzinom-Zellen wird die Geduld des Zellzüchters weit mehr gefordert. Nimmt man diese Zellen in Kultur, sterben tagtäglich 70 Prozent von ihnen ab, sagt Brüderlein.

Sieg nach den ersten Passagen

Zellen müssen sich an das fremde Medium anpassen. „Wenn Sie die ersten Passagen hinter sich haben, haben Sie fast gewonnen bei Tumorzellen, vor allem bei den Chordomen,“ erläutert Brüderlein. Dann, so mutmaßt sie, hat die Zelle die notwendigen epigenetischen Veränderungen (Methylierung, Acetylierung, Histoncode) durchlaufen, so dass sie danach schneller wachsen kann.

Nach den ersten Subkulturen wird eine sicherheitshalber in flüssigem Stickstoff eingefroren. Damit soll auch eine Infektion ausgeschlossen werden. Ihre Kollegen in Stanmore am Royal National Orthopeadic Hospital, die sich mit Brüderlein die Arbeit teilen, fahren fort mit der Etablierung, danach wird die Zelllinie charakterisiert und an die Chordome-Foundation geschickt.

Gefärbte Chordomzellen © Brüderlein / Uni Ulm

Eine Zelllinie ist charakterisiert, wenn sie sich über mehrere Passagen phänotypisch nicht verändert, das heißt beispielsweise, dass die Zellen nicht größer werden dürfen oder keine Anzeichen von Alterung aufweisen. Auf chromosomaler Ebene bedeutet das, dass die Tumorzellen mehr als 46 Chromosomen besitzen müssen, im Fall von Chordom-Zellen durchschnittlich 56 Chromosomen mit zahlreichen Translokationen; auch die vergleichende genomische Hybridisierung (zur Untersuchung des chromosomalen Ungleichgewichts) muss mehr oder weniger konstant sein: In den meisten, nicht aber in allen Fällen müssen diese Zellen das Brachyury-Gen exprimieren, das deshalb als Biomarker gilt. 

Im prall gefüllten Brutschrank zieht Brüderlein gerade ihre dritte Chordom-Zelllinie heran. Zelltypen wie ihre U-CDS Zelllinien, fusselartige dendritische Zellen, die unter dem Mikroskop die Form einer Spinne haben, können sie regelrecht begeistern. Und man beginnt zu verstehen, was die Biologin meinte, als sie sagte, sie habe einen grünen Daumen. Lachend schiebt sie nach „Pflanzen wachsen bei mir auch. Bei mir wächst alles. Was bei mir nicht wächst, wächst nirgends."

Zur Zellkultur ist die Biologin eher zufällig gestoßen. Als studentische Hilfskraft, die Geld verdienen wollte, landete sie in der Humangenetik der Erlanger Uniklinik, blieb dort hängen. Mit der Zeit lernte sie dazu, lautet die lakonisch untertreibende Erklärung. Irgendwann, so darf man vermuten, wurde daraus eine Passion, von der jetzt forschende Onkologen profitieren.

Literatur/Quellen:

Silke Brüderlein, Joshua B. Sommer,Michael Kelley et al.: Molecular Characterization of Putative Chordoma Cell Lines, Hindawi Publishing Corporation, Sarcoma,Volume 2010, Article ID 630129, 14 pages, doi:10.1155/2010/630129.

https://www.gesundheitsindustrie-bw.dewww.chordomafoundation.org

https://www.gesundheitsindustrie-bw.dewww.orpha.net

Liste falscher Leukämie- und Lymphom-Zelllinien:
https://www.gesundheitsindustrie-bw.dewww.dsmz.de/human_and_animal_cell_lines/main.php?contentleft_id=97

Seiten-Adresse: https://www.gesundheitsindustrie-bw.de/fachbeitrag/aktuell/silke-bruederlein-hat-einen-gruenen-daumen-fuer-zellkulturen